Schritte an der Grenze. Gabriella Baumann-von Arx
zwei Tage zuvor aufgebrochen war. Die Stunden, bis der Heli endlich landete und Evelyne, völlig erschöpft und durchfroren, ausstieg, möchte ich nie mehr erleben müssen. Wir nahmen sie in die Arme. Das heißt, nicht nur meine Frau nahm Evelyne in den Arm, auch ich. Ich drückte sie ganz fest. Damals hat sie wohl auch gemerkt, dass ich meine Gefühle für sie bis anhin gut versteckt hatte. Seither weiß sie, wie gern ich sie habe.
2Die Tibeter nennen den Mount Everest nicht Mount Everest, sondern Chomolungma. Übersetzt heißt das »Göttinmutter der Erde«. Es gibt jedoch auch die Übersetzung »Muttergöttin der Erde«, die mir persönlich besser gefällt. Wer auf ihrem Haupt stehen will, braucht Zeit. Viel, viel Zeit. Eine gute Akklimatisation dauert vier bis sechs Wochen und beginnt für uns schon in Lhasa, der tibetischen Hauptstadt, auch »die verbotene Stadt« genannt. Wir erreichen sie – nach einem Zwischenhalt in Kathmandu, der Hauptstadt Nepals – am 2. April 2001. Meine Akklimatisation kann beginnen.
Lhasa heißt übersetzt »der Ort der Götter«. Es ist ein heiliger Platz, der auf 3600 Metern über dem Meer liegt. Höher, auf 3700 Metern, liegt nur noch La Paz in Bolivien. Die dünne sauerstoffarme und vor allem trockene Luft löst bei mir einen starken Husten aus. Ich ignoriere ihn, so gut es geht, schließlich will ich nicht das Bett hüten, sondern auf den Markt gehen, mit Menschen sprechen und das Symbol der tibetischen Eigenständigkeit besuchen: den »Potala«. Ein unglaublich beeindruckendes Bauwerk, das, seit Brad Pitt als Heinrich Harrer im Film »Seven Years in Tibet« auf seinen Stufen stand, neue Popularität erlangt hat. Der Palast liegt auf dem »Roten Hügel« und ist in seiner vollkommenen Schönheit schwer zu beschreiben. 130 000 Quadratmeter groß, 117 Meter hoch, gebaut aus Stein und Holz, mit über tausend Räumen, unzähligen Fresken und Statuen, erhebt er sich hoch über die Stadt. Der Potala gilt als die offizielle Residenz des religiösen und weltlichen Oberhauptes der Tibeter, des Dalai-Lama. Der vierzehnte Dalai-Lama lebt infolge der chinesischen Besetzung jedoch nicht im Potala in Lhasa, sondern im Exil im nordindischen Dharamsala.
Im Morgenlicht erstrahlt der Palast in seiner ganzen märchenhaften Mystik, die nicht in Worte zu fassen ist. Ich schöpfe hier neue Kräfte – die Heilung meines Hustens allerdings hole ich mir aus dem Medikamentenschrank. Es ist wichtig, ihn loszuwerden, bevor die Luft noch trockener wird. Das Antibiotikum macht mich müde, aber es hilft. Ich fühle mich sehr viel besser, als wir uns mit dem Jeep in Richtung Basislager aufmachen. Als wir das Dorf Tingri passieren, sehe ich sie zum ersten Mal, die Muttergöttin der Erde. Ich schaue sie lange an, frage mich, ob sie mich wohl mögen oder abweisen wird – ich spüre Zuversicht.
Am 9. April 2001 erreichen wir nach einer äußerst unangenehmen Fahrt über Geröll und Eis Rongbuk, das höchstgelegene Kloster der Welt. Nun trennen uns noch fünfzehn Minuten Jeepfahrt vom Basislager, das auf 5200 Metern liegt.
Endlich! Es ist ein schönes Gefühl, im Basislager anzukommen und nicht mehr fahren zu müssen. Ich stelle mein Zelt auf und richte mich so gut wie möglich häuslich ein.
Es ist kalt hier oben. Der Wind bläst unablässig, die Gegend ist äußerst karg, eine Steinwüste. Kein Blümchen, kein Grün, nur Grau. Und immer kalte Füße. Ich frage mich, was ich hier tue. Und doch würde ich um kein Geld der Welt von hier wegwollen.
Für Russells Team wurden sieben Tonnen Material ins Basislager geschleppt. Mannschaftszelt, Küchenzelt, Nahrungsmittel für zehn Wochen, Satellitentelefon, Sauerstoff, Computer. Wir sind nicht die Einzigen im Basislager. Ich bin erstaunt, wie viele Expeditionen hier sind. Wir treffen auf Gruppen aus Indien, Venezuela, Russland, Frankreich, Kolumbien, Asien, Schottland und Spanien; auf einen bunt gemischten Haufen also. Wir erfahren, dass eine amerikanische Expedition, unter der Leitung von Dave Hahn, bereits in Richtung Lager II unterwegs ist. Dave Hahn und seine Leute sind wieder auf der Suche nach Spuren der 1924 am Mount Everest verschollenen Engländer George Mallory und Andrew Irvine.
Wir bleiben, wo wir sind, auf 5200 Metern. Unsere Körper brauchen Zeit für die komplexen Vorgänge der Akklimatisation. Unter vielem anderem geht es dabei auch darum, die Zahl der roten Blutkörperchen zu erhöhen, die den Sauerstoff von den Lungen in alle Körperteile transportieren.
Die Rechnung ist einfach: Je mehr rote Blutkörperchen das Blut enthält, desto mehr Sauerstoff kann im Körper gebunden werden. Ein gesunder erwachsener Körper verfügt über rund 25 000 Milliarden rote Blutkörperchen. In einer Höhe von 4500 Metern erhöht sich dieser Wert um circa zehn Prozent. Es ist erstaunlich, welche Fähigkeiten der menschliche Organismus besitzt, um sich an veränderte Bedingungen anzupassen.
Ich fühle mich abhängig. Die Sherpas schleppen für uns das Material, mein Körper sorgt dafür, dass ich zu mehr Sauerstoff komme, nur ich – ich kann nicht mehr tun als abwarten. Und ab und zu mit den andern in unserem Mannschaftszelt sitzen, einen Whisky trinken, schwatzen, zuhören. Erfahren, wer schon wie viele Male am Mount Everest war und wer schon wie oft gescheitert ist. Immerhin würde ich in zwei Tagen damit beginnen können, auf die umliegenden Sechstausender zu steigen, um mich an die dünne Luft zu gewöhnen.
Trotzdem ist die Akklimatisation eine Verbannung ins Nichtstun. Es ist schwer auszuhalten und erinnert mich an meine Schulzeit, als ich vor lauter Energie, die ich nicht zu kanalisieren wusste, immer überbordete. Keine Rauferei auf dem Pausenplatz, bei der nicht mindestens mein freches Mundwerk mit im Spiel gewesen wäre. Und im Schulzimmer interessierte mich das, was hinter oder neben mir geschah, viel mehr als das, was vorne, an der Wandtafel, erzählt wurde. Ich war unruhig. Eine Stunde still zu sitzen, war ein Ding der Unmöglichkeit. Ich war nervig, und höchstwahrscheinlich war ich hyperaktiv. Dass all dies nicht nur für Lehrer und Eltern schwierig, sondern dass meine überschäumende Energie auch für mich selbst ein Problem war, das realisierte ich erst viel später.
Mein Körper allerdings reagierte schon früh. Auf einer unserer unzähligen sonntäglichen Familienwanderungen startete er durch. Mutter, Vater und Schwester gingen den Berg hinauf – ich jedoch, ich rannte. Das kam ganz plötzlich, ohne äußeren Anlass, aus einem inneren Antrieb heraus. Ich rannte und rannte, wurde nicht müde, rannte weiter. Und als ich oben war, fühlte ich mich ausgepumpt und vollkommen glücklich. Von da an rannte ich, wenn die andern wanderten. War ich oben angekommen, wartete ich.
Als ich ungefähr dreizehn war, wurde ich von Remo Zberg, dem Leiter des Turnvereins Hergiswil, gefragt, ob ich nicht in seinem Verein mitmachen wolle. Ich wollte. Und wie. Remo war der Leichtathletik sehr zugetan, war ein guter Läufer und verwandelte den Hergiswiler Turnverein bald schon in einen regional erfolgreichen Leichtathletik-Club.
Ich entschied mich für die Mittelstrecke, lief 800 Meter, und zwar so, dass ich im Ziel jeweils glaubte, sterben zu müssen. Das Rennen selbst war nicht sehr anstrengend, aber der Zieleinlauf überstieg das Erträgliche. Ich war jeweils einer Ohnmacht nahe, alles schmerzte, meine Muskeln waren total übersäuert, ich meinte, erbrechen zu müssen.
Nach mir traten noch zwei Mädchen in den Club ein, die Jungs akzeptierten uns. Ich fühlte mich aufgehoben, fand Kollegen, mit denen ich nicht nur in der Freizeit viel unternahm, sondern mit denen ich mich auch messen konnte. Nicht in sinnlosen Raufereien, sondern auf der Tartanbahn.
Remo Zberg war ein guter Trainer, voller Enthusiasmus und mit einer unglaublichen Fähigkeit, uns die Freude am Laufen zu vermitteln.
Um Schnelligkeit zu üben, rannten wir bergab. Auf einer Asphaltstraße. 200 Meter. Unten angekommen, joggten wir wieder hinauf. Das machten wir zwanzig Mal hintereinander. Immer mit dem einen Ziel, dass der letzte der zwanzig Läufe nicht langsamer war als der erste. Drill. Aber einer, der mir entsprach. Ich war das absolute Trainingstier. Endlich konnte ich meine Energie kanalisieren. Vier Jahre lang gab ich mein Bestes, nein, ich gab alles. Mehr noch, ich gab zu viel. Kriegte eine Knochenhautentzündung samt Achillessehnenentzündung und stieg am Morgen aus dem Bett wie eine sehr, sehr alte Frau, dabei war ich gerade mal achtzehn Jahre jung. Ich hatte Wasser in den Beinen, die Füße schmerzten, es vergingen Minuten, bis ich, ohne zu hinken, gehen konnte. Aber aufhören, das wollte ich auf keinen Fall. Unmöglich. Denn ohne Laufen war sie wieder da, die Unruhe.
Ich hatte damals einen Kollegen, der ruderte. Und zwar so gut, dass er an der Olympiade teilnehmen durfte. Neben dem Training arbeitete