Schritte an der Grenze. Gabriella Baumann-von Arx
Das zweite Mal stand er in schönstem Wetter und ohne die geringste Windfahne da. War ruhig, rauchte nicht. Klar umrissen hob er sich, granitgrau, vom königsblauen Himmel ab, wirkte ganz nah und gleichzeitig unerreichbar fern. Er bot ein Bild, in das ich mich unsterblich verliebte. Leider musste ich erfahren, dass diese Liebe einseitig ist. Beide Male hat mich Fitz Roy abgewiesen.
Das erste Mal ließ er mich sehr nahe kommen und verlangte mir dabei alles ab. Ich erkannte bald, El Chaltén zeigte mir meine Schwäche: die rohe Maximalkraft. Mich in den gefrorenen Rissen festhalten, mich hochziehen, mich zum nächsten Griff retten, das waren keine anmutigen Bewegungen, sondern schreiende Kraftakte. Der Rucksack zog mich mit seinem Gewicht brutal nach unten, und mit den viel zu großen Kletterschuhen konnte ich meine Fußtechnik nur sehr begrenzt einsetzen. Ich fühlte mich wie eine Bärin, der man für den Kampf die Krallen gestutzt hat, damit sie diesen auch sicher verliert.
Ich kletterte mit Stephan Siegrist. Derselbe Stephan, mit dem ich in der »Eiger Nordwand Live«-Sendung des Schweizer Fernsehens im Jahr 1999 eine Seilschaft gebildet habe. Aber davon hatten wir damals – 1996 in Patagonien – natürlich noch keinen blassen Schimmer.
Fitz Roy brachte mich an den Rand der Erschöpfung. Zunächst kamen Stephan und ich gut voran, sogar der Wind verschonte uns. Doch als wir uns – nach dreizehn Stunden Schinderei auf der geschützten Leeseite – der Gratkante näherten, peitschte er uns mit einer Wucht ins Gesicht, die mir den Atem raubte.
Der Sturm überschlug sich tobend und brachte Töne hervor, die mich an explodierendes Dynamit erinnerten. Noch nie in meinem Leben habe ich einen solch teuflisch aggressiven, einen solch zerstörerischen Wind erlebt.
Stephan schaffte es an den nächsten Stand. Damit ich ihm nachklettern konnte, musste er das Seil einziehen. Doch der Sturm hatte es in eine unkontrollierbare, nicht zu zähmende Schlange verwandelt. Stephan wusste nichts von dem Kampf, den ich mit dem Seil ausfocht, damit er es hochziehen konnte. Schließlich war es überhaupt nicht mehr möglich, es einzuziehen. Der Grund dafür war ebenso einfach wie ärgerlich. Der Wind hatte das Seil, weit unter mir, in einen Riss geklemmt. Ich schrie zu Stephan hoch, ich würde abseilen, um es zu lösen. Er verstand jedoch kein Wort. Als ich zu der Stelle kam, ließ sich das Seil nicht vom Fels lösen. Sosehr ich auch riss, es bewegte sich keinen einzigen Millimeter. Dann, plötzlich, schleuderte mir der Wind das Seil entgegen, und bevor ich das realisieren konnte, peitschte er es in den nächsten Riss, wo es sich erneut verklemmte. Der Sturm, in dem wir uns befanden, war erbarmungslos. Ich schrie. Doch meine Schreie gingen in dem gewaltigen Getöse unter, wurden vom Sturm einfach verschluckt. Ich fluchte, ich betete. Fluchen und Beten liegen in so einem Moment, in dem man die letzte Kraft aus seinen Muskeln zu pressen versucht wie den letzten Tropfen Saft aus einer ausgetrockneten Zitrone, sehr nah beieinander. So nah wie Erfolg und Misserfolg.
Als die Erschöpfung so groß war, dass ich weder fluchen noch beten konnte, bettelte ich: »Lieber Gott, bitte, bitte, bitte, lass mich dieses verdammte Seil frei bekommen.« Ich wusste, würde es mir nicht gelingen, wir wären verloren. Unter mir gähnte die Leere.
Und plötzlich pendelte mein Körper – vom Wind getragen – quer über die senkrechte Felsplatte. Als ich mit meinem Rücken gegen eine Verschneidung schrammte, schrie ich vor Schmerz auf, aber ich hielt das Seil endlich in der Hand.
Nun konnte ich wieder hochsteigen – wofür ich unendlich viel Kraft brauchte und auch Mut. Denn Stephan, der nicht sah, was ich tat, zog das Seil nicht ein. Ich hätte mich, unter normalen Umständen, mit einer Hilfsschnur – einer Reepschnur – selbst sichern können, doch in diesem Sturm war das ein Ding der Unmöglichkeit. Wäre ich gestürzt, hätte es Meter gebraucht, bis er mich aufgefangen hätte. Als er endlich sehen konnte, dass ich zu ihm hochstieg, zog er das Seil ein. Bei ihm angekommen, schaute ich nach oben. Der Gipfel lockte greifbar nah. Bloß zwei schwierige Seillängen und ein leichter Grat trennten uns noch von ihm. Wir berieten, was wir machen sollten, verstanden inzwischen aber nicht mal mehr das eigene Wort. Der Wind war noch stärker geworden. Und plötzlich wurde mir bewusst: Es war die Natur, auf die wir hören mussten. Sie redete eine deutliche Sprache. Wir waren hier nicht willkommen. Ob wir das akzeptierten oder nicht, ob wir abbrachen oder weiterkletterten, ob wir uns vom Berg in die Knie zwingen ließen oder unseren Kopf durchsetzen und dabei unser Leben aufs Spiel setzen wollten – diese Entscheidung lag allein bei uns.
Wir entschieden uns für den Rückzug, bereiteten alles für den Abstieg vor und warfen das Seil über die Wand hinaus, um uns daran abzuseilen. Das heißt, wir versuchten, es hinauszuwerfen – doch der Wind war stärker. Er packte das Seil und peitschte es in alle Richtungen, nur nicht nach unten. Seilziehen mit dem Sturm – wir waren chancenlos. Der Wind tobte noch stärker, zugleich wurde das Wetter schlechter, es war eine Frage der Zeit, bis es schneien würde. Damit wir trotz dieser widrigen Umstände heil nach unten kamen, brauchten wir, das war mir klar, mehr als bloßes Können und Verstand. Wir brauchten Glück. Und wir bekamen es. Nach ein paar Stunden saßen wir erschöpft und enttäuscht beim Passo Superior in unserer Schneehöhle, die wir im Voraus gegraben hatten.
Zwei Jahre später, 1998, stand ich wieder am Fitz Roy. Wieder mit Stephan. Er schaffte den Gipfel. Ich scheiterte erneut. Und dies bereits auf den ersten paar Metern. Geschwächt von einem chirurgischen Eingriff, wollte mein Körper nicht, was mein Herz so sehr begehrte. Die Enttäuschung war riesig.
Erzähle ich vom Fitz Roy, bekomme ich schlagartig feuchte Hände. Noch immer hoffe ich, eines Tages sein Haupt zu berühren. Dabei geht es mir nicht so sehr darum, über ihn zu triumphieren, als vielmehr darum zu spüren, dass er mich akzeptiert.
Sollte ich nochmals zum Fitz Roy aufbrechen, werde ich abermals meine ganze Kraft für ihn einsetzen. Es könnte aber auch sein, dass es mir genügt, in seiner Nähe zu sein, ihn bloß anzuschauen, seine Mystik zu spüren, mich mit den Gauchos auf Spanisch zu unterhalten, stundenlang durch die Pampa zu reiten und das Leben in der Wildnis zu genießen. Ich habe inzwischen gelernt, dass mich nicht nur Erfolge, sondern auch Misserfolge reifen lassen. Letztere lehren mich, meine Schwächen zu erkennen und mit diesen umzugehen.
Man kann den Fitz Roy und den Mount Everest nicht miteinander vergleichen, es sind zwei verschiedene Berge, und sie stellen unterschiedliche Anforderungen an ihre Besteiger. Und doch erwähne ich die beiden hier in einem Satz, denn im Gegensatz zum Mount Everest wird der Gipfel des Fitz Roy für mich wahrscheinlich unerreichbar bleiben.
Zurück zum Mount Everest – ich bin abgeschweift. Die Geschichte, die ich Andy in seinem Zelt erzähle, um ihm zu sagen, dass ich verstehe, wovon er spricht, ist nicht die meines Scheiterns am Fitz Roy, sondern diejenige, die dem Scheitern unmittelbar vorausging.
Meine Idee, nach Patagonien zu reisen, war eine sehr spontane. Stephan, wir waren damals ein Paar, war dort, um die Gipfel des Cerro Torre und des Fitz Roy zu besteigen. Es war aber nicht so sehr meine Sehnsucht nach Stephan als wohl vielmehr die Tatsache, dass ich – nach einer Knieoperation, die mich sieben Monate lang lahm gelegt hatte – endlich wieder zurückwollte in die raue Natur. Der Drang nach Freiheit veranlasste mich, Stephan einen Brief zu schreiben. Ich schrieb, ich käme ihn besuchen und würde ihn auf den Fitz Roy begleiten.
Stephan hatte mir, bevor er abgereist war, die Adresse des einzigen Dorfladens in Chaltén gegeben und mir gesagt, die Briefe für die Touristen würden dort an eine Pinnwand geheftet. Ich hoffte, Stephan würde meinen Brief dort sehen, wenn er Süßkartoffeln oder Milchpulver einkaufen ging. Wenn nicht, würde ich in Patagonien reiten und fotografieren.
Als ich in Chaltén ankam, suchte ich den Laden auf, ging zur Pinnwand und fand tatsächlich eine Notiz von Stephan vor. Er schrieb, er habe den Cerro Torre erfolgreich bestiegen und bringe nun seinen Kletterfreund zum Flughafen. Er sei in ungefähr einer Woche wieder zurück, freue sich auf mich und den Fitz Roy, und ich solle es mir bis dahin in seinem Zelt gemütlich machen.
Damit ich »sein Haus« auch finden würde, hatte er mir einen Lageplan hinterlegt.
Kaum hatte ich meinen Rucksack vor dem Zelt deponiert, kam ein wild gestikulierender Mann auf mich zu gerannt, der mich, als er vor mir stand, böse anblickte und auf Spanisch auf mich einzureden begann. Ich jedoch verstand damals noch kein Spanisch, und Englisch wiederum verstand er nicht. Schließlich