WASTELAND - Schuld und Sühne. Russell Blake

WASTELAND - Schuld und Sühne - Russell Blake


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versuchen, sie zum nächsten Handelsposten zu transportieren, wo es qualifiziertere Hände gab. Lucas war mit dem Anblick von Blut vertraut und hatte seit dem Kollaps schon ein paar Wunden versorgt, aber noch keine, die so ernst war. Obwohl er ein Army-Handbuch zur Notversorgung durchgeackert hatte, war er hier überfordert.

      Der Blutverlust war vermutlich riskanter als die Möglichkeit, dass die Kugel wanderte und so mehr Schaden anrichtete. Dem Blutfluss nach waren keine größeren Blutgefäße verletzt, aber ganz sicher war er nicht. Er suchte nach auffälligen arteriellen Blutungen, doch als er nur schwächere Einblutungen sah, holte er eine Phiole Morphin aus dem Notfallset, das er nach dem Kollaps aus einem Krankenhaus hatte mitgehen lassen. Er hatte die Droge bisher nie einsetzen müssen und hoffte um der Frau willen, dass die karamelfarbene Flüssigkeit noch ihren Kick hatte, obwohl sie schon lange abgelaufen war. Lucas goss Alkohol über ihre Armbeuge und spritzte ihr Dreiviertel der kleinen Ampulle in die Vene. Danach tauchte er die Nadel in Alkohol, wobei er den Verschluss als Behälter nutzte. Nach dreißig Sekunden Desinfektion nahm er die Nadel heraus und verstaute sie wieder im Notfallset.

      Die Atmung der Frau wurde ruhiger und regelmäßiger. Lucas nahm seinen Hut ab und legte ein Ohr auf ihren Brustkorb, um lauschen zu können, ob ihre Lunge sich mit Flüssigkeit füllte, aber viel hörte er nicht. Ihre Atemwege schienen frei, aber das war im Augenblick reines Wunschdenken. Selbst wenn sie gerade in ihrem eigenen Blut ertrank, konnte er doch nicht mehr tun als zu beten und ihr den Rest Morphium zu spritzen.

      Lucas lehnte sich zurück und griff nach dem Alkohol, widerstand aber dem Wunsch, einen Schluck zu nehmen, um seine Nerven zu beruhigen. Er goss ihn stattdessen über ihre Beinwunde und wusch dabei das getrocknete Blut weg. Sie rührte sich kaum. Bevor er sich um die Schusswunde in der Brust kümmerte, nahm er aus einer versiegelten Packung Wundverbände und platzierte zwei davon auf ihrem Oberschenkel, die er mit einem Verband fixierte, nachdem er das Ganze großzügig mit Braunol betupft hatte.

      Besser als nichts, dachte er und kümmerte sich um die Wunde in ihrer Brust. Hier reagierte sie auf den Alkohol mit einem Zucken und schmerzvollem Stöhnen, doch die Augen der Frau öffneten sich nicht. Wieder desinfizierte er die Stelle und träufelte etwas Alkohol direkt in die Wundöffnung, nur um sicherzugehen. Danach improvisierte er einen Druckverband, um die Blutung zu stillen.

      Als er fünf Minuten später seine Sachen zusammenpackte, war es längst dunkel geworden und er hatte es plötzlich eilig, die helle Taschenlampe abzuschalten, bevor der Lichtkegel unliebsame Gesellschaft herbeilockte. Er lief zu Tango zurück und packte das Set wieder in die Satteltaschen. Endlich schaltete er die Lampe aus und steckte sie in die Tasche. Lucas wartete neben seinem Pferd, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Über den entfernten Hügeln schossen Blitze aus dichten Wolkenmassen, gefolgt von einem gelegentlichen Donnergrollen. Er zählte vom nächsten Aufblitzen bis zum Donnerschlag und errechnete, dass der Sturm noch mindestens fünfzehn Meilen entfernt war.

      Schuldbewusst blickte er in der Dunkelheit zu den Toten hinüber. Hätte er mehr Zeit gehabt und wenn er sich nicht um die verwundete Frau hätte kümmern müssen, dann hätte er die Leichen vermutlich mit Steinen bedeckt oder mit seinem Klappspaten in einer flachen Grube beerdigt. Aber mit einem Gewitter im Anmarsch und angesichts des schlechten Zustands der Frau waren ein paar Worte des Gebets alles, was er für die Gefallenen tun konnte.

      »Möge Gott deiner Seele gnädig sein«, schloss er und wunderte sich über den Wankelmut des Universums: All diese Männer, ob sie nun Raider oder Reisende gewesen waren, hatten die schlimmste Katastrophe der Menschheit seit biblischen Zeiten überlebt, nur um hier, in einem namenlosen, trockenen Flussbett zu sterben. Er nahm an, dass es schon immer so gewesen war, doch in solchen Momenten der Sinnlosigkeit wurde sein Glaube auf eine harte Probe gestellt.

      Der Wind winselte wie ein alter Hund und holte ihn aus seiner Trance. Er führte Tango zu dem Ort hinüber, an dem die Frau in einem drogeninduzierten Schlummer lag. Er hatte darüber nachgedacht, ihr Wasser aus seiner Trinkflasche einzuflößen, entschied sich jedoch dagegen. Es konnte die Dinge verschlimmern und sie sogar ersticken.

      Stattdessen ging er zu dem toten Packpferd mit der Trage zurück und löste die beiden langen Stangen von seinem Rücken. Glücklicherweise war keine davon zerbrochen, als das arme Tier zu Boden gegangen war. Die einfache Pferdetrage, eigentlich nur ein Stück Segeltuch zwischen zwei Holzstangen, wie es früher die amerikanischen Ureinwohner verwendet hatten, war von findigen Überlebenden wiederentdeckt worden, die mit Esel, Pferd oder Kuh unterwegs waren. So konnten sie viel mehr transportieren als auf dem Rücken ihrer Tiere, sogar durch unwegsames Gelände, das für Wagen unpassierbar gewesen wäre.

      Lucas schlang die Befestigungsseile um das Sattelhorn und die gekreuzten Stangen spreizten sich hinter Tango. Beim ersten Mal hatte er die Trage nicht durchsucht, war aber dankbar, ein paar Wasserkanister und mehrere Körbe mit halbverfaulten Äpfeln und Orangen zu finden. Nach kurzem Überlegen entschied er sich, zwei der Kanister, einen Korb Obst und die restlichen Waffen mitzunehmen, die nicht mehr in die Satteltaschen gepasst hatten. Wenn Tango ohnehin die Frau zog, dann würden ein paar Pfund mehr Ausrüstung auch nicht schaden.

      Als er fertig war, inspizierte er sein Werk. Es würde die Frau mit Leichtigkeit aushalten. Wenn er es langsam angehen ließ, war es für seinen großen Hengst auch keine echte Herausforderung. Als er die Frau aufhob, war er überrascht, wie leicht sie war. Er hatte so lange keine Frau mehr in den Armen gehalten, dass er beinahe vergessen hatte, wie …

      Er schüttelte den Gedanken ab und legte sie auf der Trage ab, wo er sie mit einem Stück Seil fixierte, damit sie nicht herunterfiel. Weit wollte er in der Nacht nicht reisen – wer nach Einbruch der Dunkelheit unterwegs war, bettelte praktisch um einen Hinterhalt und dem ging er gern aus dem Weg.

      Lucas schwang sich mit einer fließenden Bewegung in den Sattel und schnalzte Tango zu. Der Hengst begann zu ziehen und Lucas war erleichtert, dass das Pferd mit dem zusätzlichen Gewicht gut zurechtkam. Sie folgten dem fallenden Flussbett, bis es Lucas an einer flachen Stelle möglich war, Tango auf den Grat zurückzulenken. Oben angekommen machte er eine Pause und suchte den Horizont mit dem Fernglas ab. Doch abgesehen von der sich auftürmenden Wolkenkette im Westen gab es nichts zu sehen. Dem Klang des Donners nach hing das Gewitter über den Bergen fest, wo es hoffentlich bleiben würde. Das würde ihnen am Morgen schlammige Pfade ersparen.

      Ein Stück entfernt fand er einen Lagerplatz, an dem er schon früher übernachtet hatte. Er hatte dort freies Schussfeld und nur zwei Wege führten auf die Lichtung am Fuße eines aufragenden Felsens. Er sattelte Tango ab und streichelte sein Pferd anerkennend, bevor er es zum Grasen schickte. Tango, mittlerweile viereinhalb Jahre alt, war von Lucas aufgezogen worden. Er hing an ihm, soweit das für ein Tier überhaupt möglich war. Lucas hatte keine Sorge, dass Tango sich zu weit entfernen würde. Er zog es vor, in der Nähe der Lichtung zu bleiben, wo es zu dieser Jahreszeit reichlich Gras zu Fressen gab.

      Lucas sah erst kurz nach der Frau, bevor er im Umkreis von 50 Metern Stolperdrähte zog. Er spannte sorgfältig kunststoffummantelten Draht zwischen zwei Bäumen, die den Hauptzugang einrahmten, den ein möglicher Eindringling nehmen würde. Den Vorgang wiederholte er am rückwärtigen Zugang zwischen zwei Felsen, wo er den Draht zwischen zwei solide aussehenden Jungbäumen spannte.

      Er ging zurück zu der Stelle, an der die Frau auf der Trage schlief, öffnete einen der Wasserkanister und schnupperte daran, bevor er Tango Wasser anbot, der ein paar Meter entfernt genüsslich den Boden abgraste.

      »Willst du auch etwas Wasser, mein Junge?«, flüsterte er und Tango trabte auf ihn zu, als hätte er verstanden. Das Pferd soff den Kanister komplett leer, was Lucas wieder einmal daran erinnerte, dass Tango am Tag mindestens zehn Gallonen Wasser benötigte. Mehr sogar, wenn er sich verausgabt hatte.

      Lucas rollte seinen Schlafsack aus, legte ihn über die Frau und setzte sich neben sie. Er lauschte ihrer Atmung, was nur durch einen gelegentlichen Eulenschrei und entferntes Donnergrollen unterbrochen wurde. Lucas schob ihr eine Strähne hellbraunen Haares aus der Stirn und studierte ihre Züge im schwachen Mondlicht, das zwischen Wolkenfetzen hindurchschimmerte.

      »Was hast du nur da draußen gemacht?«, murmelte er. »Eine todsichere Methode, sich umbringen zu lassen.«

      Er


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