Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг
in den tanzenden Wellen. Weiter aufwärts wurden die Pferde durch einen Elefanten der Regierung in wilde Flucht gejagt, und da sie durch gutes Grasfutter feurig geworden waren, kostete es ein und einen halben Tag, sie zusammen zu treiben. Dann begegnete ihnen Sikandar Khan mit einigen unverkäuflichen Schindmähren, die von seinem Transport übrig geblieben waren, und Mahbub, dessen kleiner Finger mehr von Pferden verstand, als Sikandar Khan vom Kopf bis Fuß, fand es richtig, zwei der miserabelsten zu kaufen, und das erforderte wieder acht Stunden angestrengter Diplomatie und ungezählte Tabakpfeifen. Für Kim aber war alles Entzücken – die Heerstraße, aufsteigend, abfallend, über ansteigende Gebirgsläufe sich hinziehend; das Morgenrot, das die fernen Schneegipfel färbte, die vielgliedrigen Kakteen, die Reihe auf Reihe an den steinigen Hügelseiten emporklommen; die Stimmen von tausend Wasserrinnen, das Geschnatter der Affen, die feierlichen Deodare, die, einer über den andern, mit niederhangenden Zweigen aufwärts stiegen, der Blick auf die tief unten sich ausbreitenden Ebenen, das unaufhörliche Schmettern der Tonga-Hörner und die wilde Scheu der geleiteten Pferde, wenn eine Tonga (einheimischer, zweirädriger Karren) um eine scharfe Krümmung bog, die Raste zum Gebet (Mahbub war sehr religiös mit trockenen Waschungen und Gebeteheulen, wenn er gerade Zeit hatte), die abendlichen Unterhaltungen an den Ruheplätzen, wenn Kamele und Ochsen feierlich nebeneinander kauten und die Treiber sich Geschichten vom Wege erzählten – das alles machte Kim das Herz in der Brust tanzen.
»Aber,« sprach Mahbub, »wenn das Singen und Tanzen aufhört. Kommt der Oberst Sahib an die Reihe, und das wird nicht so süß sein.«
»Ein schönes Land – ein wundervolles Land, dies Hind – und das Land der fünf Flüsse ist schöner als alle,« war Kims fast gesungene Erwiderung. »Dahin will ich gehen, wenn Mahbub Ali oder der Oberst Hand oder Fuß gegen mich erheben. Einmal weg – wer soll mich finden? Schau, Hajji, ist dort die Stadt Simla? Allah! Welch eine Stadt!«
»Meines Bruders Bruder, und er war ein alter Mann, als Mackerson Sahibs Brunnen zu Peshawur neu war, erinnerte sich der Zeit, als nur zwei Häuser in der Stadt standen.«
Die Pferde wurden unterhalb der Hauptstraße hingeleitet nach dem unteren Basar von Simla – dem wimmelnden Kaninchen-Gehege, das aus dem Tale sich in einem Winkel von 45° aufwärts windet bis zum Stadthaus. Ein Mann, der dort die Wege kennt, kann der ganzen Polizei von Indiens Sommer-Hauptstadt trotzen, so schlau schließt Veranda sich an Veranda, Durchgang sich an Durchgang, Schlupfloch an Schlupfloch. Hier leben die, die für die Bedürfnisse der lustigen Stadt sorgen: Jhampanis, die abends die Wagen der schönen Damen ziehen und bis zum Morgengrauen Würfel spielen; Gewürzkrämer, Ölhändler, Kuriositätenhändler, Holzverkäufer, Priester, Taschendiebe und eingeborene Verwaltungsangestellte. Hier werden von Courtisanen Dinge besprochen, die als tiefes Geheimnis des Indischen Rats gelten; und hier treffen sich alle die Unter-Unter-Agenten von Dutzenden einheimischer Staaten. Hier auch mietete Mahbub Ali ein Zimmer, das besser verschlossen war als sein Verschlag zu Lahore, im Hause eines muselmännischen Viehhändlers. Es war wieder ein Ort der Wunder, denn hinein ging um die Dämmerung ein mohammedanischer Pferdejunge, und heraus trat eine Stunde später ein eurasischer Jüngling – die Farbe des Mädchens von Lucknow hielt gut – in schlecht passenden, billigen Basarkleidern.
»Ich habe mit Creighton Sahib gesprochen,« sagte Mahbub, »und ein zweites Mal hat die Hand der Freundschaft die Geißel des Unheils abgewendet. Er sagt. Du hättest sechzig Tage auf der Landstraße verbummelt, und es sei zu spät geworden, Dich in eine Gebirgsschule zu schicken.«
»Ich habe gesagt, daß meine Ferien mein eigen sind. Ich gehe nicht in zwei Schulen. Das ist eine meiner Bedingungen.«
»Dem Oberst ist von der Abmachung noch nichts bekannt. Du sollst in Lurgan Sahibs Haus wohnen, bis es Zeit ist, wieder nach Nucklao zu gehen.«
»Ich möchte lieber bei Dir wohnen, Mahbub.«
»Du weißt diese Ehre nicht zu schätzen. Lurgan Sahib selbst hat nach Dir gefragt. Du mußt den Hügel ersteigen, oben auf dem Wege vorwärts gehen und dort für eine Weile vergessen, daß Du jemals mich, Mahbub Ali, der an Creighton Sahib, den Du nicht kennst, Pferde verkauft, gesehen oder gesprochen hast. Gedenke! Dies ist Befehl.«
Kim nickte. »Gut,« sprach er, »und wer ist Lurgan Sahib? Nein« – er verstand Mahbubs schwertscharfen Blick – »wahrlich, ich hörte seinen Namen noch nie. Ist er zufällig,« er sprach ganz leise, »einer von uns?«
»Welche Rede ist das – von uns, Sahib?« Mahbub sprach in dem Ton, den er Europäern gegenüber anschlug. »Ich bin ein Pathan; Du bist ein Sahib und der Sohn eines Sahib. Lurgan Sahib hat einen Laden zwischen den europäischen Läden. Ganz Simla kennt ihn. Frage dort … und, Freund aller Welt, er ist einer, dem man auf einen Augenwink zu gehorchen hat. Man sagt, er treibe Magie, doch das braucht Dich nicht zu kümmern. Gehe den Berg hinan und frage. Hier beginnt das Große Spiel.«
Kapitel 9.
Mit frischem Sinn schwang Kim sich auf die nächste Drehung des Rades. Für eine Weile wollte er wieder mal Sahib sein. In diesem Gedanken sah er sich, sobald er die breite Straße unter dem Simla-Rathaus erreichte, nach jemand um, dem er imponieren konnte. Ein Hindu-Knabe von ungefähr zehn Jahren hockte unter einem Laternenpfahl.
»Wo ist Mr. Lurgans Haus?« fragte Kim.
»Ich verstehe nicht Englisch,« war die Antwort, und Kim änderte seine Sprache.
»Ich werde es Dir zeigen.«
Sie schritten miteinander durch das geheimnisvolle Zwielicht, unter sich das Geräusch der Stadt am Bergabhang, im Hauch eines kühlen Windes vom Deodargekrönten Jakko herab, der die Sterne zu berühren schien.
Die Lichter aus den auf allen Anhöhen zerstreuten Häusern bildeten gleichsam ein zweites Firmament. Dazwischen bewegliche Lichter von den Rickhaws, die die laut sprechende, sorglose englische Gesellschaft zum Diner führten.
»Hier ist es«, sagte Kims Führer und hielt vor einer Veranda, in gleicher Höhe mit der Hauptstraße. Keine Tür hielt sie zurück, nur ein Vorhang von Rohrschnüren, den Lampenlicht von innen durchschimmerte.
»Er ist gekommen,« sprach der Knabe mit einer Stimme, kaum lauter als ein Seufzer und verschwand. Kim war sicher, daß der Knabe auf dem Posten gewesen war, um ihn zu führen, nahm es aber kühl auf und teilte den Vorhang. Ein Mann mit schwarzem Bart und einem grünen Schirm über den Augen saß an einem Tisch, und mit Kurzen, weißen Händen pickte er Kügelchen von Licht, eins nach dem anderen, von einer Platte auf, reihte sie auf eine glänzende, seidene Schnur und summte dabei. Kim merkte, daß der Raum hinter dem Lichtkreis mit Dingen angefüllt war, die Düfte wie von allen Tempeln des Ostens verbreiteten. Ein Hauch von Moschus, ein Geruch von Sandelholz und ein kränklicher Duft von Jasmin-Öl schlug ihm entgegen.
»Ich bin hier,« sprach Kim endlich im Dialekt: die Wohlgerüche machten ihn vergessen, daß er ein Sahib sein wollte.
»Neunundsiebzig, achtzig, einundachtzig,« zählte der Mann, eine Perle nach der anderen und so schnell aufreihend, daß Kim kaum der Bewegung der Finger folgen konnte. Er schob den grünen Schirm zurück und sah Kim eine halbe Minute fest an. Die Pupillen der Augen erweiterten sich und schrumpften wieder ein zur Größe von Nadelspitzen, wie willkürlich. Ein Fakir am Taksali-Tor besaß diese Gabe, und verdiente Geld damit, besonders wenn er dumme Weiber verfluchte. Kim starrte neugierig hin. Sein verrufener Freund Konnte auch die Ohren bewegen wie eine Ziege, und Kim war enttäuscht, daß dieser neue Mann es nicht ebenfalls tat.
»Fürchte Dich nicht«, sprach Lurgan plötzlich.
»Warum sollte ich mich fürchten?«
»Du wirst diese Nacht hier schlafen und bei mir bleiben, bis es Zeit ist, nach Nucklao zurückzukehren. Es ist Befehl.«
»Es ist Befehl,« wiederholte Kim. »Aber wo soll ich schlafen?«
»Hier in diesem Raum.« Lurgan bewegte die Hand nach dem Dunkel hinter ihm.