Gesammelte Werke von Rudyard Kipling. Редьярд Киплинг

Gesammelte Werke von Rudyard Kipling - Редьярд Киплинг


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die einer nach dem andern hervortraten in dem feuchtwarmen Dunkel, bis er in Schlaf fiel am Fuße des kleinen Altars. In dieser Nacht träumte er nur Hindostianisch, nicht ein Wort Englisch…

      »Heiliger, denke an das Kind, dem wir die Medizin gaben,« sprach Kim, als der Lama gegen drei Uhr morgens aus Träumen erwachend, die Pilgerfahrt antreten wollte, »der Jat wird mit dem Tageslicht hier sein.«

      »Du hast wohl gesprochen. In meiner Eile würde ich ein Unrecht begangen haben.« Er setzte sich wieder auf die Kissen und nahm seinen Rosenkranz vor. »In Wahrheit, alte Menschen sind wie Kinder,« sagte er betrübt. »Sie wünschen etwas – siehe da! – es muß sogleich erfüllt werden, sonst werden sie zornig und weinen. Oft auf meiner Wanderschaft war ich bereit, mit dem Fuß zu stampfen, wenn ein Ochsenkarren mir den Weg versperrte, ja selbst wenn es nur eine Staubwolke war. Das war nicht so, als ich noch ein Mann war – vor langer Zeit. Trotzdem ist es sündhaft –«

      »Aber, Heiliger, Du bist doch wirklich alt.«

      »Das Ding ist geschehen. Eine Ursache ist in die Welt gegangen und wer, krank oder gesund, wissend oder unwissend, alt oder jung, könnte die Wirkung dieser Ursache zügeln? Steht das Rad still, wenn ein Kind es dreht – oder ein Trunkener? Chela, dies ist eine große und eine schreckliche Welt.«

      »Ich finde sie gut.« Kim gähnte. »Ist etwas zu essen da? Seit gestern Abend habe ich nicht gegessen.«

      »Ich hatte vergessen, was Du brauchst. Dort ist kalter Reis und guter Tee von Bhotiyal.«

      »Weit können wir nicht gehen mit solchem Stoff.« Kim sehnte sich, wie ein Europäer, nach Fleischnahrung, die in einem Jain-Tempel nicht zu erlangen ist. Doch statt mit der Bettelschale hinaus zu gehen, beruhigte er seinen Magen mit Klümpchen von kaltem Reis. Die Morgendämmerung brachte den Farmer, redselig stotternd vor Dankbarkeit.

      »In der Nacht brach sich das Fieber und der Schweiß kam,« rief er. »Fühlt ihn an. Seine Haut ist frisch. Ihm schmeckten die gesalzenen Täfelchen und die Milch trank er mit Gier.« Er zog das Tuch vom Gesicht des Kindes, das Kim schläfrig anlächelte. Eine Gruppe von Jain-Priestern, schweigend, aber ganz Aufmerksamkeil, hatte sich bei der Tempeltür gesammelt. Sie wußten und Kim sah, daß sie wußten, wie der alte Lama seinen Schüler gefunden hatte. Höflich, wie sie sind, hatten sie sich während der Nacht weder durch Gegenwart, noch Wort, noch Bewegung aufgedrängt, wofür Kim ihnen, bei Sonnenaufgang, sich dankbar erwies.

      »Danke den Göttern der Jains, Bruder,« sprach er zu dem Jat, den Namen der Götter nicht wissend. »Das Fieber ist wirklich gebrochen.«

      »Schauet! Sehet!« rief der Lama, vor Freude strahlend, seinen Gastgebern zu. »Gab es jemals solchen Chela? Er folgt unserm Herrn, dem Heiler.«

      Die Jains erkennen offiziell alle Götter des Hindu-Glaubens an, ebensowohl den Lingam, wie die Schlange. Sie tragen die Schnur der Brahmahnen und sind Anhänger jedes Rechtes der Kasten-Vorschrift der Hindu. Aber, weil sie den Lama kannten und liebten, weil er ein alter Mann war, weil er den Weg suchte, weil er ihr Gast war und endlich – weil er nachts oft lange Gespräche mit dem Oberpriester führte, der ein so freidenkender Metaphysiker, als je einer ein Haar siebzig Mal gespalten – deshalb nickten sie dem Lama Beifall zu.

      »Vergiß aber nicht,« – Kim beugte sich über das Kind – »dieses Übel kann wiederkehren.«

      »Nicht, wenn Du das richtige Zaubermittel hast,« erwiderte der Vater.

      »Aber wir gehen bald fort.«

      »Wahr,« sprach der Lama, sich an alle Jains wendend. »Wir gehen jetzt zusammen auf die Suche, von der ich oft geredet. Ich wartete, bis mein Chela reif wäre. Schauet ihn an! Wir gehen nach dem Norden. Niemals wieder werde ich auf diesen Ort meiner Ruhe blicken, o Männer des guten Willens.«

      »Ich aber bin kein Bettler.« Der Landmann sprang auf, das Kind an sich pressend.

      »Schweige. Störe den Heiligen nicht,« rief ihm ein Priester zu.

      »Geh,« flüsterte Kim. »Triff uns wieder unter der großen Eisenbahnbrücke, und um aller Götter unseres Punjab willen, bringe Futter mit – Curry, Hülsenfrucht, in Fett gebacken« Kuchen und Zuckerwerk. Besonders Zuckerwerk. Beeile Dich.« Die Blässe des Hungers kleidete Kim gut, als er dastand, schlank und schmächtig, in seinen dunkelfarbigen, wallenden Gewändern, eine Hand auf dem Rosenkranz, die andere wie zum Segnen ausgestreckt, eine Stellung, die er dem Lama getreu nachahmte. Ein europäischer Zuschauer hätte sagen können, er gliche einem auf einem Kirchenfenster gemalten jungen Heiligen mehr, als einem Jungen im Wachsen, der bleich vor Hunger ist.

      Lang und förmlich wurde der Abschied, dreimal beendet und dreimal von vorn angefangen. Der Sucher, er – der den Lama vom fernen Tibet her nach diesem Hafen geladen hatte, ein haarloser Asket, mit silberweißem Antlitz – nahm nicht teil daran: er weilte, wie immer, in Betrachtungen unter den Götterbildern. Die anderen waren menschlicher, nötigten dem alten Manne kleine Gaben auf, eine Betelschachtel, einen neuen, eisernen Federkasten, einen Beutel für Eßwaren und dergleichen mehr, warnten ihn vor den Gefahren der Welt draußen und prophezeiten ein glückliches Ende der Suche.

      Kim indessen, einsamer denn je, hockte auf den Stufen und fluchte in St. Xaviers Art.

      »Aber es ist mein eigener Fehler,« dachte er. »Mit Mahbub oder Lurgan Sahib aß ich ihr Brod; in St. Xavier drei Mahlzeiten am Tage. Hier kann ich zusehen, wo ich etwas bekomme. Ich fühle mich nicht wohl. Wie würde mir ein Teller mit Fleisch behagen … Heiliger, bist Du zu Ende?«

      Der Lama, beide Hände erhoben, begann eine letzte Segenspendung in zierlichem Chinesisch. »Ich muß mich auf Deine Schultern lehnen,« sprach er, als die Tempelpforte sich hinter ihnen schloß. »Wir werden steif, glaube ich.«

      Das Gewicht eines sechs Fuß hohen Mannes ist nicht leicht zu stützen durch Meilen von gedrängt vollen Straßen, und Kim, außerdem mit Bündeln und Päckchen für die Reise beladen, war froh, den Schatten der Eisenbahnbrücke zu erreichen.

      »Hier essen wir,« sagte er entschlossen, als der Kamboh, blau gekleidet und lächelnd, in Sicht kam, einen Korb in einer Hand, das Kind an der anderen.

      »Greift zu, Heilige,« rief er aus fünfzig Fuß Entfernung. (Auf einer flachen Stelle unter dem ersten Brückenbogen waren sie sicher vor den Blicken hungriger Priester.) »Reis und Curry, Kuchen, noch warm und gut gewürzt mit Hing (Asafötida), Käse und Zucker. König meiner Felder« – dies zu seinem kleinen Sohn – »laß uns diesen heiligen Männern zeigen, daß wir Jats von Jullundur einen Dienst vergelten können… ich hatte gehört, daß die Jains nur essen, was sie selbst gekocht haben, aber wahrlich,« – er blickte höflich weg nach dem breiten Strom – »wo kein Auge ist, ist keine Kaste.«

      »Und wir,« sagte Kim, sich umdrehend und eine Blattschüssel für den Lama füllend, »sind erhaben über alle Kasten.«

      Schweigend sättigten sie sich an der guten Speise. Erst, als er das Letzte von dem klebrig süßen Stoff von seinem Finger abgeleckt, bemerkte Kim, daß auch der Kamboh reisefertig dastand.

      »Wenn wir denselben Weg haben,« sagte er hastig, »gehe ich mit Dir. Man findet nicht oft einen Wundertäter, und das Kind ist noch schwach. Aber ich bin auch kein schwaches Rohr.« Er hob seinen Lathi empor, einen fünf Fuß langen Bambusstock, mit polierten Eisenringen umgeben, und schwang ihn durch die Luft. »Man sagt, die Jats wären streitsüchtig, doch das ist nicht wahr. Nur wenn man uns in die Quere kommt, dann sind wir wie unsere Büffel.«

      »So ist es,« sagte Kim. »Und ein guter Stock ist ein guter Beweis.«

      Der Lama blickte in ruhiger Stimmung stromaufwärts, wo in grauer Perspektive unaufhörlich die Rauchsäulen von den Verbrennungs-Plätzen aufstiegen. Hin und wieder, ungeachtet aller behördlichen Verordnungen, trieben Überreste von halb verbrannten Leichen auf dem rasch fließenden Strom abwärts.

      »Ohne Dich,« sprach der Kamboh, das Kind an seine rauhe Brust pressend, »wäre ich vielleicht heute dorthin gegangen – mit diesem hier. Die Priester lehren uns, daß Benares heilig ist – was niemand bezweifelt – und daß es begehrenswert ist, dort zu sterben.


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