Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo

Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo


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den Versuch zu machen, wieder umzukehren. Aber es war zu spät. Das ganze Heer hatte sich hinter ihm geschlossen, und seine drei Bettler hielten ihn fest. Er ging also vorwärts, zugleich von dieser unwiderstehlichen Flut, von der Furcht und von einem Schwindel getrieben, der ihm alles ringsum wie einen entsetzlichen Traum darstellte.

      Endlich erreichte er das Ende der Straße. Sie mündete auf einen ungeheuern Platz, wo zahllose zerstreute Lichter im wankenden Nachtnebel zitterten. Gringoire warf sich dorthin, in der Hoffnung, durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei gebrechlichen Gespenstern zu entgehen, die sich an ihn geklammert hatten.

      »Onde vas, hombre?« schrie der Lahme, indem er dabei seine Krücken wegwarf und mit den zwei gesundesten Beinen, die jemals einen festen Schritt über das Pariser Pflaster gemacht haben, hinter ihm herlief.

      Währenddessen deckte der Krüppel, der kerzengerade auf seinen Beinen stand, Gringoire seinen großen eisernen Napf über den Kopf, und der Blinde sah ihm mit flammenden Augen in das Gesicht.

      »Wo bin ich?« sagte der entsetzte Dichter.

      »Im Wunderhofe,« erwiderte ein viertes Gespenst, welches sich zu ihnen gesellt hatte.

      »Bei meiner Seele,« entgegnete Gringoire, »ich sehe wohl, daß die Blinden sehen und die Lahmen gehen; aber wo ist der Heiland?«

      Sie antworteten mit lautem, unheimlichen Gelächter.

      Der arme Dichter warf die Blicke um sich her. Er war in der That in diesem furchtbaren Wunderhofe, wohin niemals ein rechtschaffener Mensch zu solcher Stunde gedrungen war; im Zauberkreise, wo die Diener des Obergerichtes und Polizeisergeanten, welche sich hineinwagten, spurlos verschwanden; in der Stadt der Diebe; im Schandflecke des Antlitzes von Paris; in der Kloake, wo diese Woge von Lastern, Bettler-und Vagabundenthum, wie sie immer in den Straßen der Hauptstädte überschäumt, am Morgen herausströmte und abends pesthauchend zurückfloß; es war der ungeheuerliche Bienenstock, wohin abends alle Drohnen der menschlichen Gesellschaft mit ihrer Beute heimkehrten; das verfängliche Spital, wo der Zigeuner, der entsprungene Mönch, der verdorbene Student, die Taugenichtse aller Nationen: Spanier, Italiener, Deutsche, aller Glaubensbekenntnisse: Juden, Christen, Muhamedaner, Heiden, mit falschen Wunden Bedeckte, am Tage Bettler, sich nachts in Raubmörder verwandelten; – mit einem Worte: es war das ungeheure Garderobezimmer, wo sich in jener Zeit alle Darsteller des ewigen Schauspieles an-und auskleideten, welches Diebstahl, Prostitution und Mord auf dem Pflaster von Paris aufführen.

      Es war ein großer, unregelmäßiger und schlecht gepflasterter Platz, wie alle Plätze des alten Paris. Hier und da leuchteten Feuer, um welche herum seltsame Gruppen wimmelten. Alles ging, kam, schrie. Man hörte helles Lachen, Kindergeschrei, Frauenstimmen. Die dunkeln Hände und Köpfe dieser Menge warfen auf dem leuchtenden Hintergrunde ihre Schatten in tausendfachen, bizarren Bewegungen. Manchmal konnte man auf dem Boden, wo der Glanz des Feuers mit großen, undeutlichen Schatten vermengt zitterte, einen Hund vorbeilaufen sehen, der einem Menschen glich, und umgekehrt. Alle Rassen und Gattungsunterschiede schienen sich an diesem Orte, wie bei einem Hexensabbath, zu verwischen. Männer, Frauen, Thiere, Alter, Geschlecht, Gesundheit, Krankheiten, – alles schien bei diesem Volke Gemeingut zu sein; alles lief mit einander, vermischt, durcheinander geworfen, übereinander hockend; jeder nahm an allem theil.

      Der schwankende und dürftige Schimmer der Feuer gestattete Gringoire, trotz seiner Aufregung, rings um den ungeheuern Platz einen häßlichen Kranz alter Häuser zu erkennen, deren zerfressene, zusammengesunkene, niedrige Vorderseiten jede von ein oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen waren, und die ihm im Schatten der Nacht wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, welche, im Kreise herumstehend, fürchterlich und griesgrämisch und mit blinzelnden Augen auf den Hexensabbath herabsehen.

      Es war gleichsam eine neue, unbekannte, unerhörte, mißgestaltete, kriechende, wimmelnde und phantastische Welt.

      Gringoire, in steigender Bestürzung, von den drei Bettlern wie von drei Zangen festgehalten, betäubt von einer Menge anderer Gesichter, welche rings um ihn schäumten und schrien, – der unglückliche Gringoire versuchte seine Geistesgegenwart zu sammeln, um sich zu erinnern, ob man einen Sonnabend hätte. Aber seine Anstrengungen waren vergeblich; sein Gedächtnisfaden und sein Gedankengang waren unterbrochen; und zweifelnd an allem, ungewiß in dem, was er sah und hörte, legte er sich die unlösliche Frage vor: »Wenn ich bin, existirt auch das da? Wenn das wirklich ist, bin ich es auch?«

      In diesem Augenblicke erscholl in dem tosenden Haufen, welcher ihn umgab, ein deutlicher Ruf: »Laßt uns ihn zum Könige bringen! zum Könige mit ihm!«

      »Heilige Jungfrau!« murmelte Gringoire, »der hiesige König, das muß ein Bock sein!«

      »Zum Könige! zum Könige!« wiederholten alle Stimmen.

      Man zog ihn fort. Jeder wollte die Kralle an ihn legen. Aber die drei Bettler ließen ihn nicht los und entrissen ihn den andern mit dem Geschrei: »Er gehört uns!«

      Das schon schlechte Wamms des Dichters ging bei dieser Rauferei gänzlich in Stücke.

      Als er über den fürchterlichen Platz schritt, schwand sein Taumel. Nach einigen Schritten war ihm das Gefühl der Wirklichkeit wiedergekommen. Die Atmosphäre des Ortes begann es ihm wiederzugeben. Anfangs war aus seinem Dichterkopfe, oder vielleicht und um es geradeheraus ganz prosaisch zu sagen, aus seinem leeren Magen ein Dunst, eine Benebelung so zu sagen, emporgestiegen, welche sich zwischen ihn und die Dinge rings herum verbreitete, und ihm diese nur im unzusammenhängenden Traumbilde, in jener flüchtigen Unbestimmtheit hatte erkennen lassen, welche alle Umrisse schwanken macht, alle Gestalten verzerrt, die Gegenstände sich in ungeheuern Gruppen zusammenballen läßt, die Wirklichkeit in Traumbilder verwandelt, aus Menschen Gespenster macht. Allmählich wich diese Sinnestäuschung einer bestimmten und nüchternen Erkenntnis. Die Wirklichkeit erschien um ihn her, stach ihm in die Augen, stieß an seine Füße und vernichtete nach und nach alle die fürchterlichen Phantasiegebilde, von denen er sich umringt geglaubt hatte. Er mußte schließlich merken, daß er nicht im Styx, wohl aber im Kothe wadete; daß er nicht von bösen Geistern, sondern von Dieben vorwärtsgestoßen wurde; daß es sich hier nicht um seine Seele, sondern ganz einfach um sein Leben handeln würde, (weil es ihm an jenem kostbaren Vermittler fehlte, der sich so wirksam zwischen den Banditen und den ehrlichen Menschen stellt: der Börse). Kurzum, als er sich die Orgie etwas näher und mit mehr Kaltblütigkeit ansah, entpuppte sich der Hexensabbath als eine gewöhnliche Spelunke.

      Das Wunderschloß war in der That nichts anderes, als eine Spelunke, aber eine Diebesschenke, die ebenso vom Blute, wie vom Weine geröthet war.

      Das Schauspiel, welches sich Gringoire's Augen darbot, als ihn seine zerlumpte Bedeckung schließlich am Ziele seines Marsches ablieferte, war nicht geeignet, ihn wieder an Dichtung denken zu lassen, nicht einmal an die der Hölle. Es war mehr denn je die prosaische, gemeine Wirklichkeit einer Schenke. Wenn wir uns nicht im fünfzehnten Jahrhunderte befänden, möchte man behaupten, Gringoire wäre aus demjenigen Michel Angelo's in dasjenige Callots gerathen.

      Um ein großes Feuer, das auf einer mächtigen, runden Steinplatte brannte, und dessen Flammen durch die erglühten Stäbe eines augenblicklich leeren Dreifußes schlugen, waren einige wurmstichige Tische hier und da, aufs Gerathewohl aufgestellt, ohne daß der geringste Feldmessergehilfe es für nöthig gehalten hätte, ihre gleichen Seiten zusammenzupassen, oder dafür Sorge zu tragen, daß sie wenigstens nicht an zu ungleichen Ecken aneinander stießen. Auf diesen Tischen blinkten mehrere von Wein und Bier triefende Krüge, und um diese herum saßen viele bacchantische Gesichter, die vom Wein und Feuer geröthet waren. Hier saß ein dickbauchiger Kerl mit jovialem Gesichte, der ein stattliches volles Freudenmädchen stürmisch umarmte; dort wickelte eine Art falscher Soldat – ein Schlaumeier, wie man es in der Gaunersprache nannte – pfeifend die Binden von seiner falschen Wunde und machte sein gesundes und starkes Knie, welches seit dem Morgen in zahllose Verbände eingeschnürt war, wieder gelenke. Als Gegenstück machte ein Siecher mit Schöllkraut und Ochsenblut sein »Gottesbein« für den nächsten Tag fertig. Zwei Tische weiter buchstabirte ein Pilger in vollständigem Pilgerkleide das Klagelied auf die Himmelskönigin, ohne die Eintönigkeit und das Näseln dabei zu vergessen. An einem andern Platze nahm ein junger Strauchdieb Unterricht


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