Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo

Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo


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der Façade dieser alten Königin unter unseren Domen findet sich neben einer Runzel immer eine Narbe. »Tempus edax, homo edacior«, was ich gern so übersetzen möchte: »Die Zeit ist blind, der Mensch ist thöricht.« Wenn wir Muße hätten, mit dem Leser die Spuren der Zerstörung, welche dieser alterthümlichen Kirche aufgeprägt sind, eine nach der andern zu untersuchen, – der Antheil der Zeit würde der geringste, der der Menschen der schlimmste sein; vor allem derjenige »der Männer der Kunst«, da es in den letzten zwei Jahrhunderten Individuen gegeben hat, die sich den Titel Baumeister beigelegt haben. Um nur gleich einige vorzügliche Beispiele anzuführen, so giebt es sicher wenige schönere architektonische Erscheinungen, als diese Façade. Hier enthüllen sich vor dem Auge allmählich und auf einmal drei gothisch gewölbte Portale, der gezackte und von achtundzwanzig Königsnischen eingefaßte Bogenkranz, die riesige, von ihren zwei Seitenfenstern flankirte Mittelrosette, ähnlich dem Priester mit Diaconus und Subdiaconus zur Seite, die hohe und zierliche Galerie aus Kreuzwölbungen, welche auf ihren zarten Säulchen eine mächtige Plattform trägt, endlich die zwei schwarzen, massiven Thürme mit ihren Schieferdächern als harmonische Theile eines prachtvollen, in fünf gigantischen Stockwerken über einander gethürmten Ganzen; alles massenhaft und ruhig, mit den zahllosen Einzelnheiten an Statuen, Bildhauer- und Schnitzarbeiten, welche kühn zur ruhigen Größe der Gesammtheit vereinigt sind; – es ist so zu sagen eine gewaltige Steinsymphonie, das ungeheure Werk eines Mannes und eines Volkes; das Ganze einheitlich und zusammengesetzt zu gleicher Zeit, wie die Iliade und die romantischen Dichtungen, deren Schwester diese Kirche ist; es ist das wunderbare Erzeugnis aus der Vereinigung aller Kräfte einer Epoche, wo man aus jedem Steine die hundertgestaltige Phantasie des Handwerkers hervortreten sieht, dem der Künstler die Hand lenkte, eine Art menschlicher Schöpfung, doch gewaltig und überreich, wie die göttliche Schöpfung, von welcher sie den zwiefachen Charakter entnommen zu haben scheint: den der Mannigfaltigkeit und den der Ewigkeit.

      Und was wir hier von der Façade sagen, müssen wir auch von der ganzen Kirche sagen; und was wir von der Kathedrale zu Paris sagen, müssen wir ebenso von allen Kirchen der mittelalterlichen Christenheit sagen. Alles verhält sich in dieser Kunst, die aus sich selbst heraus entstanden ist, logisch und im schönsten Ebenmaße: an der Fußzehe schon erkennt man den Riesen.

      Doch zurück zur Façade von Notre-Dame, wie sie uns noch gegenwärtig erscheint, wenn wir andächtigen Sinnes die ernste und mächtige Kathedrale bewundern, die uns Schauer einflößt, um mit den Worten ihrer Geschichtsschreiber zu reden: »Quae mole sua terrorem incutit spectantibus.«

      Drei wichtige Dinge fehlen heute dieser Façade: zuerst der Aufgang von elf Stufen, welcher sie vordem über den Boden hob; dann die untere Reihe von Bildsäulen, welche die Nischen der drei Portale einnahm; und die obere Reihe der achtundzwanzig ältesten Könige von Frankreich, welche die Galerie des ersten Stockwerkes einfaßte, von Childebert an bis Philipp August mit »dem Reichsapfel« in der Hand.

      Was den Aufgang betrifft, so hat die Zeit, welche mit unwiderstehlichem und leisem Schritte die Bodenfläche der Altstadt erhöhte, ihn verschwinden lassen; aber sie, die eins nach dem andern von diesem Vorflut des Pariser Pflasters Verschlingen ließ, und auch die elf Stufen, welche die majestätische Höhe des Bauwerkes vergrößerten – die Zeit hat der Kirche wohl mehr gegeben, als sie ihr nahm; denn die Zeit hat über die Façade jenes düstre Colorit der Jahrhunderte gebreitet, welches aus der Alterthümlichkeit der Baudenkmäler das Alter ihrer Schönheit schafft.

      Wer aber hat die beiden Statuen-Reihen herabgeworfen? Wer die Nischen geleert? Wer hat mitten in das schöne Hauptportal jenen neuen und unechten Spitzbogen hineingearbeitet? Wer gewagt, jenes geschmacklose, plumpe Thor aus geschnitztem Holze im Geschmacke Ludwig des Vierzehnten neben den Arabesken Biscornette's einzufügen? Die Leute, die Baumeister und Künstler unserer Zeit!

      Und wenn wir in das Innere des Gebäudes treten, wer hat die Kolossalbildsäule des heiligen Christoph umgestürzt? Ihn, der unter den Statuen mit demselben Rechte sprichwörtlich war, wie der große Saal des Justizpalastes unter den Sälen, und wie der Münster von Straßburg unter den Münstern! Und diese unzähligen Statuen, welche alle Säulenweiten des Schiffs und Chores in knieender Stellung, zu Fuß, zu Pferde bevölkerten, Männer, Frauen, Kinder, Könige, Bischöfe, Geharnischte, in Stein, Marmor, Gold, Silber, Erz, selbst in Wachs – wer hat sie brutal weggefegt? Die Zeit hat es nicht gethan!

      Und wer hat dem alten gothischen, mit Reliquienschreinen und Kästchen reich bedeckten Hochaltare jenen plumpen Marmorsarkophag mit Engelköpfen und Wolken untergeschoben, der wie ein vom Val-de-Grâce oder vom Invalidendome genommenes Muster aussieht? Wer hat einfältigerweise diesen plumpen Kunstanachronismus unter den karolingischen Denkmälern Hercanducs besiegelt? Ist es nicht Ludwig der Vierzehnte, der das Gelübde Ludwig des Dreizehnten erfüllte?

      Und wer hat weiße, frostige Fensterscheiben an Stelle dieser »farbenglänzenden« Fenster gesetzt, welche das entzückte Auge unserer Väter zwischen der Rosette des großen Portales und den Fensterbogen des Chores hin- und herzog? Und was würde ein Unterkantor des sechzehnten Jahrhunderts sagen, wenn er den schönen gelben Maueranstrich sähe, mit dem die vandalischen Erzbischöfe ihre Kathedrale angepinselt haben? Er würde sich erinnern, daß dies die Farbe ist, mit welcher der Henker die »verrufenen« Häuser anstrich; er würde an das Palais Petit-Bourbon denken, welches wegen der Verrätherei des Connetables gleichfalls ganz gelb angestrichen wurde; »ein Gelb, welches noch dazu von einer solchen Dauerhaftigkeit ist«, sagt Sauval, »und so fest aufgetragen wurde, daß länger als ein Jahrhundert noch nicht vermocht hat, sein Colorit verschwinden zu lassen«; er würde glauben, daß die heilige Stätte verrufen geworden und würde entfliehen.

      Und wenn wir auf die Kathedrale hinaufsteigen, ohne uns bei den tausend Barbareien aller Art aufzuhalten, – was hat man mit dem hübschen kleinen Thurme angefangen, welcher sich auf den Durchschnittspunkt des Kreuzgewölbes stützte, und welcher ebenso schlank und kühn, wie sein Nachbar, der (gleichfalls zerstörte) Thurm der heiligen Kapelle, aber höher, spitzer, tönender und reicher durchbrochen, als die Thürme, in den Himmel hineinragte? Ein Baumeister von gutem Geschmacke (1787) hat ihn abgetragen und geglaubt, es genüge, die Verletzung hinter jenem breiten Bleipflaster zu verstecken, das dem Deckel eines Kochtopfes gleicht. So ist die wundervolle Kunst des Mittelalters allerorts behandelt worden, namentlich aber in Frankreich. An ihrer Ruine kann man drei Arten von Verletzungen unterscheiden, welche ihr sämmtlich Wunden verschiedener Tiefe beibrachten: zuerst die Zeit, welche ihr Aeußeres hier und da kaum merklich verletzt und angefressen hat; dann die politischen und religiösen Umwälzungen, die ihrer Natur nach blind und leidenschaftlich, bald für die geistliche, bald für die weltliche Macht im Sturme über sie hergefallen sind, und das reiche Kleid seiner Steinmetz- und Bildhauerarbeiten zerfetzt, ihre Rosetten zerschlagen, ihre Arabesken- und Figurenkränze zerbrochen, ihre Statuen herabgerissen haben; endlich die immer wunderlicheren und alberneren Moden, welche seit den regellosen und glänzenden Abschweifungen der »Renaissance« in dem unvermeidlichen Verfalle der Baukunst endigten. Die Moden haben mehr Uebel verursacht, als die Revolutionen. Sie haben in den Lebensnerv geschnitten, sie haben das Knochengerüst der Kunst angegriffen, haben das Bauwerk beschnitten, zerstückelt, es in seiner Gestalt wie in seiner Symbolik, in seinem Zusammenhange wie in seiner Schönheit zerstört. Und hernach haben die Moden wieder ausgebessert, eine Anmaßung, die wenigstens weder die Zeit, noch die Revolutionen gehabt haben. Sie haben dreist, mit »gutem Geschmacke« den Verletzungen der gothischen Baukunst ihre elenden alltäglichen Schnörkeleien, ihre marmornen Bänder, ihre metallenen Zieraten angepaßt: eine wahre Pest von Kugelverzierungen, Schnecken, Einschnitten, Einkleidungen, Guirlanden, Fransen, steinernen Flammen, bronzenen Wolken, dicken Liebesgöttern, bausbäckigen Engelsköpfen, welche in der Betzelle Katharinens von Medici das Antlitz der Kunst benagt und sie, zwei Jahrhunderte später im Boudoir der Dubarry, gequält und grinzend verenden läßt.

      So entstellen also, um die Punkte, welche wir soeben nannten, zusammenzufassen, drei Arten von Verwüstungen heute die gothische Baukunst: Furchen und Flecke auf der Oberfläche, als das Werk der Zeit; thatsächliche Spuren, Gewaltthätigkeiten, Verletzungen, Brüche – als das Werk der Revolutionen von Luther an bis Mirabeau; Verstümmlungen, Abtragungen, Versetzungen des Gliederbaues, »Restaurationen« – dies die griechische, römische und barbarische Arbeit von Kunstgelehrten nach


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