Der Glöckner von Notre Dame. Victor Hugo

Der Glöckner von Notre Dame - Victor Hugo


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in ihrem Busen. Er versuchte andere Fragen an sie zu richten, aber sie antwortete kaum.

      »Was soll das Wort ›die Esmeralda‹ heißen?«

      »Ich weiß es nicht,« sagte sie.

      »Welcher Sprache gehört es an?«

      »Ich glaube, es kommt aus dem Aegyptischen.«

      »Ich habe es mir gedacht,« sagte Gringoire. »Ihr seid nicht aus Frankreich?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Habt Ihr noch Eure Eltern?«

      Sie begann nach einer alten Melodie zu singen:

       »Mein Vater ist ein Vöglein,

       Mein Mütterchen auch.

       Ich zieh' übers Wasser hin,

       Ohn' Kahn und Schiff, zu fahren drin –

       Mein' Mutter ist ein Vöglein,

       Mein Väterchen auch.«

      »Es ist gut,« sagte Gringoire. »In welchem Alter seid Ihr nach Frankreich gekommen?«

      »Ganz klein.«

      »Nach Paris?«

      »Voriges Jahr. Gerade als wir durch das Papstthor einzogen, sah ich in der Luft den Weidenzeisig fortziehen, es war Ende des August; da sagte ich: der Winter wird hart werden.«

      »Er war es auch,« sagte Gringoire, erfreut über den Beginn der Unterhaltung; »ich habe fortwährend in die Hände gehaucht. Ihr besitzt also die Gabe, in die Zukunft zu sehen?«

      Sie verfiel wieder in ihre Wortkargheit: »Nein.«

      »Der Mann, welchen Ihr Herzog von Aegypten nennt, ist das Oberhaupt Eures Stammes?«

      »Ja.«

      »Er ist es also, welcher uns verheirathet hat,« bemerkte schüchtern der Dichter.

      Sie machte ihre gewohnte reizende Grimasse. »Ich weiß nicht einmal deinen Namen.«

      »Meinen Namen? Wenn Ihr wollt, da ist er: Peter Gringoire.«

      »Ich weiß einen viel schönern,« sagte sie.

      »Böses Mädchen!« entgegnete der Dichter. »Doch es thut nichts, Ihr sollt mich nicht ärgern. Sehet! Ihr werdet mich vielleicht lieb gewinnen, wenn Ihr mich besser kennen lernt; und überdies habt Ihr mir Eure Lebensgeschichte mit so viel Offenheit erzählt, daß ich Euch die meinige auch erzählen muß. Ihr mögt also wissen, daß ich Peter Gringoire heiße und der Sohn des Gerichtsschreibereipächters von Gonesse bin. Mein Vater wurde von den Burgundern gehangen, und meiner Mutter bei der Belagerung von Paris, vor zwanzig Jahren, von den Picarden der Leib aufgeschlitzt. Mit sechs Jahren also war ich Waise; ich hatte als Sohle nichts unter den Füßen, als das Straßenpflaster von Paris. Ich weiß nicht, wie ich über die Zeit vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre weggekommen bin. Hier erhielt ich von einer Obsthändlerin eine Pflaume, dort warf mir ein Bäcker eine Brotrinde zu; nachts ließ ich mich von der Wache der Einunddreißig auflesen, die mich ins Gefängnis steckten, und ich fand da eine Schütte Stroh. Alles das hat aber nicht gehindert, daß ich groß und schlank geworden bin, wie Ihr sehet. Im Winter wärmte ich mich an der Sonne unter der Thürhalle des Hôtel de Sens; und ich fand es recht lächerlich, daß das Sanct-Johannisfestfeuer für die Hundstage aufgespart würde. Mit sechzehn Jahren wollte ich einen Stand ergreifen. Nach und nach hab ich alles versucht. Ich wurde Soldat, aber ich war nicht muthig genug. Ich wurde Mönch, aber ich war nicht fromm genug, und dann – ich saufe nicht. Aus Verzweiflung trat ich bei den Zimmerleuten mit der großen Axt als Lehrling ein, aber ich war nicht stark genug. Ich hatte mehr Neigung, den Schulmeister zu spielen; wahr ist, daß ich nicht lesen konnte; aber das war kein Hindernis. Endlich merkte ich nach Verlauf einer gewissen Zeit, daß mir zu allem etwas fehlte; und weil ich fühlte, daß ich zu nichts taugte, wurde ich ganz freiwillig Dichter und Tonsetzer. Das ist ein Stand, den man immer ergreifen kann, wenn man Landstreicher ist, und ist doch immer noch besser, als zu stehlen, wie mir einige meiner Freunde riethen, die Soldatenbuben waren. Glücklicherweise traf ich eines schönen Tages Dom Claude Frollo, den ehrwürdigen Archidiaconus an der Kirche Notre-Dame. Er fand Gefallen an mir, und ihm verdanke ich es, daß ich heute ein wahrer Gelehrter bin, der alles Latein versteht, von Cicero's Buche ›Ueber die Pflichten‹ an bis zu dem ›Todtenbuche‹ der Cölestinermönche; der weder in der Scholastik, noch in der Dichtkunst, noch in der Rhythmik, dieser Weisheit aller Weisheit, unbewandert ist. Ich bin nämlich der Autor des Schauspieles, das man heute mit glänzendem Erfolge und unter großem Zulaufe der Bevölkerung im dichtgedrängten Saale des Gerichtspalastes gegeben hat. Auch ein Buch, welches sechshundert Seiten enthalten wird, habe ich über den wunderbaren Kometen von 1465 geschrieben, über den ein Mensch verrückt wurde. Ich habe noch andere Erfolge zu verzeichnen. Als ich ein Weilchen Tischler bei der Artillerie war, habe ich an jener großen Bombarde des Johann Maugue gearbeitet, die bekanntlich am Tage, wo man eine Schießprobe mit ihr anstellte, auf der Charentonbrücke geplatzt ist und vierundzwanzig Zuschauer getödtet hat. Ihr seht, daß ich keine schlechte Heirathspartie bin. Ich kenne die Geheimnisse vieler allerliebsten Kunststücke, die ich Eurer Ziege lehren will, z.B. den Bischof von Paris nachzumachen, diesen verdammten Pharisäer, dessen Mühlen alle Passanten vollspritzen, die längs der Müllerbrücke hingehen. Und dann wird mir mein Schauspiel viel baares Geld eintragen, wenn ich's bezahlt bekomme. Kurz, ich stehe zu Euern Befehlen, ich und mein Geist, meine Wissenschaft, meine Gelehrsamkeit; bin bereit mit Euch, Jungfer, nach Gefallen zu leben; keusch oder lustig, als Mann und Frau, wenn's Euch recht ist; als Bruder und Schwester, wenn's Euch besser behagen sollte.«

      Gringoire schwieg und wartete auf die Wirkung seiner Rede auf das junge Mädchen. Sie hatte die Blicke an den Boden geheftet.

      »Phöbus,« sagte sie mit leiser Stimme. Dann wandte sie sich an den Dichter. »Phöbus – was bedeutet das?«

      Gringoire, der nicht recht begriff, in welcher Beziehung diese Frage zu seiner Ansprache stehen könnte, war gar nicht böse, sein Licht leuchten lassen zu können. Er warf sich in die Brust und antwortete: »Das ist ein lateinisches Wort, welches ›Sonne‹ bedeutet.«

      »Sonne!« versetzte sie.

      »Es ist der Name eines sehr schönen Bogenschützen, welcher ein Gott war,« fügte Gringoire hinzu.

      »Ein Gott!« wiederholte die Zigeunerin, und in ihrem Tone lag etwas Nachdenkliches und Leidenschaftliches.

      In diesem Augenblicke ging eins ihrer Armbänder los und fiel zu Boden. Gringoire bückte sich schnell, um es aufzuheben; als er sich wieder erhob, waren das junge Mädchen und die Ziege verschwenden. Er hörte das Klappern eines Riegels. Es kam von einer kleinen Thür, welche ohne Zweifel in eine Kammer nebenan führte, und die sich von draußen schloß.

      »Hat sie mir wenigstens ein Bett zurückgelassen?« sagte unser Philosoph.

      Er machte einen Gang durch die Zelle. Er fand kein anderes zum Schlafen geeignetes Zimmergeräth, als eine ziemlich lange, hölzerne Lade, deren Deckel noch dazu mit Bildschnitzereien bedeckt war, und welche Gringoire, als er sich niederlegte, eine Empfindung verursachten, ohngefähr wie die, welche Mikromegas empfand, als er sich seiner ganzen Länge nach auf den Alpen zum Schlafen ausstreckte.

      »Wohlan,« sagte er und bequemte sich so gut es ging, »man muß sich in sein Schicksal ergeben. Aber das ist eine sonderbare Hochzeitsnacht. Es ist schade; in dieser Vermählung mittelst des zerbrochenen Kruges war so etwas Naturwüchsiges und Vorsündflutliches, daß es mir recht gefallen hat.«

      Drittes Buch.

      1. Die Kirche Notre-Dame.

      Ohne Zweifel ist die Kirche Notre-Dame in Paris noch heute ein majestätisches und erhabenes Bauwerk. Doch so schön sie sich bei ihrem Alter erhalten hat, so schwer ist es, über die Beschädigungen nicht zu klagen, sich über die zahllosen Verstümmlungen nicht zu entrüsten, welche Zeit und Menschen


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