LTI. Victor Klemperer
fiktiven Reichstagssitzungen haben sie in einem Theatersaal, in der Krolloper, angesiedelt.)
Wenn das LTI-Verbum »aufziehen« irgendwo mit Recht angewendet wird, dann sicherlich hier; das Gewebe der Staatsakte wurde immer nach dem gleichen Muster aufgezogen, in zwei Ausführungen freilich, mit oder ohne Sarg im Mittelpunkt. Die Pracht der Banner, Aufmärsche, Girlanden, Fanfaren und Chöre, der Redeumkörperungen, blieb sich durchweg gleich, lehnte sich durchweg an das Mussolinische Vorbild. Im Kriege schob sich der Sarg immer häufiger ins Zentrum, und die schon etwas erschlaffte Anziehungskraft dieses Werbemittels straffte sich wieder durch Anrüchigkeit. So oft ein gefallener oder tödlich verunglückter General sein Staatsbegräbnis erhielt, ging das Gerücht, er sei beim Führer in Ungnade geraten und auf dessen Befehl beseitigt worden. Daß solche Gerüchte entstehen konnten, legt – einerlei ob sie der Wahrheit entsprachen oder nicht – gültiges Zeugnis ab für den Wahrheitsgehalt, den man der LTI beimaß, für den Lügengehalt, den man ihr zutraute. Die größte Lüge aber, die ein Staatsakt je ausdrückte, und eine inzwischen erwiesene Lüge, war die Leichenfeier für die sechste Armee und ihren Marschall. Hier sollte aus der Niederlage Kapital für künftigen Heroismus geschlagen werden, indem man treues Aushalten bis in den Tod denen [57]nachsagte, die sich gefangengegeben hatten, um sich nicht wie abertausende ihrer Kameraden für eine sinnlose und verbrecherische Sache schlachten zu lassen. Diesem Staatsakt hat Plievier in seinem Stalingradbuch erschütternd satirische Wirkung abgewonnen.
Rein sprachlich ist das Wort doppelt aufgeblasen. Einmal sagt es aus und bestätigt damit eine wirkliche Gegebenheit, daß Ehrungen, die der Nationalsozialismus vergibt, staatliche Anerkennungen sind. Es enthält also das L’Etat c’est moi des Absolutismus. Sodann aber fügt es zur Aussage den Anspruch. Ein Staatsakt ist etwas zur Staatsgeschichte Gehöriges, also etwas, das dauernd im Gedächtnis eines Volkes bewahrt werden soll. Ein Staatsakt hat besonders feierliche historische Bedeutung.
Und hier ist nun das Wort, mit dem der Nationalsozialismus vom Anfang bis zum Ende übermäßige Verschwendung getrieben hat. Er nimmt sich so wichtig, er ist von der Dauer seiner Institutionen so überzeugt, oder will so sehr davon überzeugen, daß jede Bagatelle, die ihn angeht, daß alles, was er anrührt, historische Bedeutung hat. Historisch ist ihm jede Rede, die der Führer hält, und wenn er hundertmal dasselbe sagt, und wenn er gar nichts mit all seinen Worten sagt; historisch ist jede Zusammenkunft des Führers mit dem Duce, auch wenn sie gar nichts an den bestehenden Verhältnissen ändert; historisch ist der Sieg eines deutschen Rennwagens, historisch die Einweihung einer Autostraße, und jede einzelne Straße und jede einzelne Strecke jeder einzelnen Straße wird eingeweiht; historisch ist jedes Erntedankfest, historisch jeder Parteitag, historisch jeder Feiertag jeglicher Art; und da das Dritte Reich nur Feiertage kennt – man könnte sagen, es habe am Alltagsmangel gekrankt, tödlich gekrankt, ganz wie der Körper tödlich krank sein kann an Salzmangel –, so hält es eben alle seine Tage für historisch.
In wieviel Schlagzeilen, in wie vielen Leitartikeln und Reden ist das Wort gebraucht und um seinen ehrwürdigen Klang gebracht worden! Man kann ihm gar nicht Schonung genug angedeihen lassen, wenn es sich erholen soll.
Vor dem häufigen Gebrauch von Staatsakt ebenso zu warnen, ist überflüssig, da wir ja keinen Staat mehr haben.
[58]VII Aufziehen
Ich ziehe eine Uhr auf, ich ziehe die Kette eines Gewebes am Webstuhl auf, ich ziehe ein automatisches Spielzeug auf: überall handelt es sich um mechanische Tätigkeit, die an einem widerstandslosen, leblosen Ding ausgeübt wird.
Vom automatischen Spielzeug, dem drehenden Brummkreisel, dem laufenden und nickenden Tier, führt der Weg zur metaphorischen Anwendung des Ausdrucks: ich ziehe einen Menschen auf. Das heißt: ich necke ihn, ich mache ihn zur komischen Person, zum Hampelmann; Bergsons Erklärung des Komischen, es bestehe in der Automatisierung des Lebendigen, findet sich hier durch den Sprachgebrauch bestätigt.
Gewiß ist »Aufziehen« in diesem Sinn ein zwar harmloses, aber doch ein Pejorativ. (So nennt der Philologe jede »verschlechterte« oder verringerte Wortbedeutung; der Kaisername Augustus, der Erhabene, ergibt als Pejorativ den dummen August, den Zirkusclown.)
In der Moderne bekam »aufziehen« eine zugleich lobende und doch entschieden pejorative Sonderbedeutung. Man sagte von einer Reklame, sie sei gut oder groß aufgezogen. Das bedeutete die Anerkennung geschäftlicher, werbungstechnischer Tüchtigkeit, war aber zugleich ein Hinweis auf das Übertreibende, das Marktschreierische, das nicht ganz dem tatsächlichen Wert der angepriesenen Sache Entsprechende eines Angebots. Vollkommen deutlich und eindeutig als Pejorativ trat das Verbum auf, wenn ein Theaterkritiker urteilte, der Autor habe die und jene Szene groß aufgezogen. Das hieß, der Mann sei mehr skrupelloser Techniker (und Publikumsverführer) als ehrlicher Dichter.
Ganz im Anfang des Dritten Reichs sah es einen Augenblick so aus, als übernähme die LTI diese metaphorische Tadelsbedeutung. Die nazistischen Zeitungen rühmten als patriotische Tat, daß brave Studenten »das wissenschaftlich aufgezogene Institut für [59]Sexualforschung des Professors Magnus Hirschfeld zerstört« hatten. Hirschfeld war Jude, und also war sein Institut »wissenschaftlich aufgezogen« und nicht wahrhaft wissenschaftlich.
Aber wenige Tage später zeigte es sich, daß dem Verbum an sich nichts Pejoratives mehr anhaftete. Am 30. Juni 1933 erklärte Goebbels in der Hochschule für Politik, die NSDAP habe eine »Riesenorganisation von mehreren Millionen aufgezogen, in der ist alles zusammengefaßt, Volkstheater, Volksspiele, Sporttouristik, Wandern, Singen, und wird vom Staat mit allen Mitteln unterstützt«. Jetzt ist »aufziehen« vollkommen ehrlich, und wenn die Regierung triumphierend Rechenschaft ablegt von der Propaganda, die der Saar-Abstimmung voraufgegangen ist, dann spricht sie von der »groß aufgezogenen Aktion«. Keiner Seele fällt es mehr ein, etwas Reklamehaftes in dem Wort zu finden. 1935 erscheint in deutscher Übersetzung aus dem Englischen bei Holle & Co. »Seiji Noma, Autobiographie des japanischen Zeitungskönigs«. Dort heißt es mit voller Anerkennung: »Jetzt entschloß ich mich …, eine vorbildliche Organisation zur Erziehung studentischer Redner aufzuziehen.«
Die gänzliche Unempfindlichkeit gegen den mechanistischen Sinn des Verbums geht daraus hervor, daß es wiederholt von einer Organisation ausgesagt wird. Hier liegt eine der stärksten Spannungen der LTI offen: während sie überall das Organische, das naturhaft Gewachsene betont, ist sie gleichzeitig von mechanischen Ausdrücken überschwemmt und ohne Gefühl für den Stilbruch und die Würdelosigkeit solcher Zusammenstellungen wie einer »aufgezogenen Organisation«.
»Fragt sich nur, ob man die Nazis für ›aufziehen‹ verantwortlich machen darf«, warf mir F. ein. Wir hatten im Sommer 1943 Nachtschicht an derselben Mischtrommel für deutsche Tees, es war eine sehr anstrengende Arbeit, besonders in der Hitze, da wir des furchtbaren Staubes halber Kopf und Gesicht vermummt halten mußten wie die Chirurgen; in den Pausen nahmen wir Brille, Mundtuch und Mütze ab – F. trug ein altes Richterbarett, er war Landgerichtsrat gewesen –, saßen auf einer Kiste und unterhielten uns über Völkerpsychologie, wenn wir nicht die Kriegslage [60]erörterten. Wie alle, die das Judenhaus in der engen Sporergasse bewohnten, ist er in der Nacht vom 13. zum 14. Februar 1945 zugrunde gegangen.
Von »aufziehen« also behauptete er, es schon um 1920 in ganz neutraler Bedeutung gehört und gelesen zu haben. »Gleichzeitig mit, und ähnlich wie plakatieren«, sagte er. Ich erwiderte ihm, daß mir »aufziehen« im neutralen Sinn von damals her nicht bekannt sei, und daß mich die gedächtnismäßige Zusammenstellung mit »plakatieren« doch auf pejorative Tönung schließen lasse. Vor allem aber, und dies ist nun eine Meinung, der ich prinzipiell in allen einschlägigen Reflexionen folge, vor allem komme es mir nie darauf