LTI. Victor Klemperer
haben sie eine Kommission zur Nationalisierung der Universität eingesetzt. – Am Schwarzen Brett unserer Hochschule hängt ein langer Anschlag (er soll in allen andern deutschen Hochschulen ebenso aushängen): »Wenn der Jude deutsch schreibt, lügt er«; er solle künftig gezwungen sein, Bücher, die er in deutscher Sprache veröffentliche, als »Übersetzungen aus dem Hebräischen« zu bezeichnen. – Für den April war hier in Dresden der Psychologenkongreß angesagt. Der »Freiheitskampf« brachte einen Brandartikel: »Was ist aus Wilhelm Wundts Wissenschaft geworden? … Welche Verjudung … Aufräumen!« Daraufhin ist der Kongreß abgesagt worden … »um Belästigungen einzelner Teilnehmer zu vermeiden«.
27. März. Neue Worte tauchen auf, oder alte Worte gewinnen neuen Spezialsinn, oder es bilden sich neue Zusammenstellungen, die rasch stereotyp erstarren. Die SA heißt jetzt in gehobener Sprache – und gehobene Sprache ist ständig de rigueur, denn es schickt sich, begeistert zu sein – »das braune Heer«. Die Auslandsjuden, besonders die französischen, englischen und amerikanischen, heißen heute immer wieder die »Weltjuden«. Ebenso häufig wird der Ausdruck »Internationales Judentum« angewandt, und davon sollen wohl Weltjude und Weltjudentum die Verdeutschung bilden. Es ist eine ominöse Verdeutschung: in oder auf der Welt befinden [41]sich die Juden also nur noch außerhalb Deutschlands? Und wo befinden sie sich innerhalb Deutschlands? – Die Weltjuden treiben »Greuelpropaganda« und verbreiten »Greuelmärchen«, und wenn wir hier im geringsten etwas von dem erzählen, was Tag für Tag geschieht, dann treiben eben wir Greuelpropaganda und werden dafür bestraft. Inzwischen bereitet sich der Boykott jüdischer Geschäfte und Ärzte vor. Die Unterscheidung zwischen »arisch« und »nichtarisch« beherrscht alles. Man könnte ein Lexikon der neuen Sprache anlegen.
In einem Spielzeugladen sah ich einen Kinderball, der mit dem Hakenkreuz bedruckt war. Ob solch ein Ball in dies Lexikon hineingehört?
(Bald danach kam ein Gesetz »zum Schutz der nationalen Symbole« heraus, das solchen Spielzeugschmuck und ähnlichen Unfug verbot, aber die Frage nach der Abgrenzung der LTI hat mich dauernd beschäftigt.)
10. April. Man ist »artfremd« bei fünfundzwanzig Prozent nichtarischen Blutes. »Im Zweifelsfalle entscheidet der Sachverständige für Rassenforschung.« Limpieza de la sangre wie im Spanien des sechzehnten Jahrhunderts. Aber damals ging es um den Glauben, und heute ist es Zoologie + Geschäft.
Übrigens Spanien. Es kommt mir vor wie ein Witz der Weltgeschichte, daß »der Jude Einstein« ostentativ von einer spanischen Universität berufen wird und den Ruf auch annimmt.
20. April. Wieder eine neue Festgelegenheit, ein neuer Volksfeiertag: Hitlers Geburtstag. »Volk« wird jetzt beim Reden und Schreiben so oft verwandt wie Salz beim Essen, an alles gibt man eine Prise Volk: Volksfest, Volksgenosse, Volksgemeinschaft, volksnah, volksfremd, volksentstammt …
Jämmerlich der Ärztekongreß in Wiesbaden! Sie danken Hitler feierlich und wiederholt als dem »Retter Deutschlands« – wenn auch die Rassenfrage noch nicht ganz geklärt sei, wenn auch die »Fremden« Wassermann, Ehrlich, Neißer Großes geleistet hätten. Es gibt unter meinen »Rassegenossen« in meiner nächsten Umgebung Leute, die dieses doppelte »Wenn« schon für eine tapfere Tat [42]erklären, und das ist das Jämmerlichste an der Sache. Nein, das Allerjämmerlichste daran ist, daß ich mich ständig mit diesem Irrsinn des Rassenunterschiedes zwischen Ariern und Semiten beschäftigen muß, daß ich die ganze grauenhafte Verfinsterung und Versklavung Deutschlands immer wieder unter dem einen Gesichtspunkt des Jüdischen betrachten muß. Mir erscheint das wie ein über mich persönlich errungener Sieg der Hitlerei. Ich will ihn ihr nicht zugestehen.
17. Juni. Was ist Jan Kiepura eigentlich für ein Landsmann? Neulich wurde ihm ein Konzert in Berlin verboten. Da war er der Jude Kiepura. Dann trat er in einem Film des Hugenbergkonzerns auf. Da war er »der berühmte Tenor der Mailänder Scala«. Dann pfiff man in Prag sein deutsch gesungenes Lied »Heute nacht oder nie!« aus. Da war er der deutsche Sänger Kiepura.
(Daß er Pole war, erfuhr ich erst viel später.)
9. Juli. Vor ein paar Wochen ist Hugenberg zurückgetreten, und seine deutschnationale Partei hat »sich selbst aufgelöst«. Seitdem beobachte ich, daß an die Stelle der »nationalen Erhebung« die »nationalsozialistische Revolution« gerückt ist, und daß man Hitler häufiger als zuvor den »Volkskanzler« nennt, und daß man vom »totalen Staat« spricht.
28. Juli. Es hat eine Feier stattgefunden am Grabe der »Rathenaubeseitiger«. Wieviel Mißachtung, wieviel Amoral oder betonte Herrenmoral steckt in dieser Substantivbildung, diesem Zum-Beruf-Erheben des Mordes. Und wie sicher muß man sich fühlen, wenn man solche Sprache führt!
Aber fühlt man sich sicher? Es ist doch auch viel Hysterie in den Taten und Worten der Regierung. Die Hysterie der Sprache müßte einmal besonders studiert werden. Dies ewige Androhen der Todesstrafe! Und neulich die Unterbrechung alles Reiseverkehrs von 12 bis 12.40 Uhr zur »Fahndung auf staatsfeindliche Kuriere und Druckschriften in ganz Deutschland«. Das ist doch halb unmittelbare Angst und halb mittelbare. Ich will damit sagen, daß dieser Spannungstrick, dem Film und Sensationsroman amerikanischer Art nachgeahmt, natürlich ebensosehr erwogenes [43]Propagandamittel ist wie unmittelbares Angsterzeugnis, daß aber andrerseits zu solcher Propaganda nur greift, wer es nötig, wer eben Angst hat.
Und was sollen die dauernd wiederholten Artikel – dauerndes Wiederholen scheint freilich ein Hauptstilmittel ihrer Sprache – über die siegreiche Arbeitsschlacht in Ostpreußen? Daß sie der battaglia del grano der Faschisten nachgebildet ist, brauchen die wenigsten zu wissen; aber daß es in agrarischen Bezirken während der Ernte wenig Arbeitslose gibt, und daß man also von diesem momentanen Rückgang der Arbeitslosigkeit in Ostpreußen nicht auf das allgemeine und ständige Absinken der Arbeitslosenzahl schließen darf, muß sich schließlich auch der Dümmste sagen.
Aber das stärkste Symptom ihrer inneren Unsicherheit sehe ich im Auftreten Hitlers selber. Gestern in der Wochenschau eine Tonfilmaufnahme; der Führer spricht einige Sätze vor großer Versammlung. Er ballt die Faust, er verzerrt das Gesicht, es ist weniger ein Reden als ein wildes Schreien, ein Wutausbruch: »Am 30. Januar haben sie (er meint natürlich die Juden) über mich gelacht – es soll ihnen vergehen, das Lachen …!« Er scheint jetzt allmächtig, er ist es vielleicht; aber aus dieser Aufnahme spricht in Ton und Gebärde geradezu ohnmächtige Wut. Und redet man denn immerfort, wie er das tut, von Jahrtausenddauer und vernichteten Gegnern, wenn man dieser Dauer und Vernichtung sicher ist? – Beinahe mit einem Hoffnungsschimmer bin ich aus dem Kino fortgegangen.
22. August. Aus den verschiedensten Gesellschaftsschichten kommen Anzeichen der Hitlermüdigkeit. Der Referendar Fl., kein Geisteslicht, aber ein braver Junge, spricht mich in Zivil auf der Straße an: »Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mich einmal in Stahlhelmuniform treffen mit der Hakenkreuzbinde am Arm. Ich muß – aber der Zwang ändert gar nichts an uns. Stahlhelm bleibt Stahlhelm und ist etwas Besseres als die SA. Und von uns, von den Deutschnationalen, wird die Rettung kommen!« – Frau Krappmann, die stellvertretende Aufwartefrau, mit einem Postschaffner verheiratet: »Herr