LTI. Victor Klemperer
meiste andere von vorhitlerischen Deutschen. Aber sie ändert Wortwerte und Worthäufigkeiten, sie macht zum Allgemeingut, was früher einem Einzelnen oder einer winzigen Gruppe gehörte, sie beschlagnahmt für die Partei, was früher Allgemeingut war, und in alledem durchtränkt sie Worte und Wortgruppen und Satzformen mit ihrem Gift, macht sie die Sprache ihrem fürchterlichen System dienstbar, gewinnt sie an der Sprache ihr stärkstes, ihr öffentlichstes und geheimstes Werbemittel.
Das Gift der LTI deutlich zu machen und vor ihm zu warnen – ich glaube, das ist mehr als bloße Schulmeisterei. Wenn den rechtgläubigen Juden ein Eßgerät kultisch unrein geworden ist, dann reinigen sie es, indem sie es in der Erde vergraben. Man sollte viele Worte des nazistischen Sprachgebrauchs für lange Zeit, und einige für immer, ins Massengrab legen.
[27]II Vorspiel
Am 8. Juni 1932 sahen wir den (wie es in meinem Tagebuch heißt) »fast schon klassischen« Tonfilm: »Der blaue Engel«. Was episch konzipiert und ausgeführt ist, wird in der Form des Dramas, und nun gar als Film, immer ins Sensationelle vergröbert auftreten, und so ist Heinrich Manns »Professor Unrat« gewiß eine größere Dichtung als »Der blaue Engel«; aber als künstlerische Leistung der Schauspieler war dieser Film wirklich ein Meisterwerk. Da spielten in den Hauptrollen Jannings, Marlene Dietrich und Rosa Valetti, und auch die Nebenpersonen führten das eindringlichste Leben. Trotzdem war ich nur in wenigen Augenblicken wirklich von dem Geschehen auf der Leinwand festgehalten oder gar mitgerissen; immer wieder tauchte eine Szene der vorangegangenen Wochenschau in mir auf, tanzte – und es kommt mir buchstäblich auf das Tanzen an – der Tambour vor oder zwischen den Darstellern des »Blauen Engels«.
Die Szene spielte nach dem Antritt der Regierung Papen; sie hieß: »Tag der Skagerrakschlacht, Marinewache für das Präsidentenpalais zieht durch das Brandenburger Tor.«
Ich habe in meinem Leben viele Paraden gesehen, in der Wirklichkeit und im Film; ich weiß, was es mit dem preußischen Paradeschritt auf sich hat – wenn wir auf dem Oberwiesenfeld in München gedrillt wurden, hieß es: So gut wie in Berlin müßt ihr ihn hier mindestens machen! Aber nie zuvor, und was mehr sagt, auch niemals hinterher, trotz aller Paraden vor dem Führer und aller Nürnberger Vorbeimärsche, habe ich etwas Ähnliches gesehen wie an diesem Abend. Die Leute warfen die Beine, daß die Stiefelspitzen über die Nasenspitzen hinauszuschwingen schienen, und es war wie ein einziger Schwung, wie ein einziges Bein, und es war in der Haltung all dieser Körper, nein: dieses einen Körpers eine so krampfhafte Anspannung, daß die Bewegung zu erstarren schien, wie die Gesichter schon erstarrt waren, daß die ganze [28]Truppe ebensosehr den Eindruck der Leblosigkeit wie der äußersten Belebtheit machte. Doch ich hatte nicht Zeit, genauer: ich hatte keinen freien Seelenraum in mir, das Rätsel dieser Truppe zu lösen, denn sie bildete nur den Hintergrund für die eine Gestalt, von der sie, von der ich beherrscht wurde, für den Tambour.
Der Voranmarschierende hatte mit weit abgespreizten Fingern die Linke in die Hüfte gepreßt, vielmehr er hatte den Körper gleichgewichtsuchend in die stützende Linke gebogen, während der rechte Arm mit dem Tambourstab hoch in die Luft stieß und die Stiefelspitze des geschwungenen Beines dem Stab nachzulangen schien. So schwebte der Mann schräg im Leeren, ein Monument ohne Sockel, geheimnisvoll aufrecht gehalten durch einen vom Fuß bis zum Haupt, in Fingern und Füßen wirkenden Krampf. Was er da vorführte, war kein bloßes Exerzieren, es war ein archaischer Tanz so gut wie ein Parademarsch, der Mann war Fakir und Grenadier in einem. Annähernd ähnliche Angespanntheit und krampfverzerrte Verrenktheit gab es in expressionistischen Bildwerken jener Jahre zu sehen, in expressionistischen Dichtungen der Zeit zu hören, aber im Leben selber, im nüchternen Leben der nüchternsten Stadt, wirkte sie mit der Gewalt einer absoluten Neuheit. Und es ging eine Ansteckung von ihr aus. Brüllende Menschen drängten sich bis dicht an die Truppe, die wild ausgestreckten Arme schienen hineingreifen zu wollen, die aufgerissenen Augen eines jungen Menschen in der vordersten Reihe trugen den Ausdruck religiöser Ekstase. – – –
Der Tambour war meine erste erschütternde Begegnung mit dem Nationalsozialismus, der mir bis dahin trotz seines Umsichgreifens für eine nichtige und vorübergehende Verirrung unmündiger Unzufriedener gegolten hatte. Hier sah ich zum erstenmal Fanatismus in seiner spezifisch nationalsozialistischen Form; aus dieser stummen Gestalt schlug mir zum erstenmal die Sprache des Dritten Reichs entgegen.
[29]III Grundeigenschaft: Armut
Die LTI ist bettelarm. Ihre Armut ist eine grundsätzliche; es ist, als habe sie ein Armutsgelübde abgelegt.
»Mein Kampf«, die Bibel des Nationalsozialismus, begann 1925 zu erscheinen, und damit war seine Sprache in allen Grundzügen buchstäblich fixiert. Durch die »Machtübernahme« der Partei wurde sie 1933 aus einer Gruppen- zu einer Volkssprache, d. h. sie bemächtigte sich aller öffentlichen und privaten Lebensgebiete: der Politik, der Rechtsprechung, der Wirtschaft, der Kunst, der Wissenschaft, der Schule, des Sportes, der Familie, der Kindergärten und der Kinderstuben. (Eine Gruppensprache wird immer nur diejenigen Gebiete umfassen, für die der Zusammenhang der Gruppe gilt, und nicht die Ganzheit des Lebens.) Natürlich bemächtigte die LTI sich auch, und sogar mit besonderer Energie, des Heeres; aber zwischen Heeressprache und LTI liegt eine Wechselwirkung vor, genauer: erst hat die Heeressprache auf die LTI gewirkt, und dann ist die Heeressprache von der LTI korrumpiert worden. Deshalb erwähne ich diese Ausstrahlung besonders.
Bis in das Jahr 1945 hinein, fast bis zum letzten Tag – das »Reich« erschien noch, als Deutschland schon ein Trümmerhaufen und Berlin umklammert war – wurde eine Unmenge Literatur jeder Art gedruckt. Flugblätter, Zeitungen, Zeitschriften, Schulbücher, wissenschaftliche und schöngeistige Werke.
In all dieser Dauer und Ausbreitung blieb die LTI arm und eintönig, und man nehme das »eintönig« genau so buchstäblich wie vorhin das »fixiert«. Ich habe, wie sich mir gerade die Möglichkeit des Lesens ergab – wiederholt verglich ich meine Lektüre einer Fahrt im Freiballon, der sich irgendeinem Winde anvertrauen und auf eigentliche Steuerung verzichten muß –, bald den »Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts« und bald ein »Taschenjahrbuch für den Einzelhandelskaufmann« studiert, jetzt eine juristische und jetzt eine pharmazeutische Zeitschrift durchstöbert, ich habe Romane [30]und Gedichte gelesen, die in diesen Jahren erscheinen durften, ich habe beim Straßenkehren und im Maschinensaal die Arbeiter sprechen hören: es war immer, gedruckt und gesprochen, bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe Klischee und dieselbe Tonart. Und sogar bei denen, die die schlimmst verfolgten Opfer und mit Notwendigkeit die Todfeinde des Nationalsozialismus waren, sogar bei den Juden herrschte überall, in ihren Gesprächen und Briefen, auch in ihren Büchern, solange sie noch publizieren durften, ebenso allmächtig wie armselig, und gerade durch ihre Armut allmächtig, die LTI.
Drei Epochen deutscher Geschichte habe ich durchlebt, die Wilhelminische, die der Weimarer Republik und die Hitlerzeit.
Die Republik gab Wort und Schrift geradezu selbstmörderisch frei; die Nationalsozialisten spotteten offen, sie nähmen nur die von der Verfassung gewährten Rechte für sich in Anspruch, wenn sie in ihren Büchern und Zeitungen den Staat in all seinen Einrichtungen und leitenden Gedanken mit allen Mitteln der Satire und der eifernden Predigt zügellos angriffen. Auf den Gebieten der Kunst und der Wissenschaft, der Ästhetik und der Philosophie gab es keinerlei Beschränkung. Niemand war an ein bestimmtes Dogma des Sittlichen oder des Schönen gebunden, jeder konnte frei wählen. Man rühmte diese vieltönige geistige Freiheit gern als einen ungemeinen und entscheidenden Fortschritt der kaiserlichen Epoche gegenüber.
Aber war die Wilhelminische Ära wirklich soviel unfreier gewesen?
Bei meinen Studien zur französischen Aufklärungszeit ist mir oft eine entschiedene Verwandtschaft zwischen den letzten Jahrzehnten des ancien régime und der Epoche Wilhelms II. aufgefallen.
Gewiß,