LTI. Victor Klemperer
ihn gegebenen Ort; und sicher würden es seine Leute einmal gut bei ihm haben.
Wir waren dann des öftern mit Georg M. zusammen und fanden das Urteil seiner Tante durchaus zutreffend.
Ja, er legte noch eine harmlose und selbstverständliche Grundanständigkeit an den Tag, als es um ihn herum schon nicht mehr so grundanständig zuging. Von seiner Stettiner Garnison aus, wo er auf die Beförderung zum Leutnant wartete, besuchte er uns mehrmals in Heringsdorf, obwohl damals die Ideen des Nationalsozialismus schon stark um sich griffen und vorsichtige Akademiker und Offiziere es bereits vermieden, in linksgerichteten, und nun gar jüdischen Kreisen zu verkehren.
Bald danach wurde M. als Leutnant in ein Königsberger Regiment versetzt, und wir hörten jahrelang nichts mehr von ihm. Nur einmal erzählte seine Tante, er werde jetzt zum Flieger ausgebildet und fühle sich als Sportler glücklich. – –
Im ersten Jahr des Hitlerrégimes – ich war noch im Amt und suchte mir noch alle nazistische Lektüre fernzuhalten – fiel mir ein 1929 erschienenes Erstlingswerk in die Hand, Max René [36]Hesses »Partenau«. Ich weiß nicht, ob es im Titel selber oder nur auf dem Waschzettel »Der Roman der Reichswehr« hieß; jedenfalls prägte sich mir die generelle Bezeichnung ein. Künstlerisch war es ein schwaches Buch: Novelle im noch unbewältigten Romanrahmen, zuviel schattenhaft bleibende Leute neben den zwei Hauptgestalten, zuviel ausgesponnene strategische Pläne, die nur den Fachmann, den angehenden Generalstäbler interessieren, eine unausbalancierte Leistung.
Aber der Inhalt, der nun doch die Reichswehr charakterisieren sollte, frappierte mich sofort und ist später wieder und wieder in meinem Gedächtnis aufgetaucht. Die Freundschaft des Oberleutnants Partenau und des Junkers Kiebold. Der Oberleutnant ist ein militärisches Genie, ein verbohrter Patriot und ein Homosexueller. Der Junker möchte nur sein Jünger sein, aber nicht sein Geliebter, und der Oberleutnant erschießt sich. Er ist durchaus als tragische Gestalt gedacht: die Sexualverirrung wird einigermaßen ins Heroische eigentlicher Männerfreundschaft glorifiziert, und der unbefriedigte Patriotismus soll wohl an Heinrich von Kleist erinnern. Das Ganze ist im expressionistischen, bisweilen pretiös geheimnisvollen Stil der Kriegs- und ersten Weimarer Jahre geschrieben, etwa in Fritz von Unruhs Sprache. Aber Unruh und die deutschen Expressionisten jener Zeit waren Friedensfreunde, waren humanitär und bei aller Heimatliebe weltbürgerlich gesinnt. Partenau dagegen ist erfüllt von Revanchegedanken, und seine Pläne sind keineswegs bloße Hirngespinste; er spricht von schon vorhandenen »unterirdischen Provinzen«, von dem unterirdischen Bau »organisierter Zellen«. Was noch fehle, sei einzig ein überragender Führer. »Nur ein Mann, mehr als ein Kriegsmann und Bauherr, vermöchte ihre geheime schlafende Kraft zu einem gewaltigen und geschmeidigen Werkzeug lebendig zu machen.« Findet sich dieses Führergenie, dann wird es Raum schaffen für die Deutschen. Fünfunddreißig Millionen Tschechen und andere nichtgermanische Völker wird der Führer nach Sibirien verpflanzen, und ihr jetziger europäischer Raum wird dem deutschen Volke zugute kommen. Das hat ein Anrecht darauf durch [37]seine menschliche Überlegenheit, wenn auch sein Blut seit zweitausend Jahren »mit Christentum durchseucht ist« …
Der Junker Kiebold ist von den Ideen seines Oberleutnants enthusiasmiert. »Für Partenaus Träume und Gedanken würde ich morgen schon sterben«, erklärt er; und zu Partenau selbst sagt er später: »Du warst der erste Mensch, den ich ruhig fragen konnte, was eigentlich Gewissen, Reue, Moral neben Volk und Land bedeuten, worüber wir dann gemeinschaftlich in tiefstem Unverständnis den Kopf geschüttelt haben.«
Wie gesagt: schon 1929 war das erschienen. Welch eine Vorwegnahme der Sprache, der Gesinnungen des Dritten Reichs! Damals, als ich mir die entscheidenden Sätze im Tagebuch notierte, konnte ich es nur ahnen. Und daß sich diese Gesinnung einmal in Taten umsetzen, daß »Gewissen, Reue, Moral« eines ganzen Heeres, eines ganzen Volkes wirklich einmal ausgeschaltet werden könnten, hielt ich damals noch für unmöglich. Das Ganze schien mir die wilde Phantasie eines aus dem Gleichgewicht gebrachten Einzelnen. Und so mußte es wohl auch allgemein aufgefaßt worden sein; denn sonst wäre es unbegreiflich, daß eine so hetzerische Schrift unter der Republik veröffentlicht werden konnte …
Ich gab das Buch unserer Sowjetfreundin zu lesen; sie war gerade von einem Ferienaufenthalt im ländlichen Elternhause ihres Neffen zurückgekehrt. Nach ein paar Tagen brachte sie es ganz unverwundert zurück: das sei ihr alles längst geläufig, Stil wie Inhalt; der Autor müsse aufs genaueste beobachtet haben. »Georg, der ganz harmlose, ganz unliterarische Junge, schreibt längst in gleicher Sprache, spielt längst mit gleichen Gedanken.«
Wie sich harmlos mittlere Naturen ihrer Umgebung angleichen! Uns fiel nachträglich ein, wie der gutmütige Junge schon in Heringsdorf vom »frischen, fröhlichen Krieg« gesprochen hatte. Wir hielten das damals noch für die gedankenlose Übernahme eines Klischees. Aber Klischees bekommen eben Gewalt über uns. »Sprache, die für dich dichtet und denkt …«
Wir hörten danach noch mehrmals die Tante über die Entwicklung des Neffen berichten. Er war als Fliegeroffizier ein [38]großer Herr geworden. Verschwenderisch und skrupellos, von seinem Herren- und Heldenrecht durchdrungen. Er trieb Luxus mit Stiefeln und Kleidung und Weinen. Er hatte Aufträge für ein Kasino zu vergeben, dabei fiel manches für ihn ab, was man in tieferen Regionen Schmiergelder nannte. »Wir haben ein Recht auf gutes Leben«, schrieb er, »wir setzen ja das eigene Leben täglich ein.«
Nicht nur das eigene: der gutmütige Junge spielte nun auch mit dem Leben seiner Leute. Er spielte so gewissenlos damit, daß es selbst seinen Lehrern und Vorbildern zuviel wurde. Als Chef eines Geschwaders ließ er bei ungünstigstem Wetter einen so strapaziösen und gefährlichen Übungsflug durchführen, daß ihn drei Leute mit ihrem Leben bezahlen mußten. Da der Unglücksfall auch zwei kostbare Flugzeuge vernichtete, endete die Sache mit einem Prozeß gegen den nunmehrigen Hauptmann. Das Urteil lautete auf Entfernung aus dem Heer. – Kurz danach brach der Krieg aus; ich weiß nicht, was aus M. geworden ist, man wird ihn wohl zur Truppe zurückgeholt haben. –
Der »Partenau« wird in der künftigen Dichtungsgeschichte kaum genannt werden; eine um so größere Rolle sollte ihm in der Geistesgeschichte zufallen. In Ranküne und Ehrgeiz enttäuschter Landsknechte, zu denen eine jüngere Generation aufblickte wie zu tragischen Helden, steckt eine tiefe Pfahlwurzel der LTI.
Und zwar sind es spezifisch deutsche Landsknechte. Es gab vor dem ersten Weltkrieg einen verbreiteten völkerpsychologischen Witz: Angehörigen verschiedener Nationen wird zu freier Behandlung das Thema »Der Elefant« gestellt. Der Amerikaner schreibt einen Aufsatz: »Wie ich meinen tausendsten Elefanten schoß«, der Deutsche berichtet »Von der Verwendung der Elefanten im Zweiten Punischen Kriege«. In der LTI gibt es sehr viele Amerikanismen und andere fremdländische Bestandteile, so viele, daß man gelegentlich fast den deutschen Kern übersehen könnte. Aber er ist vorhanden, fürchterlich entscheidend vorhanden – niemand kann entschuldigend sagen, daß es sich nur um eine von außen her angeflogene Infektion gehandelt habe. Der Landsknecht Partenau, kein [39]Phantasiegeschöpf, sondern das klassisch typisierende Porträt vieler Zeit- und Berufsgenossen, ist ein gelehrter Mann, auch nicht nur zu Hause in den Werken des deutschen Generalstabs: er hat auch seinen Chamberlain gelesen und seinen Nietzsche und Burkhardts »Renaissance« usw. usw.
[40]V Aus dem Tagebuch des ersten Jahres
Ein paar Seiten, wie das so allmählich, aber unaufhörlich auf mich eindringt. Bisher ist die Politik, ist die vita publica zumeist außerhalb des Tagebuchs geblieben. Seit ich die Dresdener Professur innehabe, habe ich mich manchmal gewarnt: du hast jetzt deine Aufgabe gefunden, du gehörst jetzt deiner Wissenschaft – laß dich nicht ablenken, konzentriere dich! Und nun:
21. März 1933. Heute findet der »Staatsakt«