Gewalt durch Gruppen. Detlef Averdiek-Gröner

Gewalt durch Gruppen - Detlef Averdiek-Gröner


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Umgangs mit ihm.

      Hierbei wird die Silvesternacht 2015/2016 nur kursorisch behandelt, da der Schwerpunkt des Aufsatzes darauf liegt, die Nutzung der Erkenntnisse aus dieser „ersten“ Silvesternacht in der polizeilichen Praxis in den beiden Folgejahren zu beschreiben. Die Ereignisse während und nach der ersten Silvesternacht haben diese Republik verändert und sind aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert worden. Im Rahmen dieser Diskussionen ging es aber kaum um die Entstehung von Gewalt in Gruppen; vielmehr hatten die großen Migrationsströme insbesondere aus Nordafrika und dem Nahen Osten die öffentliche Meinung erhitzt und die Asyldebatte geprägt.

      Insbesondere ist der Blickwinkel dieses Aufsatzes darauf gerichtet, wie gruppendynamische Prozesse, wie sie Silvester 2015/2016 am und im Kölner Hauptbahnhof stattfanden, verhindert werden können. Relevant ist diese Fragestellung deshalb, weil die Entstehung und Entfaltung dieser Prozesse nicht zuletzt dem Umstand geschuldet war, dass die Polizei keine Eingriffsmöglichkeiten hatte und die Anzahl der eingesetzten Kräfte und die Anzahl der Störer in einem vorher nicht zu erahnenden Missverhältnis standen. Die polizeiliche Prävention solcher gruppendynamischer Prozesse in der Zukunft ist daher von erheblichem Interesse und eine detailliertere Schilderung davon, wie das Polizeipräsidium Köln in den Folgejahren erfolgreich eine solche Entwicklung mit unterschiedlichen Konzepten verhindern konnte, bietet sich als Fallstudie an.

       1.1Die Kölner Silvesternacht 2015/2016

      Wenige Ereignisse haben in den letzten Jahren einen so starken kriminalpolitischen Einfluss gehabt wie die Kölner Silvesternacht 2015/2016. Die in dieser Form in Deutschland erstmalig aufgetretenen massenhaften und gemeinschaftlich begangenen Eigentumsdelikte durch zahlreiche Männergruppen sind insbesondere deshalb in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung geraten, weil sie zum Teil tateinheitlich mit sexuellen Übergriffen begangen wurden. Auch wenn die weithin publizierten zahlreichen Vergewaltigungen nicht der realen Kriminalitätslage entsprechen, haben eine offenkundige Schutzlosigkeit und die für die betroffenen Frauen extrem belastenden sexuellen Übergriffe den Blick auf die Themenfelder des sexualstrafrechtlichen Schutzes von Frauen und des Umgangs mit Flüchtlingen aus dem nahöstlichen und nordafrikanischen Raum, insbesondere den sogenannten „Maghreb-Staaten“, gelenkt.

      Der Kölner Polizei wurde vorgeworfen, dass sie in der Nacht, aber auch schon bei der Lageeinschätzung und Einsatzplanung im Vorfeld, versagt habe. Gestützt wurde die Einschätzung des Versagens durch die mindestens als ungeschickt zu bezeichnende Pressearbeit der Kölner Polizei in diesem Zusammenhang.

      Neben den zahlreichen Medienberichten und internen Nachbereitungsberichten hat insbesondere der Landtag NRW die Vorfälle in einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aufgearbeitet, dessen 1.352 Seiten umfassender Abschlussbericht öffentlich zugänglich ist.1

       1.1.1Ereignisse in der Nacht 2

      Um den Herausforderungen gerecht zu werden, die Silvester in der Kölner Innenstadt an die Wahrnehmung polizeilicher und ordnungsrechtlicher Aufgaben stellt, wurde seit Jahren eine sogenannte Besondere Aufbauorganisation (BAO) genutzt, da es auch in den Jahren vor 2015 immer wieder zu anlasstypischen Delikten kam. Hier sind insbesondere die, an jedem Wochenende mehr oder weniger intensiv stattfindenden, alkoholtypischen Gewaltdelikte zu nennen, aber auch das seit einigen Jahren bekannte Phänomen, mit Böllern und Raketen auf Menschengruppen zu zielen. Punktuell war es auch immer zu Eigentumsdelikten gekommen und auch an Silvester wurden – grundsätzlich immer zu erwartende – Sexualdelikte begangen.

      Aufgrund der Erfahrung der Vorjahre, dass sich die Abwanderung von Menschenmengen nach Mitternacht immer weiter hinauszögert, wurden ca. 50 Beamte mehr als im Vorjahr in den Einsatz genommen. So standen letztlich ungefähr 170 Polizeibeamte zur Verfügung. Daneben hatte auch das Ordnungsamt wieder eigene Planungen durchgeführt. Die für den inneren Bahnhofsbereich zuständige Bundespolizei hielt dort ebenfalls zusätzliches Personal im Dienst bereit. Die Einsatzführung der Kölner Polizei lag in den Händen eines erfahrenen Dienstgruppenleiters des gehobenen Dienstes, der auch im Vorjahr schon die BAO geleitet hatte.

      Der Einsatz verlief zunächst wie geplant, allerdings stellten die Einsatzkräfte eine nach ihrem Eindruck ungewöhnlich hohe Anzahl an arabisch und nordafrikanisch aussehenden kleinen Gruppen junger Männer fest. Diese fielen durch offensichtlichen Alkohol- und Drogenkonsum und wachsende Aggressivität auf. Insbesondere bewarfen sich die Gruppen ohne Rücksicht auf Unbeteiligte mit Böllern.

      Aufgrund dieser nicht erwarteten Ansammlung von aggressiven Männern auf dem Bahnhofsvorplatz und der Domtreppe stellte der Einsatzführer seine Konzeption um. Er verlagerte die Mehrzahl der ihm zur Verfügung stehenden Einsatzkräfte an diesen Brennpunkt. Hier war zunächst der Blickwinkel nicht auf Eigentums- oder Sexualdelikte gerichtet, sondern auf Gefahrenlagen wie Panik oder Treppenstürze. Auch bei den Einsatzmaßnahmen zeigte sich eine hohe Aggressivität vieler Störer. Vereinzelt wurden Einsatzkräfte bereits von belästigten Frauen aufgesucht, diese wurden zur Anzeigenerstattung an die nahe gelegenen Wachen der Landes- und Bundespolizei verwiesen. Dass dort schon ein Anzeigenstau entstanden war, der dazu führte, dass in den polizeilichen Systemen am nächsten Morgen erst wenige Anzeigen aufgenommen waren, konnte zunächst nicht erahnt werden. Dies war aber u. a. eine Ursache für eine viel diskutierte Pressemeldung am Morgen des Neujahrstages, die auf dieser Datenlage basierte.

      Neben der Presseveröffentlichung war noch intensiv diskutiert worden, warum das Polizeipräsidium Köln nicht schon nach 22 Uhr die sogenannte Landeseinsatzbereitschaft der Bereitschaftspolizei angefordert hatte. Bei der Entscheidung über eine solche Anforderung in der Einsatzsituation war der Einsatzleiter davon ausgegangen, dass sich nach Mitternacht die Situation wieder entspannt. Diese Prognose hat sich auch als zutreffend erwiesen. Zwischen Anforderung und Eintreffen der Kräfte liegen aber ca. drei Stunden. Es war zu diesem Zeitpunkt also schon erkennbar, dass eine Anforderung keinen positiven Einfluss auf den Einsatzverlauf mehr gehabt hätte.

      Dass dies der Kölner Polizei bis heute als gravierender Fehler vorgehalten wird, ist m. E. aus einsatztaktischer Sicht nicht nachvollziehbar.

      Das Ausmaß straftatbestandlicher Aktivitäten wurde erst in den Folgetagen sichtbar, da in der Silvesternacht kaum Anzeigen aufnehmende Beamtinnen oder Beamte zur Verfügung standen und daher nur wenige Anzeigen aufgenommen wurden. Dieses Versäumnis hatte die Kölner Polizei zu verantworten. Die Geschädigten wollten nach dem Erlebten in der Nacht verständlicherweise nicht mit einer Anzeigenerstattung warten, bis sie bei einer Wache vorstellig werden konnten.

       1.1.2Polizeiliche Bearbeitung im Rahmen der EG Neujahr

      Im Zuge der Vorfälle der ersten Kölner Silvesternacht kam es nach Stand Dezember 2016 im Bereich Hauptbahnhof und Bahnhofsvorplatz zu 1.624 erfassten Straftaten. In über 500 Fällen war ein Sexualstraftatbestand angezeigt worden, davon in 193 Fällen im Zusammenhang mit Eigentumsdelikten.

      Um diese erhebliche Straftatenanzahl sachgerecht aufarbeiten zu können, wurde unter Leitung des damaligen Kriminalinspektionsleiters 4 eine Ermittlungsgruppe „EG Neujahr“ eingerichtet. Deren Erkenntnisse wurden in einer 2017 in der Zeitschrift „Der Kriminalist“ beginnenden Aufsatzserie3 präsentiert und diskutiert, auf die hier ausdrücklich als Quelle Bezug genommen wird.

      Diese bis zu 100 Beamte große Ermittlungsgruppe hatte von Anfang an mit erheblichen Ermittlungshemmnissen zu kämpfen. Zum einen war es in der Silvesternacht zu keinen Personalienfeststellungen oder Festnahmen gekommen, sodass es sich um unbekannte Täter handelte. Zudem konnten die Opfer nur in wenigen Fällen sagen, wer aus der Gruppe welche Tathandlung vollzogen hatte. Selbst bei Vorlage von Lichtbildmaterial kam es nur in den seltensten Fällen zu einem


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