Gewalt durch Gruppen. Detlef Averdiek-Gröner

Gewalt durch Gruppen - Detlef Averdiek-Gröner


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      Zu den heutigen Standardmaßnahmen gehört auch eine Recherche in sozialen Netzwerken.

      Die Recherchen im Rahmen der BAO Silvester ergaben keine Erkenntnisse in Bezug auf genutzte Messenger-Dienste oder Internet-Accounts. In sozialen Medien konnten keine öffentlichen Einladungen in Chat-Gruppen (Facebook o. Ä.) festgestellt werden.

      Recherchen bei Facebook und Twitter ergaben auch nach dem 31.12.2016 keine Hinweise auf gezielte Verabredungen in sozialen Netzwerken in der Zielgruppe. In Facebook-Gruppen wurde rege über die allgemeine Polizeiarbeit am Silvesterabend und den Begriff „NAFRI“ diskutiert. Jedoch war laut den Einträgen keiner der Gruppenmitglieder am Silvesterabend persönlich in Köln im Bereich Dom/HBF anwesend, sodass sich hier keine Rückschlüsse auf das Verhalten der Zielgruppe und die Anzahl der reisenden Personen ziehen ließen.

      In einem Forum der Website www.maroczone.de, das hauptsächlich von Deutschen mit marokkanischem Migrationshintergrund genutzt wird, sind in der Nachbetrachtung der Silvesterereignisse zwei Gruppen mit Silvesterbezug festgestellt worden:

      •NAFRIS vs. NAZIS

      •„Es geht um den Ruf unseres Landes“ – Marokkaner über die Silvesternacht

      Somit konnten insgesamt Hinweise zu gezielten öffentlichen Verabredungen in sozialen Netzwerken hinsichtlich der Ereignisse an Silvester 2016 nicht festgestellt werden.

      In die BAO Silvester waren Mitarbeiter der Landesinitiative „klarkommen!“ als Sprach- und Kulturmittler eingebunden. Diese stellten im Rahmen einer Nachbesprechung am 5.1.2017 ihre Eindrücke dar. So schilderte ein Streetworker, dass er im Rahmen der Kontrollmaßnahmen am HBF Köln Kräfte der Bereitschaftspolizei unterstützt habe und Gespräche mit Syrern, Irakern, Afghanen und Nordafrikanern übersetzt und z. B. Platzverweisungen erklärt habe. In seiner Wahrnehmung seien darunter Gruppierungen gewesen, die sehr stark alkoholisiert waren bzw. unter dem Einfluss von Medikamenten/Drogen gestanden hätten.

      Insgesamt wurde von den Sprach- und Kulturmittlern zum einen die hohe Aggressivität, die von den Gruppen ausging, geschildert. Zum anderen gaben diese an, dass es sich nach ihrer sprachlichen Einschätzung insbesondere um Menschen aus dem nordafrikanischen Raum gehandelt habe. Die Erfassung der Nationalität im Asylverfahren bei nicht mehr vorhandenen Ausweisdokumenten könnte zu der Differenz in Bezug auf die oben dargestellten erfassten Nationalitäten geführt haben.

       1.2.2.3Befragungen im Rahmen der AG Silvester

      Um das für die Polizei neue Phänomen der Teilnahme einer Vielzahl von Gruppen junger Männer nordafrikanischer oder nahöstlicher Herkunft an den Silvesterfeierlichkeiten zu erforschen, erschien es erforderlich, auch andere Möglichkeiten der Analyse zu nutzen.

      Neben der Aufbereitung der polizeilichen Daten und den Erkenntnissen in den anderen Arbeitspaketen wurden zwei Befragungen im Rahmen der AG Silvester durchgeführt. Zum einen wurde Kontakt mit wissenschaftlichen Experten aufgenommen, zum anderen wurde ein Teil der durch Erhebung der Adressdaten im Rahmen des Einsatzes festgestellten Besucher des Silvestereinsatzes 2016 mit einem Fragebogen befragt.

      Hierdurch konnten sowohl neue Erkenntnisse gewonnen als auch vorhandene Einschätzungen und Vermutungen verifiziert werden.

       1.2.2.3.1Expertenbefragung

      Zunächst hat die AG Silvester mit folgenden Institutionen Kontakt aufgenommen, die aus Sicht der Arbeitsgruppe eine hohe Expertise entweder in dem infrage kommenden Kulturkreis oder in der grundsätzlichen Frage zur Entstehung von Gewalt im öffentlichen Raum haben:

      •Institut für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld (IKG)

      •Lehrstuhl für Kriminologie der Ruhr-Universität Bochum

      •Institut für Integrations- und Migrationsforschung der HU Berlin

      •Institut für Islamische Theologie der Universität Osnabrück

      •Verein „180 Grad Wende“

      Die Experten wurden in strukturierten Interviews zumeist telefonisch befragt. Fragen und Zusammenfassungen der Antworten werden im Folgenden dargestellt:

      •Ist Köln ein Ort mit besonderer Anziehungskraft für die genannten Gruppen?

      Köln ist als multikulturelle Partystadt mit einer „open society“ weltweit bekannt. Köln wird als bedeutende Metropole in Westeuropa wahrgenommen und ist verkehrsgünstig gelegen. Die Zielgruppe verfügt über sehr geringe Geldmittel und hat nur geringen Zugang zu Kraftfahrzeugen. Daher erfolgt die Anreise in sehr vielen Fällen mit der Deutschen Bahn.

      Bei den anreisenden Gruppen handelt es sich insbesondere um junge Männer, die Spaß und eine Partyatmosphäre suchen und Frauen kennenlernen wollen. Köln ist daher nicht nur zu Silvester, sondern auch im übrigen Jahr durchaus Anlaufpunkt für die häufig im ländlichen Raum in Flüchtlingsunterkünften untergebrachten jungen Männer. Sie wollen etwas erleben und sicherlich auch andere Menschen aus ihrer Peer Group treffen.

      •Welche kulturellen Bedeutungen haben die gemeinschaftlichen Silvesterfeiern?

      Silvester hat im arabischen oder nordafrikanischen Raum keine besondere Bedeutung. Allerdings ist es einer der wenigen Anlässe, welcher sowohl in der westlichen als auch in der östlichen Welt gefeiert wird. Während Karneval für die Peer Group unattraktiv ist, bietet Silvester den Vorteil, dass auch ohne finanzielle Mittel (Eintrittsgelder, Mindestverzehr in Clubs etc.) gefeiert werden kann. Hier wollen die Gruppen am „social life“ teilhaben.

      •Finden im Vorfeld Absprachen statt oder wird sogar zur Teilnahme aufgerufen (z. B. über soziale Medien) oder sind es eher zufällige spontane Entscheidungen zu Anreise?

      Hier gab es durchaus unterschiedliche Auffassungen zur Nutzung von sozialen Medien in Bezug auf die Vernetzung. Während einerseits von einer starken Vernetzung und Nutzung von Facebook ausgegangen wurde, sprachen sich andere eher für eine persönliche Vernetzung in den Unterkünften und durch persönliche Kontakte (auch Telefon und WhatsApp) aus.

      Einig waren sich die Experten darüber, dass es keine zentrale Organisation oder Steuerung der Teilnehmer, sondern viele einzelne Verabredungen gab, welche spontan in kleinen Gruppen getroffen wurden.

      •Warum zeigen sich die Teilnehmer zum Teil so aggressiv? Welche Rolle spielen Alkohol und Drogen?

      Die Einsatzkräfte schilderten vor Ort eine deutlich aggressive Stimmung, die von den Gruppen ausgegangen sei. Dieser Eindruck mag sich zum Teil aus der expressiven nonverbalen Ausdrucksweise der Gruppen erklären. Die tatsächlich vorhandene Aggressivität der Teilnehmer lässt sich nach den Ausführungen der Experten auf zwei Faktoren zurückführen:

      Zum einen ist dies der Konsum von Alkohol und (vermutlich) weiteren Drogen. Alkohol ist in vielen islamischen Ländern nur beschränkt verfügbar. Es ist unüblich, im öffentlichen Raum Alkohol zu trinken. Im Deutschland gibt es eine hohe und preisgünstige Verfügbarkeit, sodass in der Gruppe Alkohol leicht konsumiert werden kann. Es fehlt aber der sozial gelernte Umgang mit Alkohol, sodass hohe Mengen in kurzer Zeit konsumiert werden, an die die jungen Männer nicht gewöhnt sind. Hierdurch kommt es zu den typischen alkoholbedingten Ausfallerscheinungen und zur gruppendynamischen Verstärkung von negativem Verhalten, wie es auch anlässlich von Fußball- oder Karnevalseinsätzen bekannt ist.

      Zum anderen sind es situative und gruppenpsychologische Aspekte, die auch ohne den verstärkenden Alkohol zu einer aggressiven Stimmung führen konnten. Die Gruppen wurden nach Bewertung der Experten bereits auf der Anreise durch die Bundespolizei einem hohen Kontrolldruck unterworfen. Dann wurden sie nach der Ankunft am Hauptbahnhof auf dem Bahnhofsvorplatz einer Kontrolle unterzogen. Hier kam es bei den Gruppen zu der Wahrnehmung, dass die meisten am Bahnhof ankommenden Besucher über die Domtreppe in Richtung Innenstadt gehen durften.


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