Ein MORDs-Team - Band 1: Der lautlose Schrei. Andreas Suchanek

Ein MORDs-Team - Band 1: Der lautlose Schrei - Andreas Suchanek


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auf und wirbelte ihr Haar umher, brachte die Anhänger ihrer Halsketten zum Klimpern. Olivia trug heute nur ein ärmelloses Shirt, auf ihren Armen entstand eine Gänsehaut.

      Ohne Mason weiter zu beachten, betrat sie den Steg. Dieser selbstverliebte Trottel konnte sie mal kreuzweise. Sie nahm ihre Kamera, richtete sie auf das Meer und schoss weitere Bilder.

      Die Bohlen hinter ihr knarzten. »Du bist Fotografin?«

      Olivia seufzte. »Allein diese Frage!«

      »Was? Was habe ich denn jetzt wieder Falsches gesagt?«

      Als sie sich umwandte, stand er wie ein begossener Pudel vor ihr. Die Augen aufgerissen, die Schultern in die Höhe gezogen.

      »Du weißt wirklich nicht, wer ich bin?«

      »Ähm. Sollte ich?«

      »Der Artikel für die Schülerzeitung vor zwei Jahren. Der Leitartikel, du weißt schon. Ich war die inkompetente Fotografin, die du unbedingt ausgetauscht haben wolltest, weil sie deine sportliche Seite nicht ausreichend einfangen konnte. Erinnert sich unser Supersportler wieder?«

      »Oh.«

      »Ja, oh.«

      Sie fuhr damit fort, die Felswände, das Wasser und die Bohlen des Steges zu fotografieren. Vor allem Letzteres war interessant. Das Spiel zwischen Licht und Schatten, dazu die organisch gewachsene Struktur des verfallenen Holzes. Dass irgendwelche Teenager sich mit Herzchen, Monogrammen und Sprüchen verewigt hatten, kam auch richtig gut. Mit etwas Glück konnte sie eines der Bilder für den Tourismus-Wettbewerb verwenden.

      Die Gazette wird das nicht interessieren. Sei's drum. Der Wettbewerb bringt kein Geld, aber dafür Kontakte.

      »Tut mir leid wegen damals«, sagte Mason kleinlaut.

      Verblüfft schaute Olivia auf. Hatte er sich wirklich gerade entschuldigt? Der arrogante Übersportler musste verdammt tief gefallen sein, um das Wort ‚Entschuldigung‘ in seinen Sprachschatz aufzunehmen.

      »Aber du musst das verstehen«, fuhr er fort. »Die haben gestern Drogen in meinem Spind gefunden. Irgendwer will mich fertigmachen. Und jetzt bist du hier, an meinem Strand und …«

      »Wie bitte?!« Olivia hätte vor Wut beinahe ihre Nikon fallenlassen. »Sag mal, geht‘s noch? Gar nichts muss ich verstehen! Ganz ehrlich, es wundert mich, dass nicht die gesamte Schule dich fertigmachen will. Du bist noch genau so arrogant wie früher. Alles dreht sich nur um Mason Collister.«

      Mit jedem Schritt, den sie auf ihn zu machte, wich er einen zurück.

      »Das hier ist nicht dein Strand! Und anstatt in Selbstmitleid zu baden, könntest du ja auch einfach versuchen, den Verantwortlichen zu finden, hm? Nur so ein Gedanke. Ach was, Daddy wird das bestimmt für dich erledigen. Dann kauft er dir auch gleich ein neues Skateboard, und schon geht es dem kleinen Mason wieder gut.«

      Sie versuchte, nicht an ihre Mutter zu denken, deren Alltag darin bestand, die Toiletten im Stadtarchiv zu schrubben. Oder an ihren Dad, der ständig Rückenschmerzen hatte, weil er täglich zwölf Stunden für einen Hungerlohn arbeitete und am Wochenende einen Zweitjob ausübte. Seit einigen Wochen beklagte er sich außerdem über immer heftiger werdende Magenschmerzen, weigerte sich aber rigoros, einen Arzt aufzusuchen. Er vertrat vehement die Meinung, so ein Quacksalber koste immerhin Geld, das die Familie nicht habe.

      »Ihr reichen Jungs seid doch alle gleich«, sagte sie. »Wartet darauf, dass euch alles von alleine zugeflogen kommt. Und wenn dann mal eine kleine Hürde auftaucht, oje, dann rufen wir schnell Mummy und Daddy, damit die alles in Ordnung bringen. Wach auf, Collister! Du bist nicht mehr der hippe Sportler, den alle Welt vergöttert. Willkommen in der wirklichen Welt.«

      »Ich …« Er strauchelte, stürzte, fiel rücklings in den Sand. Mit weit aufgerissenen Augen sah er zu ihr auf.

      »Es ist ziemlich simpel: Entweder du kämpfst für dich selbst und machst die fertig, die dir ans Bein pinkeln – oder du gehst unter. Viel Glück.«

      Wie er so vor ihr lag, bekam sie Mitleid. Der Ausdruck in seinen Augen … So hatte sie damals auch ausgesehen. Mason Collister schien erst jetzt zu begreifen, dass das entspannte Leben vorbei war. Sie rechnete ihm keine großen Chancen aus. Er hatte nie gelernt zu kämpfen, ganz im Gegenteil.

      Olivia schluckte.

      Dann riss sie sich von dem Anblick einer zerstörten Seele los und stapfte durch den Sand davon.

      *

      Verblüfft starrte Danielle auf ihre Oma, die mitten im Satz die Augen geschlossen hatte und eingeschlafen war. »Gran?«

      Das sieht ihr gar nicht ähnlich.

      In ihrer Hosentasche vibrierte das Smartphone zum hundertsten Mal. Sie nahm es heraus und überprüfte mit einem Blick die Apps. Zwei neue Tweets, fünf Likes bei Facebook und drei neue Follower auf Instagram. Dazwischen eine Nachricht ihrer Mum – ganz altmodisch per SMS – und ein Anruf in Abwesenheit von einer Freundin, die noch nicht wusste, dass sie keine Freundin mehr war. Nichts Wichtiges also.

      Sie schob das Gerät wieder in ihre Hosentasche. Normalerweise schaltete sie es nur an einem Ort der Welt komplett aus – hier in der Seniorenresidenz Zur rüstigen Eiche.

      Für gewöhnlich schlief ihre Gran aber auch nicht ein. Die Mutter ihrer Mutter war gerade mal vierundsiebzig und dazu noch äußerst rüstig. Sonntags stand der Tanztee an, unter der Woche ging sie mit Freunden spazieren, zum Yoga – kaum zu fassen! – und schwamm regelmäßig.

      Danielle stand auf, griff nach einer Decke und legte sie ihrer Gran über die Beine. Lächelnd betrachtete sie das Gesicht der alten Frau, die tiefen Falten, das ergraute Haar, die Grübchen im Mundwinkel. Sie hielt sich jeden Samstag frei, um hierher zu kommen. Gemeinsam plauderten sie ein wenig, aßen ein Stück Kuchen und spielten eine Partie Schach.

      Danielle seufzte.

      Obwohl sie ihrer Mum ständig erklärte, dass Gran gar nicht ins Altenheim musste, hatte ihre Mutter darauf bestanden.

      Dann war der Besuch heute eben nur ein Intermezzo. Sie schrieb schnell ein paar Zeilen auf einen Zettel und klemmte ihn unter die kleine Porzellankatze, die auf dem marmornen Couchtisch stand.

      Ihr Blick fiel auf das Tablettenetui. Die Medikamente, die ihre Gran für den Blutdruck nehmen musste, waren blau. Die Tabletten in dem Etui aber rosa. In der Regel besuchte der örtliche Arzt, Doktor Silverman, jeden Bewohner der Seniorenresidenz an einem Tag in der Woche. Im gemeinsamen Gespräch wurde erörtert, ob die Medikamente halfen und ob eine Umstellung notwendig war. Die Heimleitung sorgte dann dafür, dass die korrekte Dosierung des entsprechenden Medikaments von den Pflegern an die Bewohner ausgegeben wurde. Laut Vertrag musste die Klinikleitung Danielles Eltern informieren, wenn der Arzt eine Änderung an der Medikation vornahm.

      Na, die können was erleben.

      Jedem Bewohner der Zur rüstigen Eiche war ein direkter Ansprechpartner zugeteilt – ein Pfleger, der bei Problemen die Ärzte und die Leitung der Residenz informieren konnte. Laut Heimleitung wurde so jedem ihrer älteren Mitbewohner eine Betreuung rund um die Uhr zuteil.

      Ha, ha.

      Danielle hatte recherchiert. Tatsächlich holten diese Idioten in der Chefetage sich Schulabgänger und zahlten ihnen einen Hungerlohn. Dass die unaufmerksam waren, wunderte sie nicht im Geringsten. So entstanden Fehler. Gerade im Falle älterer Menschen, die auf Hilfe angewiesen waren, konnte das böse Folgen haben.

      Sie nahm das Pillenetui.

      Leise schloss sie die Tür des Appartements hinter sich. Der Boden war mit einem dicken Teppich ausgelegt. – Das scheußliche Blumenmuster darauf tat ihr jeden Samstag aufs Neue in den Augen weh.

      An der Rezeption erfuhr Danielle, dass Pfleger Mischa sich im Park herumtrieb. Sie musste nicht lange suchen. Der schwarzlockige Kerl


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