Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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Geschmack, Aussehen, Textur) nichts anderes als physische Stimuli, die den Organismus auf das Bessere lenken (sollen).

      Unser fiktiver Homo wird solche sensorisch attraktiven Merkmale im täglichen Umgang mit Wasser erkannt und weiche, gequollene Rohstoffe bevorzugt haben. Befand sich der Lagerplatz nicht in unmittelbarer Nähe eines Ufers oder einer Quelle (Brunnen) (Gebr. GRIMM 1935–1984),97 hatte er die Möglichkeit, Wasser (mit Rohhautbeuteln, Tiermägen oder Kalebassen etc.) zu transportieren und in Steinmulden oder anderen Erdhöhlungen kurzzeitig vorzuhalten.98 Ausgehöhlte Baumstämme (Vorläufer der Holztröge und des Einbaums) gab es zu dieser Zeit noch nicht, weil die dafür benötigten Steinäxte und Holzbearbeitungstechniken noch nicht erfunden worden waren. Inzwischen finden sich Holztröge überall auf der Welt, die u. a. als Wasserbehältnisse und Tiertränken verwendet werden.99

       Hintergrundinformationen

      Weichheit und Saftigkeit werden präferiert (MUTH; POLLMER 2010)100 und sind konnotativ positiv besetzt. Diese Sinneseindrücke tragen eine Art Schlüsselbotschaft in sich, die aus der Vielheit der haptischen Eindrücke besonders hervortritt. Mechanorezeptoren der Haut, die Objekteigenschaften erfühlen und unseren Körper 'informieren', liegen im Mundraum und auf der Zungenspitze besonders dicht (1–5 mm Abstand; siehe auch Wikipedia: haptische Wahrnehmung). Weichheit korrespondiert entweder mit gequollenen, elastischen Zellwandbestandteilen und /oder mit einer elastischen Porosität. Saftigkeit signalisiert hohe Flüssigkeitsanteile, mit der auch der Durst gestillt werden kann. In diesen sensorischen Phänomenen liegen ernährungsphysiologische Vorteile, die z. B. die Resorptionsgeschwindigkeit und den Energieverbrauch (ATP-Bedarf) betreffen, da bei gequollener Nahrung weniger Hydrolasentätigkeit anfällt. Für eine optimale Verdauung und Absorption der Nährstoffe wird ein bestimmtes Verhältnis von festen Molekülen und Wasser im Magen-Darm-Trakt benötigt (LOGUE 1995; S. 93 f.), das offenbar aus der Beschaffenheit der Nahrung bereits im Mundraum »abgelesen« werden kann.

      Nur kleinste Bausteine sind resorbierbar. Kompakte Moleküle müssen daher erst hydrolytisch zerlegt werden. Um beispielsweise 1000 Glukoseeinheiten aus einem Stärkemolekül zu zerlegen, werden 999 Moleküle H2O benötigt. Der extrem hohe Wasseranteil von Obst dient in erster Linie der Durststillung; für Hydrolasentätigkeiten (Abbau der Pektinanteile) wird deutlich weniger Hydratationswasser benötigt als bei stärke-, fett- und eiweißreicher Nahrung (LOGUE 1995): „Wir antizipieren einen späteren Bedarf an Wasser und nutzen momentan verfügbares Wasser, um einem Defizit zuvorzukommen“; ein Aspekt des »antizipatorischen Trinkens«; a. a. O., S. 85 ff.

      3.4.2 Wasser entgiftet

      Homo erectus sollte eine entscheidende Erfahrung mit pflanzlichen Rohstoffen machen, die (zufällig) länger im Wasser gelegen hatten: sensorische Missempfindungen oder körperliche Probleme, die sonst nach dem Verzehr dieser Gewächse gelegentlich auftraten, blieben aus (z. B. waren sie nicht mehr bitter, betäubende Effekte oder Schwindel- und Krämpfe traten nicht mehr auf), weil wasserlösliche Gifte (u.a. Amygdalin, Linamarin, Blausäure)101 – deren Toxizität vor allem dosisabhängig ist – größtenteils ins Wasser übergetreten waren. Bevor jedoch dieser Auslaugeffekt erkannt war und das Einlegen bestimmter Knollen und Pflanzen in Wasser zu den regelmäßigen 'Vorarbeiten' gehören konnte, waren unzählige Erfahrungen zur Dauer (wie lange muss der Rohstoff im Wasser verbleiben?) und zum Zustand (Bearbeitungsgrad: Ab welcher Größe ist die Entgiftung erfolgreich?) vorausgegangen. Dass Homo schließlich diese Zusammenhänge überhaupt erkennen konnte, setzte kognitive Fähigkeiten voraus. Nicht nur, dass er wiederkehrende sensorische Eindrücke für längere Zeit erinnern und deren körperliche »Nachwirkungen« mit Nahrungsmerkmalen in Verbindung bringen können musste – er musste auch das Ausbleiben dieser negativen Körperempfinden als Folge der Wasserwirkung erkennen. Eine grundlegende Einsicht, die die Machbarkeit von Verbesserungen durch handwerkliches Tun ins Bewusstsein treten ließ – die kognitive Basis für alle nachfolgenden Entwicklungsschritte im Umgang mit Rohstoffen.

      Auch intensives Kochen hat eine entgiftende und entkeimende Wirkung (wozu allerdings hitzestabile Gefäße notwendig waren, über die Homo sapiens etwa seit 20 000 Jahren verfügte – vermutlich aber schon früher – was jedoch nicht belegt ist). Spätestens mit der Besiedelung Europas und der Sesshaftwerdung wird Homo diese (heute weltweit üblichen) Entgiftungspraktiken gekannt und eingesetzt haben (siehe auch Wikipedia: Maniok).102,103 Wer diese nicht kannte oder missachtete und regional übliche Knollen oder Pflanzenfrüchte ohne vorherige (ausreichende) Wasserbehandlung trotzdem verzehrte, brachte sich in Lebensgefahr (dazu: Hintergrundinformationen).

       Hintergrundinformationen

      Im Jahr 1860 starben bei einer großen englischen Expedition in Australien u.a. Robert Burke und William Wills, weil sie ihr Busch-Brot (Saatkuchen) nicht mit ausgewaschenem Mehl der Sporenkapseln der Nardoo-Pflanze (Marsilea drummondii) hergestellt hatten, so wie es die Aborigines seit Jahrtausenden tun.104 Auch dürfen Samen der Cycad-Palme (Cycas media) erst nach aufwändigen Vorarbeiten (u. a. fünftägiges Auslaugen in fließendem Wasser) verwendet werden. Nur die gekochte Paste eignet sich schließlich zum Brot backen – roh und unbehandelt sind die Samen stark krebserzeugend. Mais muss traditionell mindestens 18 Stunden in Lehm-bzw. kalkhaltigem Wasser erhitzt werden – Schalen und Einweichwasser müssen entsorgt werden – und darf erst nach dem Trocknen zu einer Paste für Tortillas vermahlen werden. Anderenfalls besteht Gefahr, an Pellagra zu erkranken (POLLMER; NEUMANN 2006)105

      3.4.3 Wasser als Suspensionsmedium

      Vermutlich wesentlich früher als die oben angesprochenen Auslaugeffekte wird Homo erectus eine weitere, pharmakologisch aber weniger relevante Beobachtung im Umgang mit Wasser und stärkereichen Knollen gemacht haben: Am Boden eines Gefäßes setzte sich immer dann ein weißer, feiner, aber ziemlich fester Belag ab, wenn darin beispielsweise zerkleinerte Knollen zum Auslaugen gelegen hatten. Die Menge des Bodensatzes hing von der Füllmenge ab. Für den damaligen Akteur war das sicher eine bedeutende Entdeckung, denn er hatte beim Waschen und/oder Einweichen von Knollen etwas »hergestellt«, das es vorher nicht gab und er nicht kannte. Der Zufall sollte auch hier eine Entdeckung ermöglichen, die bis in unsere heutige Zeit reicht und in vielen Kulturen (jeweils regional modifiziert, wie unten genannte Beispiele zeigen), praktiziert wird. Eine Wasser-Stärke-Suspension, die länger steht und evtl. durch Sonnenwirkung erwärmt wird, beginnt rasch zu gären. Diese Fermentation kann vor allem durch aus der Luft stammende Hefen, durch Milchsäurebakterien oder auch Enzyme des Mundspeichels in Gang gesetzt werden.

      3.4.4 Wasser als Fermentationsmedium

      In Amazonien und Südamerika bereiten Indios »Spuckbier« (Chicha) her, indem sie in den stärkehaltigen Brei hineinspucken. Die Stärke wird durch die Alpha-Amylase (Ptyalin) der Mundspeicheldrüsen in Zweifachzucker zerlegt, der dann von Hefen vergoren wird (REICHHOLF 2008). In Polynesien wird auf ähnliche Weise Kava hergestellt. Hier wird allerdings vor dem Ausspucken auf die mit Wasser ergänzten Mais- oder Mehlanteile erst ausgiebig auf Wurzeln des Rauschpfeffers (Piperis methystici rhizoma) gekaut (siehe auch Wikipedia: Kava). Das daraus entstehende berauschende süßliche Getränk wird von allen sehr geschätzt. Auch diese Herstellungstechniken müssen auf zufällige Beobachtungen zurückgehen, wenn z. B. mit Speichelenzymen versetztes Essen über längere Zeit stehen geblieben war. Die Dani, ein auf Neuguinea lebendes Bergvolk, stellen eine für sie äußerst begehrte Ingwer-Kochsalz-Brühe her, indem sie eine zu Brei zerkaute Ingwerwurzel in eine Mulde mit Wasser spucken und nach jedem erneuten Spuckakt Kochsalz hinzufügen (das sie Tuan = »Herr« nennen). Welche Funktion der menschliche Speichel in Verbindung mit Salz hier hat, wäre noch im Chemielabor zu klären. Auf jeden Fall sind es auch hier Fermentationsprodukte, die die Sinne stark stimulieren.

      3.5 Wasser – die Wiege feuchter Gartechniken

      Der (meist abwertend gemeinte) Hinweis, andere würden auch »nur mit Wasser kochen«, weist in Wahrheit auf etwas Grundsätzliches: Wasser ist die Flüssigkeit,


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