Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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Wasser ist praktisch eine unbegrenzt »aufnahmefähige« Flüssigkeit, in die das zu Garende einfach eingelegt werden kann

      – Die Wärme des Wassers wird von allen Seiten gleichmäßig auf das Gargut übertragen; pflanzliche Rohstoffe schweben wie auf einem Luftkissen in der Flüssigkeit und lassen sich trotz ihrer oft amorphen Strukturen (z. B. Blumenkohl) gleichmäßig garen

      – Wasser ist geschmacksneutral und kann beliebig aromatisiert werden

      – Wasser ist die Basis und Hauptbestandteil flüssiger Speisen

      Da nahezu alle pflanzlichen und tierischen Rohstoffe – sieht man von empfindlichen Früchten einmal ab – erst ab Temperaturen von über 65°C vollständig gar werden (ein Zustand, in der alle molekularen Bausteine verkleistert bzw. denaturiert sind), wird, auch aus Gründen der Zeitersparnis, überwiegend mit siedendem Wasser (100°C) gekocht. Vielfältige physikalische Faktoren (s. Hintergr.-Info. unten) wirken dabei auf die Rohstoffe ein und nehmen die sonst vom Magen-Darm-Trakt zu leistenden Zerlegungsarbeiten vorweg, die wir weiter unten genauer betrachten werden.

       Hintergrundinformationen

      Die physikalischen Voraussetzungen für Quellvorgänge liegen zum einen in der Dipoleigenschaft der Wassermoleküle, die mit nahezu allen organischen und anorganischen Substanzen in elektrostatische Wechselwirkung treten können – sofern diese nicht unpolar oder hydrophob sind (wie z. B. Fette). Zur Reaktionsfähigkeit des Wassers trägt noch ein weiterer Faktor bei: die geringe Größe des H2O-Moleküls. Es ist so winzig, das es eigentlich ein Gas sein müsste (DICKERSON/GEIS 1986).106 Deshalb und wegen der Dipolkräfte kann Wasser nahezu überall eindringen und sich an die hydrophilen (wasserliebenden) Stellen von z. B. Stärke, Pektin, Zucker, Eiweiß und Faserstoffen anlagern. Die Geschwindigkeit, mit der das geschieht, hängt auch von der Brownschen Molekularbewegung ab, also der temperaturabhängigen Eigenbewegung der Moleküle.107 Hohe Temperaturen begünstigen das Eindringen und Aufbrechen der Molekülverbände, da zu den anderen genannten Ladungsfaktoren die Bewegungsenergie als Reaktionsbeschleuniger wirkt. Aufgrund dieser drei physikalischen Eigenschaften kann Wasser unsere Nahrungsrohstoffe quellen, denaturieren und auch auslaugen. Dass mit diesen Veränderungen gleichzeitig auch ein Ernährungsvorteil einhergeht, erklärt sich keineswegs von selbst, sondern ist erst noch zu begründen. Hierzu müssen wir auf die Zellwände (Membranen) unserer Körperzellen schauen, durch die die Nahrungskomponenten hindurchtreten – vorausgesetzt, sie haben die entsprechenden »Transportgrößen« (Abschn. 7.3, S. 124 f.).108

      3.5.1 Enzyme zerlegen große Moleküle mithilfe von Wasser

      Die Haupteintrittspforte für Nährstoffe in den Körper ist die Darmwand, insbesondere die des Dünndarms. Bevor die Partikel durch die speziellen fadenförmigen Darmzellenfortsätze (Mikrovilli) gelangen, werden sie im Darmlumen (Innenraum) enzymatisch »aufbereitet«. Durch die Epithelzellen (Saumzellen) der Darmwand können nur Kleinstmoleküle aktiv oder passiv in den Organismus gelangen. Sind sie zu groß und/oder nicht zerlegbar, stehen sie als Nahrungskomponenten nicht zur Verfügung und werden »unverdaut« ausgeschieden (bis auf einige Zuckerverbindungen, wie z. B. Raffinose und wasserlösliche Ballaststoffe, die von Dickdarmbakterien entsprechend zu Darmgasen und oder zu kurzkettigen Fettsäuren, z. B. Butyrat, abgebaut werden). Deshalb müssen die großen Nahrungsmoleküle, die wir mit jedem Bissen unserem Körper zuführen, erst in ihre kleinsten Bausteine zerlegt werden, was Verdauungsenzyme (sog. Hydrolasen) erledigen. Sie trennen die (bio-)chemischen Verbindungen durch Anlagerung von H2O-Molekülen.109

      Nun wissen wir, dass alle Tiere, die ihre Nahrung uneingeweicht fressen, nicht verhungern. Nutzen können sie ihr Futter aber erst, wenn es im Magen- und Darmsystem hydrolytisch zerlegt worden ist. Das geschieht mithilfe der Wasseranteile aus der Nahrung selbst, zuzüglich der Mengen, die über Saufen aufgenommen werden. Hierdurch werden die großmolekularen Stoffanteile im Magen110 und Darm111 gespalten und resorbierfähig. Nicht zuletzt deswegen ist die Wassermenge (der aw-Wert) im Darm ein entscheidender Faktor für die Hydrolasentätigkeit und die maximal mögliche Aufnahme von Nahrung (LOGUE 1995). Diese Verdauungsarbeit benötigt Zeit und verbraucht Verdauungsenergie.112

      3.5.2 Dominanz der Hydrolasen

      Dass Darmenzyme Nahrungskomponenten nahezu ausschließlich mit Hilfe von Wasser zerlegen, ist ein Faktum, das naturwissenschaftlich nicht weiter hinterfragt wird, obwohl wir neben den Hydrolasen insgesamt 5 weitere Enzymarten kennen,113 die auch infrage hätten kommen können.114 Allerdings kann die »Bereitschaft« der großen Nahrungsmoleküle, sich besonders leicht von Wasser zerlegen zu lassen, kein Zufall sein, sondern muss einen evolutionsbiologischen Hintergrund haben. Den können wir rasch erkennen, wenn wir auf die Entstehung von Makromolekülen schauen, z. B. während der Photosynthese: Bei jedem einzelnen Zusammenschluss von Kleinstmolekülen – ob es sich dabei um die Entstehung von Zwei-, Mehrfach- oder Vielfachzuckern aus Einfachzuckern handelt, sich Aminosäuren zu Di- oder Polypeptiden verbinden oder sich Fettsäuren über Esterbindungen mit Glycerin zu einem Fettmolekül vereinen – geht eine Abspaltung eines H2O-Moleküls voraus. Das heißt nichts anderes, als dass die Natur aus Mikrokomponenten (den sog. Bausteinen) deshalb große Verbände (Makromoleküle) hatte bilden können, weil an ihren funktionellen Gruppen das reichlich vorhandene Element Wasserstoff (H)115 und Hydroxygruppen (-OH) leicht miteinander reagieren, wodurch als Kondensationsreaktion jeweils ein Wassermolekül (H2O) abgespalten wird.

      Das Besondere daran ist nun, dass sich diese chemische Reaktion auch wieder rückgängig machen lässt. Wird Wasser mit Hilfe von Enzymen wieder zugefügt, dann trennen sich diese großen Molekülverbände mit jedem neu angelagerten Wassermolekül nach und nach wieder bis in ihre kleinsten Bausteine. Bis auf wenige Ausnahmen (z. B. niedermolekulare Peptide) können nur diese Mikromoleküle durch die Darmzellen ins Innere des Körpers gelangen.

      3.6 Membranfunktionen im Spiegel der Evolution

      Natürlich haben die Transportgrößen, die durch die Membranen der Mikrovilli hindurchtreten können, ebenfalls einen evolutionsbiologischen Hintergrund, der in die Anfänge irdischen Lebens vor etwa 4 Milliarden Jahren zurückreicht, nämlich in die Zeit der Entstehung von Einzellern (Archaeen bzw. Archaebakterien und Eukaryoten).116 In diesen erdgeschichtlichen Anfangszeiten entstanden die Strukturen der Zellmembranen, die exakt an die Bedingungen des Meerwassermilieus, dessen Salze und gelöste Stoffe angepasst waren und in heute (!) lebenden tierischen Organismen nahezu unverändert funktionieren, wenn auch in inzwischen hochspezialisierten Zellverbänden. Dass der Stoffaustausch durch die Membranen dieser »Ur-Organismen« winzige Partikelgrößen voraussetzt (durchschnittlich sind die Zellen etwa zwischen 1 und 100 µm groß – für das menschliche Auge nicht erkennbar), erklärt sich von selbst. Wenn Zellmembranen aber heute noch nahezu den gleichen Aufbau wie jene frühen Einzeller (Eukaryoten) haben, wird die Notwendigkeit, große Moleküle im Darm in eine resorbierfähige Größe zu bringen, verständlich.

       Hintergrundinformationen

      Grundlage für die Osmoregulation117 in der extrazellulären Flüssigkeit heutiger Organismen sind Mineralien, deren NaCl: KCl: CaCl2 Verhältnis bei 100: 2 : 1 liegt und im Meerwasser 100: 2 : 2. Damit ist die Salzkonzentration mit der des Meerwassers nahezu identisch. Ein starkes Indiz, dass alles Leben seinen Anfang im Meer hatte. Vielzeller entstanden durch den Zusammenschluss einzelliger, kugelförmiger Lebensformen zu Großverbänden. Allein der Mensch besteht aus 1014 (100 Billionen = 100 000 000 000 000) Einzelzellen (KEIDEL 1979). Das »einzige« biologische Problem war die Nährstoffversorgung dieser Zellansammlungen, deren Membranfunktionen an das Meerwassermilieu gebunden waren und nur unter diesen Bedingungen optimal funktionierten. An die Stelle des Meerwassers ist jetzt, wie oben gezeigt, die extrazelluläre Flüssigkeit getreten, die die Zellen umspült. Umso verständlicher wird eine der elementarsten Aufgaben unseres Körpers, diese Salzkonzentration


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