Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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und Tod verbunden.129 Auf den ersten Blick scheint es daher widersprüchlich, Rohstoffe der Flammengewalt auszusetzen, zumal organische Substanzen nicht nur entflammen, sondern vollständig verbrennen können. Eigentlich hätten unsere Vorfahren eher darauf bedacht sein müssen, alles Essbare vor Feuer und Glut zu schützen, die Nahrung in Sicherheit zu bringen. Die Entwicklung verlief jedoch – wie wir wissen – anders. Weltweit und in allen Kulturen werden Mahlzeiten mit Hilfe von Feuer zubereitet.

      Die Entdeckung, Feuer auch als Garwerkzeug einsetzen zu können, muss daher mit einer anderen Feuerquelle als der der Steppen- und Waldbrände gesehen werden: mit dem Lagerfeuer.130 Als die frühen Menschen gelernt hatten, solche Feuer zu entzünden und am Brennen zu halten, veränderte das ihre Lebensbedingungen grundlegend. Sie hatten in den kühlen Nächten eine Wärme- und Lichtquelle, die auch Raubtiere auf Distanz hielt. Nach WRANGHAM (2009) war das archaische Lagerfeuer der Ort, an dem sich friedfertiges Miteinander und Gefühle der Zusammengehörigkeit (Gruppenidentität) entwickelten und die sprachliche Kommunikation ihren Anfang nahm.131 Der dauerhafte Aufenthalt an solchen Feuerstellen sollte zu einer entscheidenden Beobachtung führen – nämlich der Wirkung von Wärme (Wärmestrahlung) auf unmittelbar am Feuer gelagerte Rohstoffe – vor allem auf Fleisch (das auf diese Weise Röststellen bekam). Vermutlich war es genau diese Entdeckung, die die Abspaltung des Menschen von seinen stammesgeschichtlichen Verwandten forcierte und die Entwicklung zum modernen Menschen, nicht nur zum Homo sapiens, dem vernunftbegabten, sondern dem 'schmeckenden' Menschen in Gang setzte.

      Paläoanthropologen bezweifeln allerdings, ob es jemals möglich sein wird, die Fragen nach den Ursachen und Anfängen der Feuerbearbeitungstechniken schlüssig zu beantworten.132 Das wäre bedauerlich, da in diesem Fall der Beginn der Gartechniken und der schrittweise Übergang von roher zu gegarter Nahrung für immer eine ungeklärte Entwicklungsphase (gap of development) innerhalb der Menschwerdung (Hominisation) bliebe. Nachfolgende Überlegungen versuchen die möglichen Umstände, Bedingungen und Entwicklungsverläufe von Gartechniken mittels Feuer zu rekonstruieren.

       Hintergrundinformationen

      Physikalisch ist Feuer eine chemische Reaktion eines Brennstoffs (meist Kohlenstoffverbindungen) mit Luftsauerstoff, wobei thermische Energie (die Wärmebewegung der Atome und Moleküle) und elektromagnetische Strahlung (die sogenannte Wärmestrahlung) freigesetzt wird. Letztere sind elektromagnetische Wellen – sowohl im infraroten als auch im sichtbaren Bereich – die durch die Beschleunigung der elektrisch geladenen Atome und Elektronen erzeugt und als farbiges Licht wahrgenommen werden, das Elektronen beim Wechsel ihrer Atomorbitale aussenden.

      4.1 Feuer – von der Wärmequelle zur Kochstelle

      Einig sind sich die Paläoanthropologen, dass es im Energiebudget unserer Vorfahren entscheidende Veränderungen gegeben haben muss, denn in der Zeit zwischen 1,9 Millionen und 200 000 Jahren vor der Gegenwart hat sich ihre Gehirngröße verdreifacht (GIBBONS 2010). Als wahrscheinliche Ursache wird (wie bereits erwähnt) der vermehrte Fleischkonsum gesehen, der nach heutigem Erkenntnisstand vor etwa 2,7 Millionen Jahren mit dem Gebrauch scharfkantiger Steinwerkzeuge begann, wie u. a. Steinartefakte aus Gona (Äthiopien) belegen (GIBBONS 2010). Damit konnten die Vormenschen133 Tierkörper enthäuten, zerlegen und auch klein schneiden. Infolge dieser energetisch hochwertigeren Nahrung hat sich das Gehirn unserer archaischen Vorfahren bereits nach einer Million Jahren verdoppelt (von ca. 400 auf 775 m3), wie ein 1,6 Millionen Jahre alter Erectus-Schädel zu belegen scheint.134 Alan Walker geht davon aus, dass Homo erectus zu dieser Zeit Tierkadaver in sein Lager geschleppt und dort zerlegt hat (GIBBONS 2010). Ob Homo erectus zu dieser Zeit schon über die Fähigkeit verfügte, Feuer dauernd am Brennen zu halten und erste Gareffekte an Rohstoffe beobachten konnte, die in Feuernähe gelegen hatten, wissen wir nicht. Der älteste Nachweis einer Feuerstelle in Israel (Gesher Benot Ya'aquv– s. Fußn. 1, S. 12), an der nachweislich auch »gegart« wurde, ist 790 000 Jahre alt. So fehlen (derzeit) archäologische Indizien und Befunde für etwa 800 000 Jahre, die den Gebrauch einer Feuerstelle auch als »Garplatz« belegen. Allerdings fand der Paläoanthropologe Jack Harris in Tansania 1,5 Millionen Jahre alte verbrannte Steinwerkzeuge und verbrannten Ton in der Olduvai-Schlucht, ebenso in Koobi Fora in Kenia (GIBBONS 2010). Er ist überzeugt, dass die Verwendung von Feuer zu »Garzwecken« viel älter ist, als die Feuerstelle in Israel vermuten lässt.

      Trotzdem liefern diese Funde und Indizien keinen nachvollziehbaren Grund, weshalb Homo erectus damit begonnen hat, seine ihm vertraute natürliche (rohe) Nahrung mit Hilfe von Feuer zu verändern. Dieses absichtsvolle Tun kann nicht aus dem Nichts entstanden, praktisch urplötzlich 'über Nacht' dagewesen sein. Es setzt neben der dauerhaften Verfügbarkeit von Feuer technische und kognitive Fähigkeiten voraus – und vor allem: das »Wissen« um das Garziel. Es ist daher durchaus wahrscheinlich, dass Mensch und Feuerstelle anfänglich keinen Bezug zu 'Gartätigkeiten' hatten, sondern in einem viel älteren, nahrungsunabhängigen Zusammenhang stehen.

      Jede offene Flamme erzeugt nicht nur bei Primaten eine hohe Aufmerksamkeit, alle Lebewesen achten auf Feuer. Dieses instinktive Verhalten in Feuernähe schützt die Individuen vor gefährlichen Verbrennungen. Andererseits haben wir auch ein physiologisch begründetes Bedürfnis, die Nähe zum Feuer zu suchen, besonders, wenn es kalt ist. Ab einer bestimmten Nähe zum Feuer setzt ein wohltuender Effekt ein. Diesen »richtigen« Abstand finden wir am Lagerfeuer – ohne ihn erlernt oder gezeigt bekommen zu haben: Ein offenbar uraltes archaisches »Körperwissen« (dank Thermorezeption oder Thermozeption), das sich vermutlich in jener Zeit bildete, als die Frühmenschen ihr Haarkleid verloren hatten.

      4.2 Zuerst war das Bedürfnis nach Wärme

      Dass wir heute wärmendes Feuer schätzen, haben wir den Lebensbedingungen unserer auf zwei Beinen gehenden homininen Vorfahren zu verdanken. Sie lebten in der baumarmen offenen Savannenlandschaft Afrikas, die als Folge des Klimawandels vor etwa 2,5 bis 2 Millionen Jahren entstanden war. In dieser Zeit entwickelte sich ihr tropischer Stoffwechsel,135 der tagsüber – in der Aktivitätsphase energetisch vorteilhaft war, nicht aber in den kühlen Nachtstunden, insbesondere nach dem Verlust des Haarkleids.136,137 Dieser genetisch bedingte Fellverlust war, wie auch die Fähigkeit, durch Schwitzen den Körper zu kühlen, eine Anpassung an den Lebensraum (mit Tagestemperaturen auch über 30°C). In den Nächten, bei empfindsam kühlen Temperaturen von 8–12°C, erwies sich der Fellmangel jedoch als Nachteil.138 Bevor sich der inzwischen »nackte Affe« (MORRIS 1968) ein Ersatzfell (Tierfell) umhängte, konnte er der nächtlichen Unterkühlung nur entgehen, wenn er sich an warmen Stellen oder in Feuernähe (dicht aneinandergerückt) aufhielt. Die derzeit ältesten Spuren menschlicher Feuerstellen liegen in der Nähe von (damals aktiveren) Vulkanen im Ostafrikanischen Graben.139 Andererseits konnte er sich auch nur deshalb unmittelbar am offenen Feuer wärmen (nahe genug herantreten), weil er kein Fell mehr hatte – jede Böe wäre sonst für ihn wegen des Funkenflugs eine Gefahr gewesen.140 Wahrscheinlich besteht zwischen dem Verlust des Haarkleides und dem gezielten Aufsuchen und schließlich dem Herstellen von Feuerstellen entwicklungsgeschichtlich eine Parallele. Noch heute dient das Lagerfeuer indigenen Völkern (z. B. San, !Kung, Hadza) als Wärme- und Lichtquelle, sobald es kühl und dunkel wird. Hier sitzen Gruppen dicht beieinander und blicken auf die Flammen (LEAKEY; LEWIN 1980; S. 151). Nicht anders werden sich unsere »nackten« Vorfahren verhalten haben.

      Diese biologisch begründete Notwendigkeit, bei kühlen Temperaturen die Nähe zum Feuer zu suchen, zwang unsere Vorfahren, wärmendes Feuer dauerhaft zu erhalten und entsprechende Techniken dafür zu entwickeln. Die Dauerwirkung der Wärmestrahlung sollte sich nicht nur als wohltuend für den Organismus erweisen, 141 sondern sich auch, wie angedeutet, auf nahe am Feuer gelagertes Fleisch auswirken, das an einigen Stellen Rösteffekte aufwies. Diese Hitzewirkung auf Fleisch weckte die besondere Aufmerksamkeit der Frühmenschen, da sie die sensorischen Eigenschaften des rohen Fleisches veränderte. Vermutlich waren es genau diese Beobachtungen, die dazu führten, Feuer als Garmedium einzusetzen. Bevor wir diese Vermutung noch genauer untermauern, werden wir kursorisch weitere Annahmen zur Entstehung von Gartechniken betrachten.


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