Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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Energieträger, die an die Stelle offener Flammen oder Glut getreten sind), muss es im Leben unserer Urahnen Ereignisse gegeben haben, die die Verwendung von Feuer zur Rohstoffbearbeitung in Gang gebracht haben. Aber welche? Offenbar hatte die Natur es ihnen wie in einer 'Arbeitsanleitung' anschaulich »vorgemacht« und sie erkennen lassen, dass »ein bisschen« Feuerwirkung keineswegs von Nachteil, dass »Angebranntes« (also eben nicht »Verbranntes«) nicht automatisch als Nahrung verloren war, sondern eher einem Leckerbissen entsprach. Ließe sich diese archaische »Lernsituation« der Hominini – einschließlich der dafür notwendigen kognitiven und manuellen Voraussetzungen – rekonstruieren, wüssten wir, weshalb nur der »nackte« Mensch (nicht aber die großen behaarten Menschenaffen)142 schließlich zum »Coctivor« wurde. Die gängigste Vermutung dazu ist die einer »Spontanentdeckung«, die u. a. beim Hantieren mit Nahrung und Feuer gemacht wurde – u. a. WRANGHAM 2009. Aber auch andere Entdeckungsszenarien sind denkbar, wie z.B. die der »Inferno-Hypothese«.

      4.3.1 Die »Inferno-Hypothese«

      Szenario: Ein geradezu infernalisches, viele Tage wütendes Feuer hatte das Habitat einer unserer Ahnenpopulationen vernichtet. Sie selbst hatten sich durch Flucht in eine Felshöhle retten können. Als sie wieder ins Freie traten, sahen sie eine trostlose, schwarz verbrannte Landschaft ohne jegliches Leben, nur glimmende und rauchende Baumstümpfe. Getrieben von Durst und Hunger durchstreiften sie die Gegend und stießen auf einen Tierkörper mit starken Brandspuren. Obwohl dieser widerwärtig roch, fingen sie an, daran herumzukratzen, um nach Fleisch zu suchen. Und tatsächlich: unter dem verbrannten Fell befand sich etwas, das zwar nicht blutrot, sondern grau aussah, auch nicht nach Fleisch roch, aber Fleisch sein musste. Der blanke Hunger ließ sie die abstoßenden Verbrennungsgerüche143 und ihre instinktive Vorsicht gegenüber »fremder« Nahrung (Neophobie) überwinden. Der für sie existentielle Lebensmoment war gekommen: Entweder sicherten diese Bissen ihr Überleben oder sie würden verhungern.

      Hier hat also der Zustand größten Hungers (und der der Not geschuldete Geschmackstest) einige Individuen unserer homininen Vorfahren jene sensorische Besonderheit entdecken lassen, die zu eigenen Garanstrengungen – der schrittweisen Abkehr von roher Fleischkost hin zu einer mit Feuer modifizierten (prozessierten) weicheren Nahrung – führte.144

      4.3.2 Die »Zufällig-ins-Feuer-gefallen«-Hypothese

      Die »Inferno«- und die »Zufall«-Hypothese nennen lediglich Beobachtungen und Geschmackseindrücke, erklären aber nicht, wie aus den »Zufallsentdeckungen« eine planvolle, gezielte Herstellung, das technische Prozedere des Garens entsteht. Unklar ist, ab wann Aktivitäten am Feuer bereits als 'Herstellen eines Garziels' betrachtet werden können: Wann beginnt, wann endet Garen, wann ist das »Optimum« erreicht und wovon hängt dieses ab? Diese Fragen weisen auf die Komplexität des Garvorgangs. Ohne die Fähigkeit zur Prozesssteuerung, ohne Kenntnisse zeitabhängiger Garphasen (Veränderungen am und im Rohstoff) führt das Hantieren mit Rohstoffen am/im Feuer eher zu sensorisch unattraktiven Ergebnissen. Der Einsatz von Feuer als 'Garwerkzeug' konnte ohne absichtsvolles, vorausschauendes Handeln kaum erfolgreich sein.145 Vermutlich waren unzählige Fehlversuche vorausgegangen, bis das Gargut schmackhaft war. Stammesgeschichtlich sind deshalb diese erfolgreichen kochenden Akteure dem modernen Menschen näher als jene, die vor über einer Million Jahre die allerersten Feuerexperimente mit Rohstoffen anstellten.

      4.3.3 Aussagekraft der genannten Entstehungs-Hypothesen

      Die »Inferno«- und die »Zufall«-Hypothese nennen lediglich Beobachtungen und Geschmackseindrücke, erklären aber nicht, wie aus den »Zufallsentdeckungen« eine planvolle, gezielte Herstellung, das technische Prozedere des Garens entsteht. Unklar ist, ab wann Aktivitäten am Feuer bereits als 'Herstellen eines Garziels' betrachtet werden können: Wann beginnt, wann endet Garen, wann ist das »Optimum« erreicht und wovon hängt dieses ab? Diese Fragen weisen auf die Komplexität des Garvorgangs. Ohne die Fähigkeit zur Prozesssteuerung, ohne Kenntnisse zeitabhängiger Garphasen (Veränderungen am und im Rohstoff) führt das Hantieren mit Rohstoffen am/im Feuer eher zu sensorisch unattraktiven Ergebnissen. Der Einsatz von Feuer als 'Garwerkzeug' konnte ohne absichtsvolles, vorausschauendes Handeln kaum erfolgreich sein.146 Vermutlich waren unzählige Fehlversuche vorausgegangen, bis das Gargut schmackhaft war. Stammesgeschichtlich sind deshalb diese erfolgreichen kochenden Akteure dem modernen Menschen näher als jene, die vor über einer Million Jahre die allerersten Feuerexperimente mit Rohstoffen anstellten.

      4.3.4 Wärmestrahlung als Auslöser für Garaktivitäten

      Dass unsere Vorfahren überhaupt dazu übergingen, Feuer gezielt als Garmedium einzusetzen, lässt sich nur mit der hohen sensorischen Attraktivität der dabei entstehenden Produkte erklären. Ihre verbesserte Schmackhaftigkeit ist die 'Belohnung' für den Aufwand - der seinerseits durch die Belohnungserwartung gerne erbracht wird.147 Wahrscheinlich gehen diese Tätigkeiten nicht auf eine einzige Beobachtung, nicht auf ein einzelnes Erlebnis (einer Art »sinnlichen Erweckung«) zurück, sondern auf wiederholt auftretende (identische) sensorische Erfahrungen, die schließlich erwartet wurden. Nach heutigem Wissenstand ist davon auszugehen, dass auch epigenetische Faktoren (umweltbedingte Genregulationen, die Geschmackspräferenzen modulieren; s. Fußn. 165, S. 89) die Realisierung des 'verbesserten Geschmacks' zum intrinsischen Handlungsmotiv werden ließen.148

      Der allmähliche Wandel hin zur gezielten Röstung von Fleisch lässt sich mit Vorgängen am Lagerfeuer erklären. Erjagtes Wild wurde nicht unmittelbar am Jagdort verzehrt, sondern am Lagerplatz und in unmittelbarer Nähe des Feuers gelagert, sobald mit dem Mahl begonnen wurde (GIBBONS 2010). Das begann mit dem Herauslösen und Kleinschneiden von Fleischstücken und dauerte über Stunden. Gab es große Fleischmengen, und lagerten Teile davon »dichter« am Feuer, entstanden an der dem Feuer zugewandten Fleischseite Röststellen. Deshalb war – so ist jedenfalls zu vermuten – die Beobachtung des Wärmestrahlungseffekts149 der Auslöser für gezielte 'Garaktivitäten'.

      4.3.5 Die »Wärmestrahlen-Hypothese«

      Der erste Rohstoff, den Homo erectus durch Feuerwirkung molekular (zuerst unabsichtlich) veränderte, war Fleisch. Warum? Immer, wenn Feuer lange gebrannt hatte, wurden auch die in unmittelbarer Nähe befindlichen Steine und Sandflächen erhitzt.150 Wenn darauf Fleischteile lagen und Wärmestrahlung auf nahe am Feuer gelegene Stücke wirkte, dann veränderten sich die Muskelfasern diese Fleisches: es denaturierte an einigen Stellen und bekam die oben genannten sensorisch besonders auffälligen Röststellen.

      Wenn wir heute gebratenes Fleisch mögen, so ist diese Empfindung ein physiologisches 'Feedback' auf diesen Geschmack, der weiter Appetit macht. Nicht anders wird es Homo erectus ergangen sein, wenn er angeröstete Stellen probierte.

      Der Genusswert eines Bissens steuert – früher wie heute – die Aufmerksamkeit des Essers. Die sensorische Besonderheit (Röstaroma) konnte Homo erectus bereits zuordnen: Das in unmittelbarer Feuernähe gelagerte Fleisch verändert sich optisch, aromatisch, im Kauwiderstand, erscheint saftiger und schmeckt kräftiger. Solche veränderten Stellen waren attraktiver als das rohe Fleisch und wurden rasch zu den begehrtesten Stücken. Wie viele »Generationen« es gedauert hat, bis einige clevere Individuen ihre entbeinte Jagdbeute so in Feuernähe platzierten, dass die Hitze (durch Drehen und Wenden) allseits wirken konnte, ist für unsere Überlegungen nachrangig. Die alles entscheidende Entdeckung war die der »Fernwirkung von Feuer« auf Fleisch – insbesondere die der Glut. Damit ließen sich die Textur und der Geschmack verändern – es brauchte lediglich Zeit und die hatten sie, da sie sich ohnehin am Feuer aufhielten. Deshalb spricht vieles für die Vermutung, dass die Ernährungs(r)evolution – der Einsatz von Feuer zu Garzwecken – am Lagerfeuer ihren Anfang nahm.

      4.4 Der gezielte Einsatz von Feuer als «energetisches Werkzeug«

      Die Wirkung von Feuer auf Fleisch war anfänglich nur ein schmackhafter »Mitnahmeeffekt«. Diese 'passiv-beobachtende' Ebene änderte sich schließlich, als die Menschen begannen, Feuer nicht nur als Wärmequelle, sondern gezielt auch als »Werkzeug« zur Veränderung ihrer Rohstoffe einzusetzen. Damit betrat der Mensch


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