Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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und schmackhafter machte. Diese physiologischen Hintergründe, die das Zubereitungssystem Kochen begründen, sollten Fachleuten, den Köchen, bekannt sein. Deshalb gehörten diese evolutionären und sinnesphysiologischen Inhalte auch in den Unterricht von Kochauszubildenden. Sie sind Teil der theoretischen Grundlagen für einen fachlich mündigen Experten der Nahrungszubereitung. Letzteres wird in Kapitel III an verschiedenen Zubereitungsbeispielen betrachtet, die exemplarisch für das »innere System« der Rohstoffkombination stehen.

      Will man die Bedingungen für den vor etwa zwei Millionen Jahren begonnenen Ernährungswandel unserer homininen Vorfahren rekonstruieren, kommen derzeit nur zwei Wissensbereiche in Frage, denen wir hierzu brauchbare Angaben entnehmen könnten: Zum einen sind das neuere Erkenntnisse zur prähistorischen Entwicklung des Menschen (seiner Urgeschichte) und zum anderen die Ernährungsweisen heute lebender indigener Populationen. Letztere garen Rohstoffe z. B. mit erhitzten Steinen in Erdmulden – eine Technik, die uns einen Blick weit zurück in die Anfänge des Garens und Zubereitens erlaubt. Da man Zubereitetes (gezielt kombinierte Nahrungskomponenten) aus Zeiten, in denen Homo erectus lebte, nicht mehr ausgraben und analysieren kann (GOREN-INBAR 2014),1 bleiben für die Rekonstruktion dieser Aktivitäten im Wesentlichen nur Hypothesen und plausible Deutungen.

      Auch lässt sich nicht mehr im Nachhinein erforschen, wann und warum die Vorläufer von Homo sapiens angefangen haben, Rohstoffe am Lagerfeuer zu rösten, und neue sensorische Präferenzen entwickelten. Ebenso wenig wissen wir etwas über ihre mentalen Fähigkeiten und Motive, dies zu tun. Hinzu kommt, dass solche gravierenden Nahrungsmanipulationen nicht auf isolierte, monokausale »Ursache-Wirkung-Sachverhalte« zurückgeführt werden können: Sie sind das Resultat sich wechselseitig bedingender molekularbiologischer, sensorischer, epigenetischer, klimatischer und kognitiver Faktoren. Offen bleibt in diesem komplexen synergistischen Geschehen, was Ursache und was Folge war. Auch besteht bei der Rekonstruktion von zeitlich weit zurückliegenden Ereignissen die Gefahr des Präsentismus – des Hineinlesens der Gegenwart in die Vergangenheit, um dann wiederum aus der Vergangenheit die Gegenwart zu erklären.

      Schließlich wird es in Kapitel IV um die unterrichtliche Umsetzung dieser Inhalte nach lehr-/lerntheoretischen Gesichtspunkten gehen. Die Schüler sollen nicht nur wissen, sondern auch verstehen, warum sie Rohstoffe so bearbeiten, wie sie es tun. Erst diese grundlegenden Einsichten lassen Schüler jene Faktoren erkennen, die zur größten kulturellen Errungenschaft der Menschheit geführt haben: zur Kochkunst.

      Inhaltsschwerpunkte

       Zu Teil I

      Obwohl sich die anthropologische Forschung auch mit Ernährungsaspekten im Laufe der menschlichen Stammesgeschichte (Hominisation) befasst,2 wird die Frage, warum die Vorläufer des modernen Menschen zum Coctivor,3 »den kochenden Menschen«, wurden, nicht untersucht (POLLMER 2007). Die Anfänge und Entwicklungen von Zubereitungsverfahren, die unsere modernen Kochtechniken begründen, liegen nach wie vor im Dunkeln. Für das, was unsere Urahnen gegessen haben, gibt es zwar Hinweise (HART 2015), (HIRSCHBERG 2013), (STRÖHLE 2008), nicht aber für die Auslöser ('den inneren Impuls') ihrer Ernährungsumstellung. Selbst indigene Kulturen, die ihr Essen in Glut, auf heißen Steinen (in Erd-/Garmulden), in heißem Sand und heißer Asche garen, verfügen bereits über diese Gartechniken. Was sie antrieb, ihre Nahrung auf diese Weise zu bearbeiten, wissen wir nicht. Zwischen der Entwicklung erster Steinwerkzeuge (Altsteinzeit)4 und der 'Garmuldentechnik' besteht eine unbekannte Entwicklungsphase von mehr als einer Million Jahren. Vieles spricht dafür, dass die Vor- und Frühmenschen (Australopithecinen / Homo erectus) parallel zur Steinwerkzeug-Entwicklung Rohstoffe gezielt bearbeitet haben. Homo heidelbergensis, der vor etwa 600 000 Jahren gelebt hat, kannte vermutlich bereits Feuergartechniken, die der archaische Homo sapiens (vor etwa 200 000 Jahren) mit seiner größeren Verstandesleistung weiter verfeinerte. Komplexe Kochtechniken, in denen verschiedene Rohstoffe gleichzeitig (und dosiert) gegart wurden, hat vermutlich erst der moderne Mensch erfunden – Homo sapiens, der vor etwa 70 000–40 000 Jahren Europa besiedelte. Im Zuge der Sesshaftwerdung (im fruchtbaren Halbmond vor etwa 10 000 Jahren)5 erlangten Gartechniken jene Kulturstufe, die wir heute als »Kochen« bezeichnen. Ackerbau und Viehzucht, neue Nutzpflanzen und Lagertechniken und die Verfügbarkeit von Rohstoffen im Wechsel der Jahreszeiten führten schrittweise zu einer Kultur der Nahrungszubereitung, deren Existenz uns heute als etwas Selbstverständliches, als »schon-immer-zum-Menschen-Gehörendes« erscheint.

      Die Anfänge der Gartechniken gehen weit in die Entwicklungsgeschichte der Frühmenschen zurück (beginnend vermutlich bei Homo erectus / Homo ergaster) (HOFFMANN 2014)6 und stehen auch mit Verstandesleistungen in Zusammenhang, die diese zur Herstellung von Werkzeugen und Erhaltung von Feuerstellen befähigten. Obwohl unsere nächsten Verwandten, Schimpansen und Gorillas, vielfältige Rohstoffbearbeitungen kennen, haben sie keine Gartechniken entwickelt. Das tat nur jene Tribus,7 (Lewin 1995) die hin zu Homo sapiens führt (die Hominini). Die Gründe dafür sind vielfältig. Einer davon liegt vermutlich auch in der Handanatomie des Menschen: Dieser kann seinen Daumen zu den anderen Fingern in Opposition bringen (Opponierbarkeit), Menschenaffen können das nicht. Dieser anatomische Vorteil ermöglichte einen präziseren Einsatz der Finger (Pinzettengriff), förderte die Entwicklung von Fertigungsgeschick und trug u. a. auch zur Entwicklung des Gehirns bei, da jede Handleistung eine neuronale Verschaltungsstruktur voraussetzt. Auch fördern feinmotorische Herausforderungen und Übungen das Nervenwachstum im Hippocampus (ROTH 2010),8 da hierbei stets mehrere Sinne (neben dem Tastsinn u. a. auch der Seh- und Gehörsinn) involviert sind.

      Zielgerichtetes Vor- und Zubereiten setzt geistige Leistungen voraus, da komplexere Arbeitsschritte eine zeitliche Abfolge haben, die entsprechend (vor)bedacht sein muss – ebenso muss das Garziel bekannt sein. Da kognitive Leistungen auch im Verhältnis vom Gehirnvolumen zur Körpergröße stehen, hatte Homo erectus mit seinen anfänglichen 650 cm3 (später bis 1250 cm3) im Verhältnis zu unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen, deutlich mehr Hirnmasse (ROTH 2010). Deren Gehirn wiegt nur etwa 400 Gramm.9 Die Zunahme der Gehirngröße bei Homo erectus wird vor allem mit dem vermehrten Verzehr von Fleisch und gekochter Nahrung begründet (WRANGHAM 2009), wodurch insbesondere mehr Energie und Baustoffe (HOFFMANN 2014)10 u. a. für das Gehirnwachstum im Mutterleib zur Verfügung standen. Auch benötigt das große Gehirn von Homo erectus (neben Eiweiß und Fetten) mehr Energie (etwa 20 bis 25 % bereits im Ruhemodus), die bei roher Pflanzen- und Früchtenahrung nur durch beständiges Essen gedeckt werden kann (WRANGHAM 2009).

      Die Anfänge der Rohstoffbearbeitungen: Mittels Steinwerkzeugen (Oldowan) (LEAKEY; LEWIN 1986)11werden Schädelkalotten und Röhrenknochen geöffnet und Fleisch von Knochen abgetrennt – Tätigkeiten, die der Nahrungsbeschaffung dienen. Die ersten gezielten Rohstoffbearbeitungen entwickelten sich vermutlich aus Beobachtungen im Umgang mit Wasser, wozu vor allem Reinigungseffekte (Entfernung von Erdanhaftungen) und Quellvorgänge gehörten. Umgekehrt führte die Abwesenheit von Wasser auch zu bedeutsamen Veränderungen: Rohstoffe, die bei Lagerung nicht verdarben, wurden trocken und fest und bekamen ein intensiveres Aroma. Legte man solche getrockneten Teile ins Wasser, gingen durch Auslaugung Aromakomponenten in das Wasser über. Insbesondere getrocknete Pflanzen oder Pflanzenteile (vermutlich die Vorläufer der Gewürze) bewirkten eine Wasseraromatisierung – ein für den frühen Menschen völlig neues Geschmacksphänomen. Allerdings setzte diese Technik die Verwendung von Wasserbehältnissen (natürliche Hohlgefäße, Holztröge) voraus. Die (viel) später (im »Präkeramischen Neolithikum«) erfundenen Lehm-/Tongefäße (Töpferware) vor etwa 12 000 Jahren wurden zu den ersten Hauptgerätschaften der Küche.

      Die Fähigkeit, Feuer, Glut und heiße Steine zum Rösten und Hitzegaren einzusetzen, wurde zum Fundament, zur Wiege der Garverfahren. Zunächst waren Lagerfeuer (die nach dem Fellverlust als Wärmequellen in kalten Nächten dienten) der Ort abendlicher Zusammenkünfte. Die Wärmestrahlung wirkte auf am Feuer gelagerte (enthäutete) Jagdbeute umso stärker, je dichter diese an


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