Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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sapiens und Homo Heidelbergensis (dazu auch Wikipedia: Homo erectus),29 indem sie vermutlich kleinere Rohstoffe auch direkt ins Feuer legten (eine Form direkten Garens). Mit der Technik des Feuergarens (GOREN-INBAR 2014)30 ließen sich die »inneren« (molekularen) Strukturen der Rohstoffe verändern und u. a. deren Verdaubarkeit herstellen. Vermutlich schon weit vor (aber spätestens mit) der Sesshaftwerdung vor etwa 10 000 Jahren entstanden jene Garverfahren, die wir heute wie selbstverständlich anwenden (in dieser Zeit entstand auch die dafür notwendige Gefäßkultur, die das Garen in Wasser ermöglichte). Sie sind die Basis einer inzwischen zur Kochkunst avancierten Technik, die gezielt Geschmackskomponenten verschiedener Rohstoffe miteinander reagieren (amalgamieren) lässt und Aromen erzeugt, für die es in der Natur kein 'Vorbild' (Urmuster) gibt. Kochkunst zielt im Kern auf appetitsteigernde Sinneseindrücke. So gesehen ist die Entwicklungsgeschichte von Homo sapiens (lat. sapere: wissen, »der weise Mensch« – eigentlich: »der schmeckende Mensch«!) (LÄMMEL 2003)31 – auch die seines Ernährungswandels, einer geistigen Fähigkeit, Rohstoffe mit weiteren Rohstoffen schmackhaft zu machen.

      1.3 Was haben unsere Vorfahren gegessen?

      Nahrung und Lebensraum stehen in einem unabdingbaren Zusammenhang. Die Lebensumstände unserer Vorfahren (Klima und Umwelt) waren in ihren Habitaten keineswegs »konstant«. Klimaänderungen, Absenkung und Anstieg der Meeresspiegel, Hitze- und Kälteperioden (BEHRINGER 2010), sogar die Ausbreitung der Tsetse-Fliege (REICHHOLF 2008) hatten in Teilen Afrikas (BEHRINGER 2010) Einfluss auf den Lebensraum der Hominini und zwangen sie zur Anpassung oder – bei Letzterem – zum Verlassen der von ihnen besiedelten Gebiete.32 Aus diesen (und weiteren) Gründen erreichte der Vorläufer des modernen Menschen, Homo erectus, nahezu alle Erdregionen (REICHHOLF 2008),33 auch solche Gebiete, in denen die Temperatur dauerhaft nahe 0°C liegt.

       Hintergrundinformationen

      Aufgrund der Grenzen von Analysemöglichkeiten archäologischer Funde beziehen sich Aussagen über Ernährungsweisen früher Homotypen34 und Vertreter der »Frühmenschen« (H. erectus bzw. H. ergaster)35 ausnahmslos auf Rohstoffe, die sie vor etwa zwei Millionen Jahren aßen. So lassen winzigste Abnutzungsspuren an Zahnoberflächen, Isotopenanteile in Skeletten und im Zahnschmelz (oder im Zahnstein: z. B. Nachweis spezifischer Phytolithen – mikroskopisch kleiner Kieselsäurepartikel der Pflanzen) Rückschlüsse auf ihre Nahrung zu (HENRY 2012). Ebenso hinterlassen Nährstoffe, die ein Individuum zu Lebzeiten aufnimmt, unterschiedliche Konzentrationen von Spurenelementen im Skelett. Bei überwiegend pflanzlicher Ernährung ist der Anteil schwerer Isotope von Barium, Strontium oder Zink höher als bei tierischer Nahrung (GROLLE 2015).36 Chemische Analysen erlauben auch Rückschlüsse darauf, ob die Nahrung mehr marinen Ursprungs war, ob also mehr Fisch gegessen wurde HIRSCHBERG 2013). Insofern weisen diese Ernährungspräferenzen (und weitere archäologische Daten) zugleich auch auf Siedlungsräume und -perioden unserer frühen Vorfahren hin. Sie bevorzugten Randwälder von Savannen, lebten an Seen oder Fließgewässern (LEAKEY; LEWIN 1986), weil es hier für sie u. a. ergiebigere Proteinquellen als im Regenwald gab (REICHHOLF 2008). Neuere Analysen für Nahrungsmittelkrusten an Keramikgefäßen konnten etwa 300 Fischproteine (Karpfen, Rogen) nachweisen, die vor 6000 Jahren vermutlich in kleinen Mengen Flüssigkeit gegart worden waren (SHEVCHENKO 2018). In einer Berghöhle an der Grenze zwischen Südafrika und Swasiland fand man an einer archaischen Feuerstelle Reste stärkereicher Wurzeln (Rhizome der Gattung Hypoxis), die unsere steinzeitlichen Vorfahren vor mindesten 170 000 Jahren dort gegart hatten. Ein Indiz, dass Kohlenhydrate wichtiger Bestandteil des Nahrungsspektrums auch von H. erectus waren (ZINKANT, K., 2020).

      Obwohl große Meere die Kontinente und damit Lebensräume frühmenschlicher Populationen trennten, haben sie in allen Erdteilen voneinander unabhängig vergleichbare Gartechniken entwickelt. Nicht aber, wie zuvor erwähnt, die Menschenaffen (Schimpansen, Gorillas, Orang-Utans), obwohl sie zeitgleich mit den Hominini lebten. Diese Primaten sind seit Millionen Jahren bei ihrer überwiegend pflanzlichen Kost geblieben, die sie in ihren Waldhabitaten vorfinden; ihr Organismus ist optimal auf diesen Nahrungsvorrat angepasst. Der vierte Primat, der Mensch, unterscheidet sich im Erbgut nur etwa 1,5 % von Schimpansen (PRÜFER 2012), hat aber ein deutlich größeres Gehirn als dieser. Offenbar gibt es auch einen evolutionsbiologischen Zusammenhang zwischen der Ernährung und Gehirnentwicklung – doch dazu später mehr.

      1.4 Feuer – Schrecken und Segen archaischer Naturgewalt

      Es muss gravierende Gründe für das Verhalten von Homo erectus gegeben haben, seine Nahrung ins offene Feuer oder in die Glut zu legen (Abschn. 4.3, S. 76 ff.). Genau genommen ergäbe nur die umgekehrte Richtung einen Sinn, nämlich die Nahrung rasch aus dem Feuer zu entfernen, damit sie nicht Raub der Flammen wird. Selbst das Argument, dass die Rohstoffe einer »kontrollierten« Feuergarung ausgesetzt würden, erklärt diesen Widerspruch nicht. Was hat Fleisch, das brennbar ist, im Feuer zu suchen – zumal es stets roh verzehrt wurde? An den Kochtechniken indigener Völker (beispielsweise in Neuguinea: Papua, Eipo und Dani; auf Neuseeland: Maori; in der Kalahari: !Kung; im Amazonasgebiet: Yanomami) sehen wir aber, dass auch sie ihre Nahrung vor dem Verzehr hohen Temperaturen aussetzen (HARRER 1988).37 Weder Fleisch noch Pflanzen verzehren sie in der Regel roh, und selbst die Inuit (Eskimos) essen ihr Fleisch nur auf der Jagd roh, wenn sie lange unterwegs sind. Zurück im Iglu schätzen sie warmes, gekochtes Fleisch wesentlich mehr (WRANGHAM 2009).38

      Zwar kennen wir inzwischen die Vorteile einer hitzegegarten Nahrung; aber unsere Urahnen, die vermutlich schon vor mehr als einer Million Jahren erste Feuerexperimente mit ihrer Nahrung angestellt hatten, kannten diese Vorteile nicht (BECKERS 2012). Es muss daher Auslöser und Gründe gegeben haben, auf vertraute Rohstoffe vor dem Verzehr massiv mit hohen Temperaturen einzuwirken und diese Verfahren zur dauerhaften Praxis werden zu lassen (MUTH; POLLMER 2010).39 Dazu verwendeten sie, wie erwähnt, vor allem heiße Steine, Glut, heiße Asche, heißen Sand (auch heißes Wasser),40 also natürlich vorkommende Energiequellen.41 Diese Fakten beantworten aber nicht die Frage, warum sie derart »massiv« auf Rohstoffe eingewirkt haben. Genau genommen fragt man sich, was hohe Temperaturen an und in empfindlichen biologischen Substanzen verloren haben? Ebenso: Weshalb wurden und werden diese gegarten Rohstoffe mehr gemocht als jene, an die sie und ihre Vorfahren seit Millionen Jahren bestens angepasst waren?

      Mit der Fähigkeit, Feuer nicht nur zu erhalten, sondern es auch zur Aufbereitung von Nahrung einzusetzen, verbesserte sich deren Qualität enorm: sie enthielt weniger Gifte, war leichter verdaulich (auch das Nahrungsspektrum vergrößerte sich), bewirkte eine höhere Energieausbeute (u.a. aufgrund des geringeren ATP-Verbrauchs bei der Verdauung; s. Fußn. 159, S. 86) und hatte gleichzeitig auch Einfluss auf das soziale Leben, da die Aufnahme von gegartem Essen weniger Zeit benötigt und die Verdauung schneller erfolgt (WRANGHAM 2009). Die Vorzüge thermisch aufbereiteter Nahrung waren gegenüber der bisherigen rohen Nahrung so bedeutend, dass sich im Laufe von Millionen Jahren alle an der Verdauung beteiligten Organsysteme veränderten: u. a. wurde die Mundöffnung kleiner, die Zahnstrukturen flacher, das Verhältnis von Dünn- und Dickdarmlänge änderte sich, wie auch das Spektrum der Entgiftungssysteme (WRANGHAM 2009). Wrangham vertritt in seinem Buch Feuerfangen die These, dass erst gekochte Nahrung die Zunahme unseres jetzigen Gehirnvolumens (HARDY 2015)42 begründet (nicht allein der vermehrte Fleischverzehr), und Kochen zur Wiege der Familienbildung wurde. Essen zu garen war zeitaufwändig, (HARRER 1988)43 aber ernährungsphysiologisch wertvoller als rohe Kost. Gekocht haben seiner Theorie zufolge Frauen, denen das Essen oftmals von den körperlich überlegenen Männern gestohlen wurde. Erst die Anwesenheit eines ranghohen Mannes verhinderte diesen Raub und bot der Frau den nötigen Schutz, woraus dauernde Versorgungsbünde erwuchsen (WRANGHAM 2009).44

      1.5 Der Organismus überwacht, was gegessen wird

      Die »Mitsprache« des Organismus bei der Wahl der Nahrung wirkt im Verborgenen, verläuft unbewusst. Vielfältige sensorische und hormonelle Regelsysteme steuern vegetativ den Appetit und die Nahrungspräferenz (und den Metabolismus)


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