Geschmackssache oder Warum wir kochen. Günther Henzel

Geschmackssache oder Warum wir kochen - Günther Henzel


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der Lebensmittelwissenschaft im Fachbereich Ernährungsphysiologie und Humanernährung, die mittels paläologischer Forschungen die Ernährungsweisen unserer archaischen Vorfahren zu rekonstruieren versuchen. Dabei geht es aber vor allem darum, die präventivmedizinische Relevanz der »Paläo-Diät« zu hinterfragen (STRÖHLE; WOLTER 2008). Ihre Befunde und Aussagen beschränken sich im Wesentlichen auf vermutete Mengenverhältnisse animalischer und pflanzlicher Kostanteile, die die frühen Homo-Typen15 in den jeweiligen Habitaten klima- und jahreszeitabhängig verzehrt haben könnten (STRÖHLE; WOLTER 2008).16 Der Anteil gegarter Nahrung, insbesondere stärkehaltiger Speicherwurzeln und Knollen (USOs),17 wird in erster Linie unter energetischen Aspekten diskutiert, die mit dem Glukosebedarf der immer größer werdenden Gehirne früher Homo-Spezies in Zusammenhang stehen. Ob Garaktaktivitäten auch durch sensorische Phänomene angeregt wurden, ist ungewiss, kann aber vermutet werden, zumal Nahrungskomponenten epigenetische 'Schalter' aktivieren, auf die wir weiter unten noch zurückkommen (SAPOLSKY 2017; S. 303 ff.).

      Aussagen über veränderte Ernährungsweisen, die mit dem technologischen Fortschritt des modernen Homo sapiens einhergehen (und durch archäologische Funde belegt sind),18 beziehen sich ausschließlich auf Rohstoffanteile, mit denen das Nahrungsspektrum erweitert wird (»broad spectrum revolution«) (STRÖHLE 2008; S. 180). Ob Zubereitungstechniken Ernährungsvorteile brachten,19 sich begünstigend auf die Gesundheit und allgemeinen Lebensbedingungen, auf die Populationsgrößen und das Sozialverhalten ausgewirkt haben, wird nicht reflektiert (abgesehen von Überlegungen, die beispielsweise WRANGHAM 2009 dazu formuliert hat). Begründung: Es fehlen belegbare Anhaltspunkte.

      Die letzte Entwicklungsphase von Homo sapiens, einem anatomisch und geistig modernen Menschen, liegt, gemessen an den großen Zeiträumen der Hominisation zeithistorisch in unmittelbarer Nachbarschaft zu unserer Gegenwart. Wir können diese Phase sozusagen noch mit eigenen Augen betrachten, nämlich als kulturelle Hinterlassenschaften (Artefakte, Mauern, Waffen, Geräte etc.) und künstlerisch-geistigen Zeugnissen (z. B. Höhlenmalerei). Es ist anzunehmen, dass in dieser Zeit auch komplexere Zubereitungstechniken entwickelt worden sind, die geschmackliche Ziele verfolgten (denn das Garen mit Hilfe von Feuer war bereits Usus) und damit den Wandel des Menschen vom Natur- zum Kulturwesen einleiteten.

      1.1.1 Feuerstellen belegen die Anwesenheit von Menschen

      Archäologische Aussagen zu Feuerstellen, an denen auch 'gekocht' wurde, sind meist mit Vorbehalten versehen und liegen zeithistorisch weit auseinander. Je weiter diese Fundstellen vor der jüngeren Phase der Steinzeit (Neopaläolithikum) liegen, desto weniger lässt sich ermitteln, ob an diesen Feuerstellen auch gekocht wurde. Dafür gibt es mehrere Gründe: Die meisten von Menschen bewohnten hoch gelegenen Höhlen oder Felsüberhänge (Abris)20 bestanden aus bestanden aus weniger hartem Buntsteinsand und Kalk, die rasch erodieren und an deren Wänden kaum Nutzungs- und Feuerspuren erhalten sind. Außerdem lagen Teile Europas vor etwa 500 000 und 400 000 Jahren wiederholt unter einer dicken Eisschicht, sodass viele Gletscher früheste Siedlungs- und Feuerstellen zerstört haben. Die derzeit älteste Fundstelle außerhalb Afrikas (Gesher Benot Ya'aqov im Norden Israels) belegt die Nutzung von Feuer vor 790 000 Jahren (GOREN-INBAR 2014). Dort wurden u. a. Faustkeile, verbrannte Reste von Samen, Oliven, Wildgerste und Wildtraubenkerne gefunden. Weitere Funde außerhalb Europas lassen vermuten, dass sich die Frühmenschen mindestens seit 1,9 Million Jahren – zumindest teilweise – von gegarter Nahrung ernährt haben (WEBER 2012).21 Ebenso gibt es Hinweise auf Feuer und Röstaktivitäten, die zwischen 1,5 und einer Million Jahren alt sind,22 und schließlich verorten einige Archäologen den Beginn der Gartechniken in ein wesentlich jüngeres Datum, nämlich in weniger als 200 000 Jahre (GIBBONS 2010) .23 Einigkeit besteht nur darin, dass Homo erectus als Erster die Fähigkeit besaß, Feuer zu entfachen und am Brennen zu halten (WONG; WOOD 2015, VIEHWEG 2011).24

      1.1.2 Geschichte der Menschheit – von Australopithecus afarensis bis Homo sapiens

       Abbildung 1 Stammesgeschichte des Menschen

      Die 'Südaffen' Australopithecus afarensis und africanus (die körperlich kleinste Gattung der Hominiden – eine Familie der Primaten) werden als Vorläufer des Menschen angesehen. H. Rudolfensis und H. habilis gelten als erste Vertreter der Gattung Homo (sog. Urmenschen). Weitere Homo Arten: H. habilis (bzw. H. ergaster), gelten als direkte Vorläufer des archaischen H. erectus. H. antecessor und H. heidelbergensis sind Vorläufer von H. sapiens – dem modernen Menschen. Die Entwicklungslinie von Neandertaler und H. sapiens hat sich vermutlich vor 800 000 Jahren getrennt (ALBAT 2019).Vergleichbar früh trennte sich der Denisova-Mensch (nicht eingezeichnet) von der Stammeslinie des rezenten Menschen. Genetisch passt er weder zum Neandertaler noch zum H. sapiens. Als H. antecessor (übersetzt: 'Vorläufer' des modernen Menschen) werden bis zu 900 000 Jahre alte Fossilien aus Nordspanien bezeichnet. Nach neuesten Funden kommen zwei weitere (nicht eingezeichnete) menschliche Vorläufer hinzu: Australopithecus sediba (er lebte vor knapp zwei Millionen Jahren in Afrika) und Homo naledi (ein möglicher Zeitgenosse des sehr frühen Homo sapiens) (DÖRHOFER 2019).

      1.2 Die Begriffe »Garen« und »Kochen«

      Obwohl es an dieser Stelle in erster Linie um die Rekonstruktion erster Gartechniken (ihrer Protoformen) geht, aus denen schließlich das Handwerk des Kochens hervorging, ist es sinnvoll, vorab die Begriffe Garen und Kochen zu definieren (s. Hintergr.-Info. unten). Diese Prozessbezeichnungen werden in Publikationen, die sich mit historisch zurückliegenden anthropogenen Ernährungsformen (u. a. in den Phasen des Paläolithikums) (BEHRINGER 2010)25 befassen, synonym verwendet werden.

       Hintergrundinformationen

      Das Wort »Garen« (von ahd. garo, garawēr: bereitgemacht, gerüstet, vollständig) (KLUGE 1975)26 meint den physikalischen Prozess hin zur Verzehrfertigkeit einer Zubereitung. Etwas ist 'gar', wenn durch innermolekulare Vorgänge die rohe Beschaffenheit beseitigt worden ist (enzymatisch oder mittels Säuren; meist durch Anlagerung von internem oder externem H2O an die durch kinetische Effekte freigelegten Bindungsstellen der Moleküle). Das Wort »Kochen« bezeichnet zwei unterschiedliche Prozessschritte, die eine Zubereitung betreffen: Zum einen: das Prozedere der Zubereitung selbst (die manuellen Tätigkeiten) und zum anderen: verschiedene thermische Verfahren (Abschn. 13.1, S. 204 ff.). Daneben ist »Koch/ Köchin« eine Berufsbezeichnung für jemanden, »der die Mahlzeiten zubereitet, heiß macht« (KYTZLER et al. 1995)27, was auf lat. coquere: »kochen« bzw. »sieden« zurückgeht. Letzteres setzt die Gegenwart von Wasser voraus, woraus sich der allgemeine Sprachgebrauch für Kochen als Garverfahren mit heißem Wasser erklärt. WRANGHAM bezeichnet jene Praxis, mit Feuer auf Rohstoffe direkt oder indirekt einzuwirken, sowohl als »Kochen« als auch als »Garen«. Allerdings wird heute niemand mehr das bloße »Hineinwerfen« von auf dem Feld liegenden Kartoffeln in brennendes Kartoffelkraut als Kochen bezeichnen. Andererseits ist es gebräuchlich, zu sagen, Eier, Spaghetti, Reis oder Kartoffeln zu »kochen« – nicht aber zu »garen«. Hier wird der Begriff »Kochen« als terminus technicus gebraucht, der das feuchte Garverfahren »Kochen« definiert (nämlich als das vollständige Eintauchen eines Garguts in 100°C heißes Wasser).28 Feuer, ebenso Wasser, sind hier (energetisch unterschiedliche) thermische »Werkzeuge« zur Herstellung der Genießbarkeit. Wenn wir heute über Kochen sprechen, dann meinen wir eine zeit- und arbeitsaufwändige Bearbeitung von Rohstoffen, bei der verschiedene Anteile gezielt und nach aromatischen Kriterien kombiniert werden. Wer eine 'Feld-Kartoffel' in die Glut wirft, »kocht« also nicht, sondern gart sie, macht rohe Kartoffelstärke verdaubar. Weil aber die Herstellung der Gare auch immer Ziel jeglicher Kochtätigkeiten ist, wird der Garvorgang selbst – obwohl er nur Teil der Zubereitung ist – zur Kernbedeutung dessen, was das Wort »Kochen« ausdrückt.

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