Old Hansen oder 7 Tage eines Mannes aus der Nachbarschaft. H.R. Sebastian

Old Hansen oder 7 Tage eines Mannes aus der Nachbarschaft - H.R. Sebastian


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ging in die autoleere Garage, die durch eine Tür im Hausflur mit der Wohnung verbunden war. Mit 50 hatte Hansen sein letztes Auto verkauft und sich vom Erlös ein Motorrad mit Seitenwagen angeschafft. Es war sein Lebenstraum gewesen, den seine Frau sogar mit ihm teilte. Und weil die Kinder damals in einem Alter waren, wo ihnen Reisen mit den Eltern total an ihren Leibern vorbei gingen, nutzten sie die Gelegenheit und bereisten die Welt im Umkreis von nie mehr als 100 km. Nach acht Jahren verstarb das Motorrad ganz plötzlich und verschwand aus ihrem Leben. Da entdeckten beide das Reisen im Nachtzug und so begann eine neue Zeit. Nun standen nur noch ein kleiner Handwagen und zwei Fahrräder in der Garage als Fuhrpark zur Verfügung, die Hansen für die kleinen Reisen genügten. Ansonsten hatte sich Hansen über die Jahre eine kleine Werkstatt mit Lagerregalen eingerichtet, wo er aber eigentlich nur Sachen reparierte. Für Basteleien fehlten ihm die passenden Ideen, zumal er nicht wusste, was er mit dem ganzen Zeug hätte anstellen sollen.

      Hansen legte die Angel in den Handwagen und suchte noch ein paar wichtige Utensilien zusammen. Gummistiefel, einen Klappstuhl, Drahtheringe, einen Eimer, den Gartenteichkäscher, eine Thermodecke wanderten allesamt zur Angelrute in den Wagen hinein, der auch einiges an Staub abbekommen hatte wie Hansen bemerkte. Also putzte er ihn oberflächlich mit einem Lappen, den er aus einer Holzkiste zog, ab. Alsbald warf Hansen ihn achtlos zurück und montierte den Anhänger an sein Fahrrad. Eigentlich war das Montieren nur eine Steckverbindung, aber montieren klang nach «etwas können». Und weil es eben kein großer Aufwand war, die Gefährten zusammen zu führen, ordnete Hansen den Inhalt des Anhängers noch mal neu, eben so, dass nichts herausfallen konnte. An die nach hinten hinausragende Angelrute band Hansen einen roten Wimpel, den er mal aus einer alten Bluse seiner Frau geschnitten hatte und von dem er fand, dass an ihm ein paar restliche Duftfetzen ihres Parfüms hingen.

      Hansen pumpte auch alle Reifen am Fahrrad und Anhänger auf, testete das Licht und schob das Gefährt noch ein Stückchen Richtung Garagentor, wo er es abstellte und das Fahrrad mit dem Fahrradständer gegen vermeintliches Umkippen sicherte. Es sollte früh losgehen. Und gut vorbereitet zu sein, bedeutet eben vor allem, mehr Zeit fürs Vergnügen zu haben.

      Hansen suchte im Haus seine Anglerkluft zusammen und legte alles sorgfältig in der Reihenfolge des Anziehens auf den blauen Plastikstuhl im Badezimmer. Latzhose, Pullover, T-Shirt, Unterhemd, Socken und zuletzt Schlüpfer. Hansen dachte nicht daran, es jetzt, nachdem seine Frau gestorben war, in der Ordnung schleifen zu lassen. Dann hätte er sich ja gleich neben sie legen können. Er wollte den ersten freien Sonntag seit Jahren ganz in seinem Sinne zelebrieren und da konnte Unordnung ganz schnell dafür sorgen, dass alles von jetzt auf gleich ins Chaos stürzte. Lebenserfahrung, reine Lebenserfahrung, dachte Hansen und plötzlich steckte er wieder im Kokon. Es schien ihm fast wie ein Raumschiff, das ihn irgendwohin bringen sollte und die Phasen wurden immer länger. Hansen bemerkte zum ersten Mal, dass der Kokon Türen besaß. Doch ehe er sie öffnen konnte, fand er sich in seinem Haus wieder. Hansen taumelte und musste sich am Küchenbuffet festhalten, um nicht zu stürzen. Irgendwas passierte mit ihm seitdem er allein in diesem Haus umherging. Vielleicht war er nur noch ein Geist, bestenfalls ein lebendiger Tattergreis. Hansen schmunzelte, denn jetzt war es mehr als nur ein Gerücht, dass jeder einmal sterben würde. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er die Lebensmüdigkeit und sie machte ihm keine Angst. Alles schien erledigt zu sein und der Rest war Bonus und den wollte er ganz für sich allein genießen.

      Es war kurz vor 22 Uhr, als Hansen beschloss ins Bett zu gehen. Wie immer las er einen der Liebesbriefe seiner Frau, bevor er das Licht ausknipste. Die meisten der Briefe stammten aus ihrer Jugendzeit, erst seit der Krankheit seiner Frau hatten sie wieder begonnen sich Briefe zu schreiben. Denn während sie verheiratet waren, wohnten sie selbstverständlich auch zusammen. Und so besaßen sie eben den gleichen Briefkasten und aus Briefen wurden gesprochene Worte, wenn auch immer weniger. Die Angst machte der Selbstverständlichkeit Platz und die Poesie vertrocknete wie die Tinte in dem vergessenen Federfüllhalter in der Schublade von Hansens unbenutztem Schreibtisch. Das alles hieß aber nicht, dass es den beiden an Zuneigung und Zärtlichkeit fehlte. Ganz im Gegenteil, die Poesie trug nur ein anderes Gewand. Manchmal war es das Schweigen am Küchentisch, die Wiederkehr nach einer räumlichen Trennung, die Kinder, der schnöde Alltag, der Sex, all das hatte auf irgendeine Weise seine eigene Poesie, man musste nur gut dichten können.

      Hansen weinte, der Tod seiner Frau rückte ihm nun dicht auf die Pelle, drang durch sie ein und durchwühlte alle Organe bis Hansen in Ohnmacht fiel.

      Alle Organe befanden sich wieder an ihrem von der Natur vorgesehenen Platz. Hansen schaute auf den tickenden Wecker. Es waren noch zwanzig Minuten bis Mitternacht. Er ging in die Küche, nahm ein Glas aus dem Küchenschrank und füllte Wasser aus dem Wasserhahn hinein. Er stellte das volle Glas neben dem Spülbecken ab und steckte nun seinen Kopf unter den kalten Wasserstrahl.

      Das kalte Wasser wusch die letzten Anstrengungen aus seinem Kopf, schließlich kippte Hansen das Wasser aus dem Wasserglas in seinen ausgetrockneten Hals und er verschluckte sich an seiner eigenen Ungestümtheit. Er spie das Wasser wieder aus und musste sich einen neuen Schlafanzug holen, wobei er fast auf seinem Erbrochenen ausgerutscht wäre. Der Tag endete schlimmer, als er angefangen hatte. Hansen ahnte, dass er alt war und schlimmer noch, das Alter brach plötzlich über ihn her. Mit 96 Jahren war es kein Wunder alt zu sein, aber bis gestern hatte es sich nicht so lauthals bemerkbar gemacht. Oder war er einfach blind gewesen, hatten seine Kinder Recht?

      Hansen ging ins Badezimmer und zog den nassen Schlafanzug aus. Nackend ging er durchs Haus zurück ins Schlafzimmer. Er nahm einen neuen Schlafanzug aus dem Schrank, zog ihn an und wischte ihn an seinem Körper glatt. Der Wecker zeigte zehn vor Mitternacht an. Der Sonnabend verstarb in den mitteleuropäischen Breiten und Hansen wurde einfach nicht müde.

      Vielleicht half ein Buch. Hansen nahm sich ein Buch vom Nachttischschrank seiner Frau. Der Staub hatte es eingehüllt und Hansen pustete ihn in Richtung Bettvorleger. Doch es nutzte nicht viel, Hansen musste schließlich doch seinen Schlafanzugärmel benutzen, um das Buch vollkommen zu entstauben. Endlich konnte es losgehen. Hansen klappte das Buch auf und ihm fiel ein Zettel in den Schoß. Hansen legte das Buch wieder beiseite und widmete sich dem Zettel, der zerbrechlich wie ein vertrocknetes Herbstblatt daherkam. Hansen kannte den Zettel, er musste jetzt fast siebzig Jahre alt sein und die Tinte ebenso. Irgendwie schienen sie sich gegenseitig festzuhalten. Hansen las den Text und fing an laut zu lachen. Den Zettel hatte er einmal von einem Matrosenfreund bekommen, der sich in jungen Jahren ein ganzes Gebiss an Hansens Frau in spe ausgebissen hatte. Am Ende seiner Versuche war er so erbost wegen ihrer Ablehnung, dass er seine Wut in Worte fasste, getraut hatte sich sein Freund jedoch nicht, ihn ihr selbst zu überreichen, dann hätte er sich wahrscheinlich vor Scham in die Hosen gemacht.

      Hansen aber war ein Fuchs gewesen. Er brachte den Zettel zu seiner, von ihm selbst Angebeteten, und sagte, dass er nur der Bote sei und impfte ihr so eine erste Erinnerung an ihn. Allein, dass der Zettel noch existierte, verwunderte Hansen etwas, doch er rührte nicht weiter in diesen Gedanken herum, sondern las sich dieses stümperhafte Gedicht nach vielen Jahren erneut durch.

       Die Nachttischlampe

       Unter einer Nachttischlampe schrieb ich

      diesen Vers für Sie.

       Es war so finster in meinem Zimmer

      wie wohl in Ihrem Herz.

      So leuchtet die Nachttischlampe heller,

      als Deine Seele,

      Du Nachtischschlampe.

      Hansen lachte auf, denn so schlecht war das Wortspiel wiederum nicht, inhaltlich jedoch einfach nur dümmlich und beschämend frivol. Ihm schmerzte hauchvoll die Brust, ihr würde es glücklicherweise nicht mehr weh tun. Hansen hatte sich schon viel eher als sein Kamerad in diese Frau verliebt. Doch Hansen war kein räudiger Hund gewesen. Er war eben ein Fuchs und wartete bis der Hund den Schwanz eingezogen hatte. Und Hansen spürte immer noch die Wut in ihm, die ihn fast dazu gebracht hatte seinem Kollegen aufgrund des Sprüchleins eine Faust ins Gesicht zu schlagen. Nun war alles anders. Im Alter wurden Erlebnisse zu Episoden über die man lachte, denn eins war klar, man war damals nicht daran gestorben, so würde es heute auch nicht passieren.

      Hansen


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