Eingezogen. Ein Wehrpflichtiger der NVA erinnert sich.. Hans-Joachim Grünitz
Soldaten in der Grundausbildung standen auf dem Dienstplan. Wir rückten morgens aus. Es ging in voller Montur zum ISG, dem »Immitationsschulgelände«. Alle Mann in Felddienstuniform, Felddienstkäppi, Vollschutzausrüstung, Stahlhelm an der Seite, über der Schulter das russische MG »Kalaschnikow« und an einem Tragegestell auf dem Rücken das Teil 1, eine Art Tornister. Teil 2 hatte man uns diesmal erspart. Dieses hätte man noch an Haken unter dem Teil 1 befestigen können. Dafür hingen aber noch ein Seitengewehr und die Munitionstasche am Koppel. In der Munitasche befanden sich 4 Magazine mit Platzpatronen. Die klappernde und äußerst hinderliche Ausrüstung wurde ergänzt durch die Feldflasche und das mitzuführende Kochgeschirr, das dem fiktiven Feind schon von weitem meldete, »Wir kommen!«
Aber erstmal rasselten wir in dieser Aufmachung mitten durch die Stadt. Und wie das so ist, immer schön im Gleichschritt oder auch »Ohne Tritt, Marsch«. Die Kompanie geordnet nach Zügen und die Genossen in den Zügen nach Größe. Das hatten wir ja schon vorher auf dem Exerzierplatz bis zum Umfallen geübt. Unter der Last der Ausrüstung, wir sagten immer, der deutsche Soldat schleppe seinen ganzen Schrank mit ins Feld, brach unser letzter und kleinster Genosse im Glied beinahe zusammen. Ein Soldat, der nach unserer Meinung nicht die Mindestgröße gehabt haben dürfte, um eingezogen zu werden. Irgendwie muß die Meßlatte des Musterungsarztes einer Sabotage des Feindes zum Opfer gefallen sein oder der Musterungsarzt hatte schlechte Laune. Wie auch immer, nicht einmal unsere nicht gerade zimperlichen Vorgesetzten konnten die Sachlage verstehen. Aber Befehl ist Befehl und der Mann mußte mit. Leider zum Spott aber auch zur Empörung der Zivilisten im schönen Johanngeorgenstadt. Man stelle sich einen Gartenzwerg in Kriegskleidung vor und bis an die Zähne bewaffnet. Uns tat der Mann leid. Bald aber konnten wir uns selber leid tun, denn was jetzt losging, gab es viele, viele Male in diesem ersten halben Jahr. Zur Einstimmung lernten wir erst mal gründlich die schöne Umgebung kennen. Ein riesiger Umweg zu unserem Ziel bescherte uns dieses Erlebnis, welches noch mit netten Einlagen gespickt war. Wenn die Laune der Uffze sich plötzlich hob, dann hatten die immer etwas pyrotechnisches Spielzeug dabei und wollten das nun unbedingt ausprobieren. Also hasteten sie nach vorn und irgendwo in einer hohlen Gasse warfen sie zum Beispiel Tränengaspatronen und Übungsböller von oben herab. Einer schrie: »Gasalarm!«. Alle legten die Schutzmaske an. Wer den Schlauch im Gasmaskenbehälter von dem dort befindlichen Filter abgeschraubt hatte, um beim Marsch unter Maske unerlaubterweise besser Luft zu bekommen, der hatte jetzt ein Problem: Tränengas reizt mächtig und in so einem Falle auch die Schadenfreude der Unteroffiziere. Ein weiteres beliebtes Spielchen war: »Fliegerangriff von links!«. Alles fiel, Deckung vor dem imaginären Feind suchend, in den Dreck. Und so immer schön weiter, streckenweise in »kurzen Sprüngen« bis wir endlich am ISG angekommen waren. Jetzt war erstmal kurze Rauchpause angesagt und Frieren.
Durchgeschwitzt vom langen Marsch standen wir da in unserer Sommerdienstuniform, obwohl es in den Vormittagsstunden noch recht kalt in den Bergen rund um Johanngeorgenstadt war. Allerdings nicht lange, denn jetzt ging´s erst richtig los. Grundstein jeder Gefechtsausbildung ist es, zu lernen, sich nach Befehlen richtig zu bewegen. Wo kämen wir wohl sonst hin, wenn jeder in eine beliebige Richtung verschwinden würde? Also lernten wir die Bewegungsarten eines Soldaten im Gelände, welche da z.B. sind das Laufen in Reihe, in Kette, in kurzen Sprüngen, das Kriechen oder auch Gleiten bzw. Robben genannt und und und. Sehr hilfreich für eine möglichst gefechtsnahe Ausbildung war der aufgeweichte, nasse, dreckige, matschige Boden an bestimmten Stellen, die dann auch bevorzugt benutzt, d.h. befohlen wurden. Diese momentanen persönlichen Ärgernisse sollten helfen, in einem eventuellen Ernstfall, besser durch das Schlachtfeld der Ehre zu kommen.
Auf dem ISG stand zu Übungszwecken ein ausgedienter Panzer, ein alter T34 russischer Bauart, an dem wir aber nie geübt haben. Jedoch hatte dieser eine magische Anziehungskraft auf uns. Wollten wir doch so´n Ding auch mal von innen sehen. Eine Pause in der Gefechtsausbildung nutzend, setzten wir auf, d.h. wir kletterten unbemerkt hinein. Der Turm ließ sich tatsächlich noch mittels Handkurbel drehen, so wie auch das Kanonenrohr in der Vertikalen beweglich war.
Da das ISG mitten in touristisch erschlossenem Gebiet lag, war kaum zu verhindern, daß sich hin und wieder Wandersleute hierhin verirrten und dann gemütlich und hochinteressiert über den Platz schlenderten. Diese Zivilkontakte waren natürlich nicht unbedingt im Sinne des Militärs, wo ja ohnehin alles so geheim war, daß man selber nicht wußte, was man da gerade tat. Also machten wir uns den Spaß und drehten das Kanonenrohr in Richtung der zivilen Spaziergänger. Die wurden irgendwie unruhig und gingen in den beschleunigten Schritt über. Als sich dann noch das Rohr in eine ballistisch direkte Anvisierung senkte, so daß unsere Wandersleute nur noch die sie verfolgende kreisrunde, schwarze Mündung sahen, ergriffen sie die Flucht und rannten dorthin, wo sie hergekommen waren.
Glücklicherweise hatte die Sache für uns kein Nachspiel und man möge uns im Nachhinein verzeihen, hatten wir doch sonst eher selten etwas zu lachen. Noch den ganzen Tag tummelten wir uns auf diesem abwechslungsreichen Immitationsschulgelände. Und es waren noch viele Tage, welche uns dieses Gelände bis auf den letzten Zipfel kennenlernen ließen. Man könnte eventuell noch heute die Spuren von damals feststellen, denn es müßten ungezählt viele unabgefeuerte Platzpatronen in der dortigen Erde stecken. Bei den Angriffen mit befohlenem «Hurraaaaa”-Geschrei auf unseren unsichtbaren Feind sollte aus allen Rohren der Maschinenpistolen gefeuert werden. Jeder wußte aber, daß Platzpatronen besonders viel Dreck in der Waffe hinterlassen und in der Kaserne angekommen, war zu später Stunde Putzen angesagt. Also führten wir den Krieg mehr lautlos, zur Wut unserer Unteroffiziere, aber die konnten ja nicht überall sein. Die guten Patronen ließen wir zwecks Beweisentlastung unbenutzt im Erdreich verschwinden. Das war im wahrsten Sinne des Wortes Munitionsverschwendung.
Mittags gab es das so überaus beliebte Essen aus dem Kochgeschirr. In Kübeln herangefahren, wurde von der Ladefläche des W50 herab in die Geschirre gekellt. Das Speisen aus dem Kochgeschirr war am appetitlichsten, wenn es Eintopf gab. Ein Einsatz im Kochgeschirr verhinderte zumindest, daß bei anderen Gerichten nicht auch der Nachtisch mit allen anderen Essenskomponenten vermischt wurde. Zur Ehrenrettung der Küchenbullen, so nannten wir die Küchenverantwortlichen, sei erwähnt, daß diese auch hin und wieder Plasteteller mitschickten. Von denen ließen sich Fleischgerichte einfach besser essen.
Nach erfolgtem Rückmarsch in die Kaserne, welcher meist ruhig verlief, da bei den Vorgesetzten auch die Luft raus war, gab es dann, wie schon erwähnt, das Waffenreinigen. Es galt der Grundsatz: erst die Waffe, dann der Soldat. Der Waffe erging es dabei allerdings meist besser als uns, war doch Duschen nur einmal die Woche möglich. Aus den Stuben holten wir unsere Hocker. Richteten diese in einer langen schnurgeraden Reihe auf dem Flur aus und legten unsere auseinandergenommenen Waffenteile nebst Reinigungsgerät darauf. Wir standen dahinter. Eine Waffe war sauber, wenn der Vorgesetzte diese für sauber erklärte. Das konnte lange bis sehr lange dauern. Manchmal bis zum Zapfenstreich.
Unterricht
An einigen Tagen stand theoretischer Unterricht auf dem Dienstplan. Die Welt hätte ich umarmen können an solchen Tagen. Eine Erholung! Und wer nicht blöd war, hatte nichts auszustehen. Doch schlauer als der Vorgesetzte sollte man tunlichst nicht sein. Das war aber nicht immer leicht! Der Stoff, nicht sonderlich anspruchsvoll, war mehr auf Geheimhaltung ausgerichtet. Und der gemeine Soldat ist ja ohnehin nur Befehlsausführender. Er braucht nur soviel zu wissen, um einen Befehl ausführen zu können! Also gab es ein wenig Waffenkunde, die oft zitierte Ballistik oder die Beantwortung solcher Fragen: »Wie sieht der Feind aus, was hat er für Uniformen, welche Waffen und Fahrzeuge?« Hier halfen die von meiner Wandzeitungsredaktion abgemalten Lehrtafeln der Nachbarkompanie. Lehrmaterial war knapp, man mußte sich eben zu helfen wissen.
Rein ideologisch betrachtet, weiß ich allerdings heute noch nicht, wie unser damaliger Feind ausgesehen hat. Dafür gab es aber zuhauf Erörterungen »Vom Sinn des Soldatseins« im Politunterricht, von uns »Rotlichtbestrahlung« genannt. Auch die »Aktuell politische Information« gehörte dazu. Diese hatte stets eine Tendenz zur Tendenz, will sagen, sie war strikt einseitig in ihrer Betrachtungsweise. Kein Wunder, wollte man doch vom kalten Krieg nicht loslassen. Kurz und gut, es galt das »Militärische Kampfkollektiv« auch theoretisch zu formen.
Bei all der Theorie war es ein Spaß aus dem Fenster zu schauen. Dort unten auf dem Kasernenhof übten