Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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schüttelte ich den Kopf, wie um mir zu sagen, dass ich hier sofort raus müsse. Ich machte ein paar Schritte und schloss, ohne mich noch einmal umzudrehen, hinter mir die Tür. Klaus’ Stimme drang gedämpft durchs Schlüsselloch und den schmalen Spalt zwischen Tür und Fliesenboden. Er sprach mit sich selbst. Die Worte waren nicht verständlich. Es war ein monotoner Singsang. Darauf achtend, kein Geräusch von mir zu geben, presste ich das linke Ohr gegen das Holz.

      »… haben sie ihn nicht erwischt«, murmelte er. »Hoffentlich nicht. Das war halt schon auffällig. Dass er da mitten am Tag bei mir vorbeischaut und dann nach zehn Minuten schon wieder verschwindet. Die werden dahinterkommen, ganz bestimmt, dann sind sie mir wieder einen Schritt voraus. Nicht gut wäre das, gar nicht gut. Ich muss Albert warnen, hätte ihn nicht gehen lassen sollen, er hätte nicht so schnell gehen dürfen. Das darf mir nicht nochmals passieren. Dass sie ihn auch noch erwischen, nein, das wäre schlecht, denn ich hab …«

      Genug. Ich beschloss, dass ich genug gehört hatte, stieg langsam die Treppen nach unten und verließ das Gebäude in eine Welt, die ich nicht mehr kannte. Was war mit ihm geschehen? Mein Herz pumpte schnell. Ich spürte einen steigenden Druck in meinem Kopf, das Pulsieren der Adern an meinen Schläfen. Meine Hände rutschten in die Tasche, um eine Zigarette und das Feuerzeug hervorzuholen. Rauchend stand ich da, mit dem Oberkörper an die graue Hausmauer gelehnt. Was, um Himmels willen, war nur mit ihm geschehen? Ich konnte es nicht einordnen, kramte mein Mobiltelefon hervor, rief Klaus’ Mutter an. Sie hob nicht ab. Auf den Anrufbeantworter wollte ich nicht sprechen. Das konnte ich nicht. Sobald der Piepton erklang, pflegte ich stets in eine Art Mund- oder Wortstarre zu verfallen. Wenn ich aber doch sprach, kamen Sätze heraus, die keinen Sinn ergaben und kaum verständlich waren. Das wollte ich ihr ersparen. Bei Elisabeth brauchte ich es erst gar nicht zu versuchen. Sie war in der Arbeit, brachte Kindern, die noch kaum etwas verstehen, oder Jugendlichen, die gerade nichts verstehen wollen, oder Pensionisten, die leider nichts mehr verstehen können, die Bedeutung der Pinselstriche der alten Meister näher. Ich würde ihr am Abend in Ruhe den Vorfall schildern. Dann wäre da noch Klaus’ Schwester Martha. Ja, sagte ich mir, sie könnte ich anrufen. Das wäre möglich. Vielleicht weiß sie etwas über Klaus’ Zustand, das ich nicht weiß. Doch ich zögerte. Nach all den Jahren waren wir nicht miteinander warm geworden. Vor etwa einem Jahr versuchte ich ihr in einem unserer seltenen Gespräche zu verdeutlichen, dass es absolut keinen Grund gäbe, mich andauernd mit schrägen Blicken zu bedenken. Sie meinte, man werde sehen. Freilich hatte sich nichts geändert, ihr kühler Gesichtsausdruck war kühl geblieben und ich hatte nach und nach die Hoffnung aufgegeben, dass ich zu ihr durchdringen könnte. Und wofür auch?, hatte ich mich gefragt. Sie ist kaum bei ihren Eltern und wohnt weit genug von Wien entfernt, ich werde einfach damit leben müssen, dass es Menschen gibt, die mich nicht leiden können. Es kostete mich einige Überwindung, Marthas Nummer zu wählen, doch von wählen war genau genommen keine Rede. Als ich ein Kind gewesen war, hatte es noch recht lange gedauert, bis man alle Ziffern mithilfe der Wählscheibe bis an den Anschlag gedreht hatte, dazwischen konnte man es sich locker anders überlegen und den Vorgang beenden, noch bevor das Telefon auf der anderen Seite der Leitung zu klingeln begonnen hatte. Telefonieren ist heute kein Anwählen mehr, sondern zuerst ein Anwischen, gefolgt von einem Andrücken.

      »Albert? Was willst du.«

      »Hallo, Martha«, sagte ich, doch dann wusste ich nicht mehr weiter. Die Hand, die das Mobiltelefon hielt, zitterte.

      »Hallo?«, fragte Martha. »Hast du mich unabsichtlich angerufen?«

      »Nein«, stammelte ich, »nicht unabsichtlich. Es ist nur, ich …«

      »Albert, sag, was du zu sagen hast, oder ich leg auf.«

      Ich schluckte oder versuchte zu schlucken.

      »Es geht um Klaus.«

      »Sind seine Anfälle etwa stärker geworden?«, fragte sie. Ihre Stimme hatte sich verändert. Der genervte, zynische Unterton war verschwunden.

      »Nein«, antwortete ich, »das ist es nicht.«

      »Was dann?«

      »Wenn sich das so leicht sagen ließe. Ich weiß auch nicht. Er scheint völlig verwirrt zu sein und redet sinnloses Zeug.«

      »Das macht er doch sonst auch.«

      »Mag sein«, sagte ich, »diesmal ist es jedenfalls anders.«

      »Wie anders? Jetzt sprich doch endlich Klartext!«

      »Na, er redet andauernd von Verfolgern, von irgendwelchen Priestern, die ihm an den Kragen oder an sein Geld wollen. Es klingt komplett verrückt. Als ob er ein anderer Mensch wäre. Am Anfang habe ich noch gedacht, er macht einen Witz, aber er hat nicht damit aufgehört, verstehst du?«

      Es war lange still am anderen Ende der Leitung. Durch den Hörer vernahm ich das Klicken eines Feuerzeugs, ein Inhalieren und kräftiges Ausatmen.

      »Das ist sicherlich eine Art Performance«, sagte Martha schließlich.

      »Das glaube ich nicht«, entgegnete ich.

      »Ich schon. In den Ferien hat er mir von der Performance-Klasse erzählt, da nimmt er gerade interessehalber an einem Seminar teil.«

      »Das weiß ich doch«, sagte ich gereizt, »aber das hat damit nichts zu tun.«

      »Bist du dir sicher?«, fragte sie. »Er hat irgendetwas von bewegten Skulpturen gesprochen, von Menschen, die in bestimmten Positionen einfrieren und verschiedenste berühmte Skulpturen nachstellen. So was in der Art. Temporäre Skulpturen hat er es genannt. Vielleicht stellt er gerade eine Figur dar und übt, oder was weiß ich. Hat er nicht in ein paar Wochen sein Diplom? Soviel ich weiß, werden kurz davor ja alle verrückt.«

      Ihre Stimme war wieder ins Zynische abgerutscht. Ich dachte kurz darüber nach und fragte mich, ob sie womöglich recht hatte. Klaus hat, als wir uns kurz vor Weihnachten noch mal getroffen hatten, lange über die Erkenntnisse aus diesem Seminar erzählt. Dass es eigentlich keinen Sinn mehr mache, eine Plastik zu erschaffen, wenn sie bereits in seiner perfektionierten Form, als menschlicher Körper, vorhanden wäre, und zwar mehrere Milliarden Male über die ganze Erde verteilt. Dass wir selbst – ohne es zu wissen – das größte Kunstwerk wären. Schon von Anfang an formvollendet. Dass wir nur einfrieren bräuchten in einer bestimmten Körperhaltung und somit alles schon vorhanden wäre, dass die Haltung alles erzählen würde, die Vergangenheit des Menschen verraten und die zukünftige Entwicklung vorwegnehmen, dass alle Informationen zu jedem Zeitpunkt abrufbar wären, sobald man sich auf eine Position einlassen, sie in sich aufnehmen, sie verkörpern würde. Was, wenn Klaus sich nicht nur in Haltungen, sondern darüber hinaus auch in Charaktere hineinzuversetzen versuchte? Wenn er eine Figur, einen ganz bestimmten Typus Mensch kopiert hatte, um ihn über das Ausagieren in Form zu bringen? Was, wenn er vorhin einfach nur geübt hatte, sich in eine lebendige Sprachmaske hineinzuversetzen, um sie sozusagen an mir auszuprobieren?

      »Bist du noch da?«, fragte ich.

      »Nicht mehr lange«, sagte sie.

      »Unter Umständen«, sagte ich, »hast du sogar recht.«

      »Sag den Satz noch einmal«, sagte sie, »aber diesmal, ohne das Wort sogar zu erwähnen. Und wenn du schon dabei bist«, fügte sie hinzu, »dann kannst du auch das Unter Umständen streichen.«

      »Ja, du hast recht«, sagte ich, und ich wünschte mir in diesem Augenblick, obwohl ich es nur ungern zugeben wollte, nichts anderes. Martha sollte recht haben. Was sie sagte, sollte stimmen. Sie soll doch die Wahrheit sagen. Bitte. Ich bitte darum. Ich bitte darum, damit ich daran glauben kann. Ich hörte sie noch etwas sagen, doch da ich das Mobiltelefon nicht mehr zum Ohr hielt, war das Gesagte kaum verständlich. Es interessierte mich auch nicht. Ich hatte gehört, was ich hören wollte. Alles war in Ordnung. Ich würgte Martha ab, indem ich, nicht ohne eine gewisse Befriedigung zu verspüren, den linken Daumen aufs rote Symbol drückte, sie wegwischte, sie abwählte. Der Lärm der Stadt kehrte zurück in mein Bewusstsein. Ja, alles war in Ordnung. Der Linienbus fuhr in die Haltestelle ein. Die Türen öffneten sich surrend. Ich stieg ein. Es piepste. Die Türen schlossen sich. Die Gummidichtungen quietschten. Ich hielt mich


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