Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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sich selbst zu töten oder es zumindest zu versuchen. Trotz alledem, sagte ich mir, wäre es wohl nicht angebracht zu feiern. Gleichzeitig ärgerte es mich, dass Leander mit seiner lächerlichen Tat in den Ablauf meines Lebens eingriff, auch wenn es sich bloß um so etwas Unbedeutendes wie eine Geburtstagsparty handelte. Ich stand nicht an seiner Seite, wenn er etwas zu feiern hatte, warum sollte ich dann an seiner Seite stehen, wenn es ihm schlecht ging? Wann hatte er mich das letzte Mal angerufen? Wann ich ihn?

      Es war früher Nachmittag, als ich Klaus anrief, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren. Er sprach nicht viel, was ich aber zwischen seinen Worten wahrnahm, sagte mir etwas, das nur ohne Worte zu sagen war. Klar würde er sich sehr freuen, wenn ich zu seiner Feier käme. Er fragte mich nicht, und gerade weil er mich nicht drängte, verspürte ich den Drang, ihm diese Freude zu bereiten. Wir waren inzwischen so etwas wie beste Freunde, auch wenn wir diesen Ausdruck niemals in den Mund genommen hatten. Wir wussten es. Das genügte.

      So kam es, dass ich wenige Stunden später tatsächlich vor Klaus’ Wohnungstür stand, in meinen nervös zittrigen Händen ein in Zeitungspapier eingewickelter Roman, der, so fand ich, bereits viel zu lange ungelesen in Vaters altem Musikzimmer gestanden hatte: Sanfter Asphalt. Ich kannte das Buch nicht und hatte daher keine Ahnung, ob es gut war. Laut Mutter hatte es kurz vor Vaters Tod den Weg in sein Bücherregal gefunden. Grund genug, so dachte ich, um anzunehmen, dass es einer gewissen literarischen Anforderung entsprach. Man konnte sich, so hatte ich es mir gerne vorgestellt, Vaters Bücherregal wie einen Filter vorstellen, der für ihn Unbrauchbares sofort wieder ausspuckte. Insgeheim war Vater darauf stolz gewesen, auf die Auswahl seiner Bücher und nicht minder auf die klassische Musiksammlung. Schade, dass er sie nicht mitnehmen konnte. An Klaus’ Tür stehend fragte ich mich, ob dieses Buch, wenn mein Vater es denn gelesen hätte, einen fixen Platz in seinem Regal bekommen hätte, um mit der Zeit den Staub des Alltags aufzunehmen, oder, wie so viele andere Romane auch, dem ungewissen Schicksal eines öffentlichen Bücherschranks übergeben worden wäre. Vielleicht würde es mir Klaus beantworten können. Ich klopfte an die Tür, drehte das Buch in meinen Händen und las auf der Verpackung die Schlagzeilen des gestrigen Tages. Jemand hatte jemanden aus Eifersucht erstochen. Ich hätte eine andere Doppelseite zum Einwickeln verwenden sollen. Nun war es zu spät. Klaus würde es hinnehmen müssen. Bevor ich noch länger darüber nachdenken konnte, rief jemand von innen, dass die Tür offen sei. Ich schaute an mir hinab. Täuschte ich mich oder war mein Bauch etwas runder, größer geworden? Mit der Handfläche strich ich das T-Shirt glatt. Es bewirkte nichts. Ich trat ein.

      Die Party war, wie man so schön sagt, bereits in vollem Gange. Durch die Tür sah ich ins Wohnzimmer. Klaus stand dort mit dem Rücken zu mir und unterhielt sich lebhaft mit einem seiner Studienkollegen, den ich von der Diplompräsentation her kannte. Aus den Boxen drang ein monotoner, treibender Beat. Ich betrat den Raum, nickte einigen Leuten zu, die ich vom Sehen her kannte und tippte Klaus auf die Schulter. Er drehte sich um. So sah Klaus aus, wenn er sich freute. Genau deshalb war ich gekommen. Bei diesem Anblick war es schwer vorstellbar, dass einem nicht das Herz aufging. Dann hörte er auf, sich zu freuen, schaute mich mitfühlend an und umarmte mich lange.

      »Alles Gute«, flüsterte ich in sein Ohr.

      »Es wird schon wieder«, sagte er.

      »Schon möglich«, sagte ich, »es ist mir einerlei.«

      »Komm schon«, meinte er, »lass uns heut Abend nicht negativ denken, okay?«

      »Okay.«

      Wir lösten uns aus unserer Umarmung und schauten einander an.

      »Okay?«, fragte er abermals, da er in meinen Augen den Rest eines Zweifels entdeckt haben mochte.

      »Ja doch«, sagte ich und versuchte zu lächeln. »Lass uns feiern!«

      Der Studienkollege hatte sich inzwischen einem anderen Gesprächspartner zugewandt. Ich überreichte Klaus das Geschenk. Er bedankte sich, las die Schlagzeile der Zeitung, lachte und fragte mich, ob dies Rückschlüsse auf den Inhalt zulasse. Ich zuckte mit den Schultern. Er riss das Zeitungspapier in zwei Hälften, sagte, dass er den Autor nicht kenne und fragte mich, woher ich es habe.

      »Aus dem Shop im Wien Museum«, log ich. »Keine Ahnung, wie es ist. Ehrlich gesagt habe ich es wegen der Fotos gekauft, die darin sind. Schau mal rein.«

      Er öffnete das Buch, las die Widmung, die ich ihm auf die erste Seite geschrieben hatte, und umarmte mich gleich nochmals. Dann erst blätterte er durchs Buch.

      »Es kommen keine Menschen auf den Fotografien vor«, sagte er.

      »Vielleicht kann der Autor sie nicht ausstehen«, witzelte ich.

      »Vielleicht«, meinte Klaus. »Oder es könnte genau andersrum sein.«

      »Möglich«, sagte ich. »Oder er hat die Fotos reingetan, damit er nicht so viel schreiben musste.«

      Klaus schmunzelte, las die ersten paar Zeilen und bewegte dabei stumm seine Lippen.

      »Es wird den vordersten Platz in meinem Regal für die zu lesenden Bücher bekommen«, sagte er. »Komm, hol dir was zu trinken. Bier und Weißwein schwimmen im kalten Wasser in der Badewanne. Die guten Getränke befinden sich im Kühlschrank.«

      »Die guten?«, fragte ich.

      »Du weißt schon, Gin, Pernod, so Zeugs halt.«

      »Wenn das so ist«, sagte ich, »dann findest du mich nebenan.«

      Ein Pärchen stand hinter mir und wartete darauf, Klaus zu gratulieren. Ich grüßte sie und ging in die Küche. Die Musik schwappte etwas gedämpft vom Wohnzimmer durch die Tür. Das Licht war gedimmt, ich fühlte mich das erste Mal seit ein paar Tagen wohl in meiner Haut und dachte tatsächlich nicht an Leander, dachte nicht daran, was für ein Idiot er war, dass er es einfach nicht lassen konnte, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, dass sich nichts geändert hatte.

      Eine junge Frau öffnete den Kühlschrank und griff mit der linken Hand nach einer Gin- und mit der rechten nach einer Tonic-Flasche, zog sie aus dem Regal und stellte sie unsanft auf dem Küchentisch ab. Etwas an ihrer Erscheinung – oder war es die Art, wie sie sich bewegte? – sprach mich an. Sie hatte kurze braune Haare, dunkle, von einer dünnen Brille umrahmte Augen und markante, fast männlich konnotierte Gesichtszüge. Sie trug ausgewaschene Jeans-Shorts und ein bauchfreies Top, wie es zurzeit wieder in Mode war. Aber es war nicht nur ihr Aussehen, das mich innehalten ließ. Vor mir stand ein Mensch, dachte ich, der sich sicher war. Woran ich das zu erkennen glaubte? An ihrer Art, sich aufzurichten, an der Art, wie sie das Glas vor sich abstellte, die Flaschen aufschraubte, die Flüssigkeiten vermischte. Ein Mensch, der wusste, wer er war und was er tat und warum. Von dieser Sorte gab es nicht viele. Klaus mag einer davon gewesen sein. Mich zählte ich jedenfalls nicht dazu. Vielleicht hielt ich mich deshalb gerne in der Nähe solcher Menschen auf, damit etwas von ihren Qualitäten auf mich abfärbte. Was ich wusste, war Folgendes: Ich wollte diese Frau kennenlernen und einen Gin Tonic trinken. Beides befand sich zwei Meter vor mir.

      Beim Sprechen vergaß ich, wer ich war, woher ich gekommen war, wohin ich gehen wollte, was gestern passiert war und was morgen zu erledigen wäre. Da war nur noch das Sprechen, das Erzählen, das Sich-Mitteilen. Es funktionierte aber nur, wenn auf der anderen Seite jemand stand, der die Gabe hatte, zuzuhören, still dazusitzen, von Zeit zu Zeit zu nicken und im richtigen Augenblick gezielte Fragen zu stellen. Es funktionierte nur, wenn man im Gesicht des Gegenübers eine Teilnahme wahrnahm, ein Sich-Hingeben und Fallenlassen, wenn die Augen des Zuhörenden zwei große leere Becken waren, die derjenige, der den Mund öffnete, mit seiner Flut an Sätzen, mit seinen Geschichten, Erlebnissen und Sorgen füllen konnte.

      Nun hatte ich also, obwohl ich mir vorgenommen hatte, Leanders Tat an diesem Abend auszuklammern, doch über ihn gesprochen. Meine halbe Lebensgeschichte, und damit in einigen Nebensätzen auch die meines Bruders, habe ich dieser Frau in groben Zügen nähergebracht. Gerade war ich dabei, ihr zu erzählen, dass ich womöglich zu wenig für ihn dagewesen war und dadurch nichts von seinem Vorhaben mitbekommen habe, dass die Schuld sicherlich auch …

      »Die Schuld?«, unterbrach sie mich.

      »Ja,


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