Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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seinem Ohr hervorgeholt hatte, ein gut sichtbares Kreuz. Die Stecknadel, sagte er, ich solle sie genau dort einschlagen. Ich runzelte die Stirn, da ich noch nicht ahnte, was er mir damit zeigen oder sagen wollte. Mit meiner rechten, zitternden Hand hob ich den Hammer, gerade noch fähig, ihn in angemessener Höhe zu halten. Mit der linken hielt ich die Stecknadel an die Wand. Ich ließ beides nach wenigen Sekunden wieder sinken und sagte, dass das so nicht funktioniere, dass ich einen kleineren Hammer benötige oder einen größeren Nagel. Das sei ihm schon klar, sagte er, aber ich solle trotzdem weitermachen, es zumindest versuchen. Aus meinem Mund drang ein leiser Seufzer, aber ich tat, was er wollte, hob abermals den Hammer hoch und hielt die Spitze der Stecknadel in die Mitte des an die Wand gemalten Kreuzes. Zu fest schlug ich auf den winzigen Kopf der Stecknadel, sie verbog sich und der Hammer rutschte ab, streifte mit der Kante über meinen Daumen und schürfte ein Stück der obersten Hautschicht ab. Ich spürte einen brennenden Schmerz und presste die Lippen aufeinander, ließ mir aber sonst nichts anmerken. Mein Vater nickte, machte dreimal mhmmm und nahm mir den Hammer und die verbogene Stecknadel ab. Er ging in die Hocke und sagte, dass es sich mit Worten ganz ähnlich verhalte, dass manche so hart und schwer seien, dass sie beim Aussprechen Erdbeben auslösen können und fähig seien, Löcher in einer meterdicken Mauer entstehen zu lassen, dass man mit ihnen hingegen keine Stecknadel in die Wand schlagen könne, um daran ein bemaltes Blatt Papier zu befestigen. Und diese Worte, fuhr er fort, wirkten auch auf die Menschen ein. Wenn sie zu heftig seien, würden sie in ihnen Risse erzeugen, die manchmal nur schwer heilbar wären. Alles, was aus meinem Mund komme, sagte er, bewirke etwas in der Welt, das dürfe ich nicht vergessen, und dass es an mir liege, zu entscheiden, wie ich die Welt formen wolle. Es sei daher ratsam, fügte er hinzu, mit dem Gesagten so bewusst wie nur möglich umzugehen, weil man ansonsten nicht nur andere Menschen verletzen könne, sondern, wie ich soeben gesehen hätte, auch sich selbst. Ich hob die linke Hand und betrachtete die abgeschürfte Haut an meinem Daumen. Mein Vater erhob sich, ging in die Ecke der Werkstatt, öffnete einen kleinen Kasten und hielt kurz darauf ein Pflaster in seinen Händen. Er klebte es mir behutsam über die wunde Stelle und meinte, dass in bestimmten Situationen der Vorschlaghammer genau das richtige Werkzeug sei, in anderen sei jedoch ein kleiner Hammer aus Gummi vorzuziehen. Ich verstand, was er mir sagen wollte, nickte und starrte beschämt zu Boden. Er fragte mich, wie viel Zeit ich in den letzten Wochen mit Leander verbracht habe. Obwohl ich bereits wusste, worauf er hinauswollte, sagte ich, dass ich keine Ahnung hätte. Er wiederholte seine Frage. Ich hob den Kopf und sagte ihm die Wahrheit. Mit leiser Stimme meinte mein Vater, dass Leander mich womöglich vermisst, seinen alten Spielkameraden, der nun langsam, aber doch in die Pubertät komme und andere Spiele spielen wolle. Ich tat so, als ob ich nicht wüsste, was er damit meinte, konnte jedoch nicht verhindern, dass Blut in mein Gesicht schoss und sich die Wangen rot verfärbten. Mein Vater lächelte und meinte, dass, wenn ich mich ab und zu mit meinem Bruder beschäftigte, er sicherlich nicht mehr auf die Idee käme, unabsichtlich mein Puzzle zu zerstören. Ich konnte nicht anders als zu lächeln, obwohl ich eigentlich ernst bleiben wollte, denn was Leander getan hatte, war nicht so leicht zu verzeihen. Deshalb nannte ich Leander weiterhin eine Nervensäge, weil er das eben war und weil er das blieb. Ich wollte nicht nachdenken, ich wollte keine Rücksicht nehmen auf das, was aus meinem Mund kam, vor allem dann nicht, wenn ich aufgebracht war. Ich hatte die Allegorie meines Vaters verstanden, aber ich hatte sie nicht verinnerlicht, wollte es nicht; in mir waren die Emotionen um einiges stärker als die Vernunft, ganz zum Leidwesen meines Bruders.

      Nun stand ich also mit dem Vorschlaghammer im Atelier der Bildhauerei-Klasse, dachte an diese Szene, und mir wurde schlagartig bewusst, wie sehr ich meinen Vater vermisste. Ich könnte alte Fotos anschauen. Ich könnte alte Videos anschauen. Aber eine Stimme – und auch das Bild zu dieser Stimme – ist ein lächerlicher Ersatz für einen Menschen aus Fleisch und Blut. Und Leander? Ich sah sein Gesicht, es war verschwommen, undeutlich an den Rändern, es hatte keinen Zweck, ihn mir vorzustellen. Er existierte, lebte sein Leben, aber hatte seine Existenz etwas mit mir zu tun?

      »Ich habe keine Wut in mir«, sagte ich zu Klaus. »Wie soll ich auf deine Arbeit einschlagen, wenn ich gerade keine Wut empfinde?«

      »Glaubst du etwa, dass ich jedes Mal Wut empfinde, wenn ich den Stein bearbeite?«, fragte mich Klaus. »Und glaubst du, dass ein Schlagzeuger jedes Mal, wenn er sein Instrument spielt und mit voller Wucht auf die Trommeln eindrischt, Wut empfindet?«

      »Ich sehe schon«, sagte ich und rollte mit den Augen.

      Klaus lächelte. Fein gezogene Brauen zierten seine Augen, die mich fordernd beobachteten. Ein Grübchen entstand und verschwand wieder. Klaus hatte ein feminines Gesicht. Es war sehr schön, das konnte man, so dachte ich mir, ganz objektiv behaupten. Ich hätte ihn stundenlang anschauen können, ohne dass mir auch nur eine Sekunde langweilig geworden wäre. Manchmal, wenn ich bei ihm oder er bei mir übernachtete und er vor mir eingeschlafen war, tat ich genau das. Ich beobachtete ihn und fühlte mich wohl dabei, geborgen.

      »Mach es doch einfach aus purer Freude«, sagte er.

      »Aus Freude zuhauen?«, fragte ich überrascht.

      »Na klar«, gab mir Klaus zu verstehen. »Warst du denn nie ein Kind? Es gibt kaum etwas Befreienderes, als etwas Schönes zu zerstören.«

      Ich schaute Klaus lange an, dann nickte ich und hob den Vorschlaghammer hoch über meinen Kopf.

      DREI

      Ich dachte immer, Oberkärnten sei der obere, also nördliche Teil Kärntens, aber dem ist nicht so. In Kärnten ist oben der Westen. Dorthin hat mich Klaus eingeladen. Es war Karfreitag. Vor zwei Tagen war ich angekommen und hatte auch gleich seine Eltern kennengelernt. Seine Mutter hatte mich, als würden wir uns schon seit Jahren kennen, mit einer herzlichen Umarmung empfangen. Ich fragte mich, ob durch sie die Kärntner Seele, die bekanntlich etwas gemütlicher ist als die der anderen Bundesländer, besonders stark durchschien. Klaus’ Vater war ebenso entspannt, jedoch in einer nach innen gerichteten, passiven Form. Während eines Gesprächs nickte oder brummte er von Zeit zu Zeit, um zu signalisieren, dass er gedanklich anwesend war, aber er sprach nicht viel. Auch nickte er gerne ein, vormittags, dann kurz nach dem Mittagessen und noch einmal am Nachmittag, stets mit einem angedeuteten Lächeln auf den Lippen, während in angenehmer Lautstärke das Programm von Ö1 aus den alten Stereoboxen plätscherte. Dieser Mann hatte etwas von einem schweigenden, tief in seine Gedanken versunkenen Mönch, bis er dann doch etwas sagte, mit einem Satz herausfuhr aus seiner scheinbaren Abwesenheit und damit nicht selten so manches auf den Punkt brachte, worüber zuvor lang und breit diskutiert worden war. Ein kommunistischer Nazi, hatte er zum Beispiel gerufen, als wir über die Karrierelaufbahn eines bestimmten Politikers zu sprechen kamen, oder, als es um eine Sportlerin ging: Die kapiert nichts, und sie hat nie was kapiert und wird niemals was kapieren, und nach einer kurzen Pause: Deshalb ist sie so verdammt gut, oder, als es um einen Firmengründer ging: Ein Verlierer, der weiß, wie man gewinnt. Manchmal zankten sich Klaus’ Eltern, wobei es eher wie ein Schauspiel wirkte; jemand brachte den Stein ins Rollen, indem ein Triggerwort, von dem ich nichts wissen konnte, ausgesprochen wurde, woraufhin sofort mit einer Wortsalve reagiert wurde, die wiederum aufgefangen, durchgekaut und abermals zurückgeworfen wurde, und so weiter und so fort. Ein Ballspiel mit Andeutungen und Vorwürfen, die sich einem Nichteingeweihten entzogen, man konnte nur den Kopf nach links und rechts wenden und die wundersame Mechanik einer jahrzehntelang funktionierenden Ehe bestaunen. Kurzum, in dieser Familie war ich gerne Gast, denn sie lebte und gab mir das Gefühl, eine Bereicherung zu sein, anstatt eine Last, für die man zusätzlich kochen und putzen und Betten beziehen musste.

      Am frühen Samstagnachmittag, kurz vor dem Osterschmaus, den mir Klaus als Herzstück aller Festessen angepriesen hatte, traf Martha ein. Seit einigen Jahren arbeitete sie in München in einem kleinen, aufstrebenden Architekturbüro. Klaus hatte nicht oft von seiner Schwester gesprochen und ich hatte selten nach ihr gefragt. Sie sei etwas eigen, hatte Klaus kurz vor ihrer Ankunft wiederholt angemerkt, sie tätige oftmals Aussagen, die sie eigentlich nicht so meine. Er sagte voraus, dass sie schwarz gekleidet sein würde, dass sie immer schwarze Kleidung trage, um, so scherzte er, dem Klischee der jungen, erfolgreichen Architektin zu entsprechen. Sie arbeite viel und sei deshalb, na ja, nervlich beansprucht. Ihr Büro habe einige


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