Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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und meinen Hals leicht überdehnte, konnte ich die schmale Mondsichel durchs Fenster erkennen, die sich wie ein Stempel aus Licht mit scharf gezeichnetem Rand von der ihn umgebenden Dunkelheit abhob. Ich fragte mich, ob am Mond jemals Menschen leben würden und, wenn ja, welche Gesetze es dort gäbe oder ob es, wenn es einmal so weit wäre, im Zweifel gar keine mehr bräuchte. Wer wohl das erste Kunstwerk auf dem Mond erschaffen würde? Ob es bereits irgendwo dort oben existierte, für niemanden sichtbar? Der erste Schritt auf der Mondoberfläche von Neil Armstrong: War das bereits ein Kunstwerk oder nur ein Zeitdokument? Müsste es konserviert werden oder übernähme dies ohnehin die fehlende Atmosphäre? Ist dieser Abdruck, der zu einem bleibenden Eindruck wurde, denn überhaupt noch dort oben – oder dort unten oder dort drüben oder besser gesagt: dort draußen? Die Andeutung von Marthas Schamlippen glitt langsam über die Mondsichel, meine Augenlider wurden schwer und ich merkte, dass ich nicht gegen diese Fantasie, die die Zügel in die Hand genommen hatte, ankämpfen konnte und es – wenn ich es recht bedachte – nun auch nicht mehr wollte. Was hatte mich vorhin nur geritten?

      »Bist du noch wach?«, fragte Klaus im Flüsterton.

      Ein Zucken durchfuhr meinen Körper. In meiner Vorstellung war der Mond zu einem dunklen Bett geworden, nein, es war nicht dunkel, sondern schwarz glänzend, und Martha lag darauf in einem weißen, durchsichtigen Kleid.

      »Ja«, sagte ich. »Bin noch wach.«

      »An was denkst du?«

      »Ich versuche an nichts zu denken«, log ich, »aber das geht nicht.«

      »Es geht«, sagte Klaus, »nur darf man sich dabei nicht anstrengen.«

      »Und wenn sich … wenn sich irgendwelche Bilder vors innere Auge schieben?«, fragte ich.

      »Dann musst du sie wohl oder übel zulassen«, sagte er. »Damit sie wieder verschwinden können, verstehst du?«

      »Zulassen«, sagte ich und dachte an die Fußstapfen von Neil Armstrong und ans erste Kunstwerk im All, das es meines Erachtens dort oben noch nicht gab, und dass wir das All auf keinen Fall allein den Wissenschaftlern und dem Militär überlassen dürfen. Aber was weiß ich schon, sagte ich mir, ich müsste es googeln, aber dazu müsste ich das Handy einschalten, und es würde, auch wenn ich es runterdimmen würde, weh tun in meinen Augen. »Wenn du unendlich viel Geld hättest«, fragte ich Klaus, um auf andere Gedanken zu kommen, »also egal wie viel, welches Kunstwerk würdest du dann kaufen?«

      Klaus antwortete lange nicht, sodass ich annahm, er wäre eingeschlafen.

      »Wenn ich alles Geld der Welt hätte«, sagte er in die Stille und verschränkte die Arme hinter dem Kopf, »dann würde ich …« Er hielt inne und meinte: »Aber ich glaube, das geht nicht. Nicht um alles Geld der Welt. Die sind meines Wissens im Staatsbesitz und somit unverkäuflich.«

      »Wovon redest du?«

      »Ach, entschuldige, ich habe mir nur gedacht, also wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich Folgendes tun: Als erstes würde ich in den Louvre gehen und die Mona Lisa kaufen, ich würde sie in einem Bunker verstecken, du wärst natürlich für die Archivierung und Konservierung zuständig.«

      »Natürlich«, sagte ich. »Und warum, wenn ich fragen darf, würdest du das machen wollen?«

      »Weil mich diese Kunst-Touristenströme ankotzen, die Leute, die durchs Museum rennen, nicht links und nicht rechts schauen, sondern nur, wo sich das Schildchen mit dem Pfeil zur Mona Lisa befindet, um der Weganweisung blind zu folgen. Ebenso würde ich den Kuss vom Oberen Belvedere entfernen und in den Bunker verfrachten. Im Kunsthistorischen Museum würde ich den Großen Turmbau zu Babel abhängen. In jedes namhafte Museum dieser Welt würde ich reisen, um ähnlich zu verfahren. Und zu guter Letzt in den Vatikan, um die Fresken der Sixtinischen Kapelle hinter einem gut gespannten, undurchsichtigen Tuch zu verstecken, damit die Menschen, die dort unbedingt hinpilgern wollen, sich wieder erinnern, dass sie nicht an diesen Ort müssen, um aus sich hinaus-, sondern um in sich hineinzugehen.«

      »Du meinst, um zu beten?«, fragte ich. »Aber das kann man doch überall.«

      »Das stimmt«, meinte Klaus, »aber erzähl das mal denen im Vatikan. Kunstwerke sehen und machen, das kann man auch überall, und trotzdem strömen die Leute wie Fremdgesteuerte in die Museen, um dieses eine Gemälde zu sehen, als hätten sie sonst die Stadt nicht wirklich erfasst, als kämen sie sonst mit leeren Händen oder leeren Augen nach Hause.«

      »Ich weiß nicht, ob ich dich richtig verstanden habe«, sagte ich, »du willst also nicht, dass die Menschen ins Museum gehen?«

      »Ganz im Gegenteil«, sagte er, »nur sollen sie dorthin, um die Kunstwerke nicht nur anzuschauen, sondern vor allem zu sehen, versteht du, was ich meine? Sie sollen mit offenen Augen durch die Ausstellungen schlendern, die Werke unbekannter Künstlerinnen und Künstler entdecken, anstatt in diese eine Ebene zu pilgern und in diesen einen schummrig beleuchteten Raum, um eine Stunde an diese eine Wand zu starren, an der das sogenannte Meisterwerk hängt.«

      »Du meinst, wie auf einen Berg zu gehen, nur damit man den Ausblick vom Gipfel genießen kann, nein, nicht genießen, sondern fotografieren, aber auf dem Weg hinauf und hinunter sieht man nichts, keine Tiere, keinen Grashalm, keine Blume, keinen Stein?«

      Klaus richtete sich auf, nickte und sagte: »Amen.«

      Wir lachten und sprachen anschließend noch eine gefühlte Stunde über den neuesten Marvel-Film, den wir am Vortag in einem großen, hässlich gestalteten Kino in Villach angeschaut hatten. Ich sagte, dass ich mir wünschte, es gäbe einen Heldenfilm, in dem der Bösewicht gewinnen würde, ich meine wirklich gewinnen, nicht nur scheinbar in einem ersten Teil. Es sollte ein hoffnungsvoller Film sein, wie alle anderen dieser Art, damit die Zuschauer sich in Sicherheit fühlen und mitfiebern mit den großen, tapferen Helden, die bestimmt – und warum auch nicht? – in letzter Sekunde gewinnen würden, denn so war es immer und so wird es immer sein, nicht wahr? Aber dann, ganz zum Schluss, käme es anders, und die Helden, siehe da, würden verlieren, sie würden alle nach heroischen Kämpfen getötet werden oder sie töteten sich selbst, und das Böse würde gewinnen. Und es gäbe keine Auflösung nach dem Abspann, keinen Hoffnungsschimmer, der dem Publikum mit nach Hause gegeben würde, damit sie sich denken könnten: Ach, da gibt es dann bestimmt einen zweiten Teil, wo dann das Gute gewinnt. Nein, hier wäre wirklich das Allerschlimmste eingetroffen. Es ginge bergab ins Dunkle und kein Mensch, kein Held und keine Heldin, würde zur Rettung erscheinen; es wäre vorbei, wir wären am Ende der Erzählung angelangt und niemand würde jemals zurückkehren, die Zeit könnte nicht zurückgedreht werden, es gäbe kein alternatives Ende, kein paralleles Universum, wo der Kampf zu einem positiven Ende führen würde. Es wäre der absolute, fatale Schlusspunkt. Die Herzen wären im Keller, und dort blieben sie, weil niemand käme, um die Wunden zu heilen, und weil niemand mehr da wäre, um geheilt zu werden. Da wäre nur noch Abgrund, Angst und Schrecken. Und so, sagte ich, mit diesem Gefühl würde ich das Publikum gerne den Kinosaal verlassen sehen. Mit dem Wissen, dass es keine Fortsetzung gäbe, nicht im Jahr darauf und auch nicht in zehn Jahren. Dass der Film wirklich so konzipiert sei, dass es nicht gut ausgehe. Wir wünschen es uns so sehr, aber das Wünschen wäre umsonst. Weil es doch nicht immer gut ausgehen kann, dieses eine Mal nicht.

      VIER

      Ich kannte Klaus seit knapp einem Jahr, als eine Einladung zu seiner Geburtstagsparty im Posteingang meines Mailprogramms erschien. Er hatte in den letzten Wochen schon mehrmals davon gesprochen. Es würde die Party des Jahres werden, scherzte er. Und damit mochte er recht haben, aber ich hatte gerade keine Lust auf Menschen, das heißt: Menschen zu sehen, mit Menschen zu reden, Menschen kennenzulernen. Natürlich wusste Klaus Bescheid. Ich hatte ihn noch am selben Tag davon in Kenntnis gesetzt, was mit meinem Bruder geschehen war, und er hatte mir – so gut es telefonisch möglich war – beigestanden, wobei es nicht darum ging, mir beizustehen, ich sollte Leander beistehen, so sollte es sein, aber wie kann man einem Menschen helfen, wenn man selbst nicht weiß, wie diese Situation am besten anzupacken ist? Andererseits war es nicht so, dass es Leander besser ging, wenn ich ihm die ganze


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