Wer wir wären. Norbert Kröll

Wer wir wären - Norbert Kröll


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gutgehen. Ich wollte ihn fragen, was er damit meinte, aber schon öffnete sich die Tür zum Wohnzimmer und herein kam eine schlanke, gutaussehende Frau in einem schwarzen Hosenanzug, die ihre Eltern und ihren Bruder begrüßte und ihnen frohe Ostern wünschte und mir zu guter Letzt die Hand entgegenstreckte, wobei es den Anschein hatte, dass ihr diese Geste einige Mühe abverlangte.

      »Albert, nehme ich an? Klaus hat dich erwähnt.«

      »Das ist mein Name«, sagte ich und schüttelte ihre Hand. Ihr Griff war fest, die Haut selbst aber weich. »Schön, dich kennenzulernen.«

      »Ob es schön ist, werden wir noch sehen«, sagte sie.

      »Martha!«, rief Klaus’ Mutter ermahnend in ihre Richtung.

      »Also gut, dann frohe Ostern, liebster Albert.«

      Marthas Blick fühlte sich an, als würde man unter einem Röntgengerät liegen. Ich fragte mich, wonach sie in mir suchte. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit von meinem Scheitel bis zu den Zehenspitzen, als wenn sie ein Gebäude nach seiner Brauchbarkeit, der Beschaffenheit der Fassade und seiner generellen statischen Traglast überprüfen müsste. Hatte ich schon in der ersten Minute etwas Unpassendes gesagt, etwas Falsches getan?

      »Ich habe einen Mordshunger, können wir nun endlich essen?«, fragte Martha, nachdem sie den Röntgenvorgang abgeschlossen hatte oder es ihr zu langweilig geworden war, mich länger zu durchleuchten.

      »Alles gut«, flüsterte Klaus mir ins Ohr, »alles gut.«

      Der Osterschmaus war all das, was mir Klaus versprochen hatte, und mehr noch. Vorzüglicher Schinken, verschiedenste Wurst- und Käsesorten, Eier, fein aufgefächerte Zunge, reichlich frisch geriebener, scharfer Kren und natürlich der berühmte Kärntner Reindling, der bei diesem Fest, so habe ich zumindest gehört, nicht fehlen darf. Während des Essens versuchte ich, nicht zu Martha zu schauen, meine Blicke streiften vom Ei zum Schinken, zum Kren, zum Reindling und wieder zurück zum Anfang. Den Geschmack wollte ich mir nicht verderben lassen. Ablenkung tötet die Wahrnehmung. Das Lesen eines Zeitungsartikels während des Frühstücks? Fünfzehn Minuten später ist das Frühstück weg, und ich weiß nicht mehr, wie es geschmeckt hat. Die Buchstaben des Artikels jedoch liegen mir quer im Magen, als ob ich sie gegessen hätte, die Ertrunkenen im Mittelmeer, die Terroristen in Syrien, die Erdbeben in Japan, die Vergewaltigungen in Indien, die Messerstecherei am Praterstern, die Aussagen der populistischen Politiker, der Verriss einer neuen Ausstellung. Da empfiehlt es sich, besser an nichts zu denken, mit niemandem zu sprechen und niemanden anzuschauen, den man nicht sympathisch findet. Ob alles in Ordnung sei, fragte Klaus’ Mutter mehrmals. Aber ja doch, alles bestens. Und das war es auch. Klaus lachte viel. Und sogar sein Vater zeigte eine Lebendigkeit, wie ich sie in den letzten Tagen nicht an ihm beobachtet hatte. Er erzählte skurrile Geschichten aus seiner Kindheit und Jugend und hörte nicht auf, von seinen Erfahrungen beim Grundwehrdienst zu sprechen, wie er beim Zerlegen und Zusammenbauen seines StG 77 Sturmgewehrs der Langsamste gewesen war, beim Schießen der Schlechteste, wie er die sogenannten Feinde bei einer Truppenübung in Allentsteig mit seiner Kompanie erledigen hätte sollen, aber stattdessen alleine in einem Versteck hinter dicht wachsenden Büschen gelegen war und mit einem nahe vorbeiziehenden Wolfsrudel Kontakt aufgenommen hatte, indem er ihnen getrocknetes Fleisch zuwarf und durchs Fernglas beobachtete, wie sie sich verhielten. Ich hörte zu, genoss das Beisammensein. Aber dann, als ich das letzte mit Kren befüllte Schinkenblatt in den Mund steckte und auf das angenehme Prickeln und Stechen im Gehirn wartete, schaute ich doch zu Martha, die am Kopfende des Tisches saß und stumm kauend eine Scheibe Reindling mit Butter beschmierte. Sie hatte die ganze Zeit über kaum etwas gesagt. Manchmal hatte sie, so erschien es mir, pflichtbewusst gelacht. Ob es echt war, bezweifelte ich. Ich fragte mich, was an ihr überhaupt echt war. Diese makellose, helle, fast schon blattweiße, und ungemein glatt wirkende Haut? Ihre grünen Augen und das dunkle, dichte Haar? Die Haut könnte behandelt sein, mit Make-up zu dem gemacht, was sie war, die Iris von smaragdgrünen Linsen verdeckt, die Haare schwarz gefärbt. Ihr wahrer Charakter, wenn es denn so etwas neben dem normalen überhaupt gibt, könnte ein völlig anderer gewesen sein, ich tippte auf etwas Filigranes im Inneren, das durch einen emotionalen Panzer geschützt werden musste, damit es nicht ohne Vorwarnung bei der ersten Berührung herausquillt und an der Fülle von Eindrücken zerbricht. Ohne dass ich es wollte, musste Mitleid in meinen Blick geraten sein oder eine heruntergekochte, verdünnte Art davon.

      »Was gibt es denn zu glotzen?«, fragte sie. »Gefallen dir meine Brüste, hm?«

      »Ich habe nicht …«, stammelte ich. »Ich habe nur …«

      »Du hast wohl nur zu ihr hingeschaut, weil sie ihren Reindling mit Butter bestrichen hat, habe ich recht?«, fragte Klaus’ Mutter. »Das machen wir hier so, es schmeckt sehr gut, probier es ruhig mal aus.«

      »Lass dich nicht von Martha verunsichern«, sagte Klaus. »Sie ist es nämlich, die unsicher ist, deshalb muss sie aggressiv sein.«

      »Ich bin nicht aggressiv«, sagte Martha. »Aber wenn mir etwas Komisches auffällt, dann mach ich meinen Mund auf. Und Unsicherheit, mein liebes Bruderherz, lese ich aus deinen Kunstwerken heraus. Du hast wohl noch nicht deinen Stil gefunden, wie?«

      »Ich habe kein Problem mit Unsicherheit«, sagte Klaus. »Es stimmt, ich habe meinen Stil noch nicht gefunden, und wer weiß, vielleicht finde ich ihn nie, aber das macht nichts, dann suche ich eben mein ganzes Leben danach und bin unsicher dabei und verleihe diesem Zustand Ausdruck, anstatt es unter eine Decke zu kehren.«

      »Du solltest Philosophie studieren, wenn du so gescheit bist.«

      »Das mache ich ja zum Teil. In einer Ästhetik-Vorlesung habe ich Albert kennengelernt.« Er drehte mir den Kopf zu und legte eine Hand auf meine Schulter.

      »Wie schön für euch«, sagte Martha.

      »Es gibt nichts, was daran nicht schön sein sollte«, sagte Klaus’ Vater, befreite ein Ei von seiner dunkelroten Schale, streute Salz darauf und steckte es als Ganzes in den Mund.

      »Muss das sein?«, fragte Klaus’ Mutter. Er nickte und machte mit der rechten Hand eine kreisende Bewegung über seinem Bauch. »Es tut mir leid, Albert.«

      »Dir muss nichts leidtun«, sagte Martha zu ihrer Mutter. »Das Leidtun gehört ins vorige Jahrtausend. Papa soll tun, was er tun will, und du tust, was du für richtig hältst. Niemand ist für den anderen verantwortlich. Nicht mehr.«

      »Das hast du schön gesagt«, meinte Klaus. »Dir wird doch nicht noch das Herz aufgehen bei so viel Empathie?«

      »Damit hat das nichts zu tun«, entgegnete sie. »Es geht darum, dass wir Frauen lange genug nett und brav sein und uns entschuldigen mussten. Für die eigenen Handlungen. Für den Mann. Für die Familie. Für die Gesellschaft. Das ist jetzt vorbei.«

      »Und der heilige Gral am Ende des Weges ist gefüllt mit Unfreundlichkeit und Zynismus?«, fragte Klaus.

      »Welcher heilige Gral? Bist du unter die Priester gegangen?«

      »Nein, das nicht.«

      »Abgesehen davon hast du, was Frauen betrifft, deinen Mund zu halten. Da kannst du so schwul sein, wie du willst.«

      »Bitte«, sagte ihre Mutter, »jetzt beruhigen wir uns wieder. Wir haben schließlich einen Gast bei uns.«

      »Und für ihn soll ich mich verstellen?«, fragte Martha.

      »Du sollst dich nicht verstellen, aber wenn du etwas netter wärst, würde es dir selbst auch nicht schaden, da hat Klaus schon recht.«

      »Ach, jetzt bin ich wieder die Böse, klar! Ihr habt ja keine Ahnung.«

      »Von was haben wir keine Ahnung?«, fragte ihr Vater.

      »Dass es … das das Leben halt nicht leicht ist, wenn …«

      »Wenn man unbedingt bis ganz nach oben will?«, fragte Klaus. Seine Mutter bedachte ihn mit einem strengen Blick. »Sorry«, fügte er hinzu. »Also, liebe Martha, was wolltest du uns mitteilen?«

      »Dir wollte ich mitteilen, dass ich hoffe, dass du keinen Erfolg


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