Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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ihre Sühne mit dem Untergang der Helden so reichlich verliehen war. Nur daß dies in Wahrheit nicht Sühne aus der Verletzung, sondern Erlösung aus der Verstrickung der Ehe war. Nur daß allen jenen Worten zum Trotz zwischen Pflicht und Neigung ein Kampf weder sichtbar noch heimlich sich abspielt. Nur daß niemals triumphierend hier das Sittliche, sondern einzig und allein im Unterliegen lebt. So liegt der moralische Gehalt dieses Werkes in viel tiefern Schichten als es Goethes Worte vermuten lassen. Ihre Ausflüchte sind weder möglich noch nötig. Denn nicht allein unzulänglich sind seine Erörterungen in ihrem Gegensatz zwischen Sinnlichem und Sittlichem, sondern offenkundig unhaltbar in ihrer Ausschließung des innern ethischen Kampfes als eines Gegenstandes dichterischen Bildens. Was bliebe anders wohl vom Drama, vom Roman selbst übrig? Wie aber auch moralisch der Gehalt dieser Dichtung sich fassen lasse – ein fabula docet enthält sie nicht und in der matten Mahnung zur Entsagung, mit welcher die gelehrige Kritik seit jeher ihre Abgründe und Gipfel nivellierte, ist sie von fern nicht berührt. Zudem ist von Mézières bereits mit Recht auf die epikuräische Tendenz, die Goethe dieser Haltung leiht, verwiesen worden. Daher trifft viel tiefer das Geständnis aus dem »Briefwechsel mit einem Kinde«, und nur widerstrebend läßt man von der Wahrscheinlichkeit sich überzeugen, daß Bettina, der dieser Roman in vieler Hinsicht fern stand, es erdichtet hat. Dort steht, er habe sich »hier die Aufgabe gemacht, in diesem einen erfundenen Geschick wie in einer Grabesurne die Tränen für manches Versäumte zu sammeln«. Man nennt aber das, dem man entsagte, nicht Versäumtes. So ist denn wohl nicht Entsagung in so manch einem Verhältnis seines Lebens das erste in Goethe gewesen sondern die Versäumnis. Und als er die Unwiederbringlichkeit des Versäumten, die Unwiederbringlichkeit aus Versäumnis erkannte, da erst mag ihm die Entsagung sich ergeben haben und ist nur der letzte Versuch, Verlorenes im Gefühl noch zu umfangen. Das mag auch Minna Herzlieb gegolten haben.

      Das Verständnis der Wahlverwandtschaften aus des Dichters eigenen Worten darüber erschließen zu wollen, ist vergebene Mühe. Gerade sie sind ja dazu bestimmt, der Kritik den Zugang zu verlegen. Dafür aber ist der letzte Grund nicht die Neigung Torheit abzuwehren. Vielmehr liegt er eben in dem Streben, alles jenes unvermerkt zu lassen, was des Dichters eigene Erklärung verleugnet. Der Technik des Romans einerseits, dem Kreise der Motive andererseits war ihr Geheimnis zu wahren. Der Bereich poetischer Technik bildet die Grenze zwischen einer oberen, freiliegenden und einer tieferen, verborgenen Schichtung der Werke. Was der Dichter als seine Technik bewußt hat, was auch schon der zeitgenössischen Kritik grundsätzlich erkennbar als solche, berührt zwar die Realien im Sachgehalt, bildet aber die Grenze gegen ihren Wahrheitsgehalt, der weder dem Dichter noch der Kritik seiner Tage restlos bewußt sein kann. In der Technik, welche – zum Unterschied von der Form – nicht durch den Wahrheitsgehalt, sondern durch die Sachgehalte allein entscheidend bestimmt wird, sind diese notwendig bemerkbar. Denn dem Dichter ist die Darstellung der Sachgehalte das Rätsel, dessen Lösung er in der Technik zu suchen hat. So konnte Goethe sich durch die Technik der Betonung der mythischen Mächte in seinem Werke versichern. Welche letzte Bedeutung sie haben, mußte ihm wie dem Zeitgeist entgehn. Diese Technik aber suchte der Dichter als sein Kunstgeheimnis zu hüten. Hierauf scheint es anzuspielen, wenn er sagt, er habe den Roman nach einer Idee gearbeitet. Diese darf als technische begriffen werden. Anders wäre kaum der Zusatz verständlich, der den Wert von solchem Vorgehn in Frage stellt. Sehr wohl aber ist begreiflich, daß dem Dichter die unendliche Subtilität, die die Fülle der Beziehung in dem Buch verbarg, einmal zweifelhaft erscheinen konnte. »Ich hoffe, Sie sollen meine alte Art und Weise darin finden. Ich habe viel hineingelegt, manches hineinversteckt. Möge auch Ihnen dies offenbare Geheimnis zur Freude gereichen.« So schreibt Goethe an Zelter. Im gleichen Sinne pocht er auf den Satz, daß in dem Werke mehr enthalten sei »als irgend jemand bei einmaligem Lesen aufzunehmen imstande wäre«. Deutlicher als alles spricht aber die Vernichtung der Entwürfe. Denn es möchte schwerlich Zufall sein, daß von diesen nicht einmal ein Bruchstück aufbehalten blieb. Vielmehr hat der Dichter offenbar ganz vorsätzlich alles dasjenige zerstört, was die durchaus konstruktive Technik des Werkes gezeigt hätte. – Ist das Dasein der Sachgehalte dergestalt versteckt, so verbirgt ihr Wesen sich selbst. Alle mythische Bedeutung sucht Geheimnis. Daher konnte gerade von diesem Werk Goethe selbstgewiß sagen, das Gedichtete behaupte sein Recht wie das Geschehene. Solches Recht wird hier in der Tat, in dem sarkastischen Sinne des Satzes, nicht der Dichtung sondern dem Gedichteten verdankt – der mythischen Stoffschicht des Werkes. In diesem Bewußtsein durfte Goethe unnahbar, zwar nicht über, jedoch in seinem Werke verharren, gemäß den Worten, welche Humboldts kritische Sätze beschließen: »Ihm aber darf man so etwas nicht sagen. Er hat keine Freiheit über seine eigenen Sachen und wird stumm, wenn man im Mindesten tadelt.« So steht Goethe im Alter aller Kritik gegenüber: als Olympier. Nicht im Sinne des leeren epitheton ornans oder schön erscheinender Gestalt, den die Neuern ihm geben. Dieses Wort – Jean Paul wird es zugeschrieben – bezeichnet die dunkle, in sich selbst versunkene, mythische Natur, die in sprachloser Starre dem Goetheschen Künstlertum innewohnt. Als Olympier hat er den Grundbau des Werkes gelegt und mit kargen Worten das Gewölbe geschlossen.

      In dessen Dämmerung trifft der Blick auf das, was am verborgensten in Goethe ruht. Solche Züge und Zusammenhänge, die im Lichte der alltäglichen Betrachtung sich nicht zeigen, werden klar. Und wiederum ist es allein durch sie, wenn mehr und mehr der paradoxe Schein von der vorangegangenen Deutung schwindet. So erscheint ein Urgrund Goetheschen Forschens in Natur nur hier. Dieses Studium beruht auf bald naivem, bald auch wohl bedachterem Doppelsinn in dem Naturbegriff. Er bezeichnet nämlich bei Goethe sowohl die Sphäre der wahrnehmbaren Erscheinungen wie auch die der anschaubaren Urbilder. Niemals hat doch Goethe Rechenschaft von dieser Synthesis erbringen können. Vergebens suchen seine Forschungen statt philosophischer Ergründung den Erweis für die Identität der beiden Sphären empirisch durch Experimente zu führen. Da er die »wahre« Natur nicht begrifflich bestimmte, ist er ins fruchtbare Zentrum einer Anschauung niemals gedrungen, die ihn die Gegenwart »wahrer« Natur als Urphänomen in ihren Erscheinungen suchen hieß, wie er in den Kunstwerken sie voraussetzte. Solger gewahrt diesen Zusammenhang, der insbesondere gerade zwischen den Wahlverwandtschaften und Goethescher Naturforschung besteht, wie ihn auch die Selbstanzeige betont. Bei ihm heißt es: »Die Farbenlehre hat mich … gewissermaßen überrascht. Weiß Gott, wie ich mir vorher gar keine bestimmte Erwartung davon gebildet hatte; meistens glaubte ich bloße Experimente darin zu finden. Nun ist es ein Buch, worin die Natur lebendig, menschlich und unumgänglich geworden ist. Mich dünkt, es gibt auch den Wahlverwandtschaften einiges Licht.« Die Entstehung der Farbenlehre ist auch zeitlich der des Romans benachbart. Goethes Forschungen im Magnetismus vollends greifen deutlich in das Werk selbst ein. Diese Einsicht in Natur, an der der Dichter die Bewährung seiner Werke stets vollziehen zu können glaubte, vollendete seine Gleichgültigkeit gegen Kritik. Ihrer bedurfte es nicht. Die Natur der Urphänomene war der Maßstab, ablesbar jeden Werkes Verhältnis zu ihr. Aber auf Grund jenes Doppelsinns im Naturbegriff wurde zu oft aus den Urphänomenen als Urbild die Natur als das Vorbild. Niemals wäre diese Ansicht mächtig geworden, wenn – in Auflösung der gedachten Äquivokation – es sich Goethe erschlossen hätte, daß adäquat im Bereich der Kunst allein die Urphänomene – als Ideale – sich der Anschauung darstellen, während in der Wissenschaft die Idee sie vertritt, die den Gegenstand der Wahrnehmung zu bestrahlen, doch in der Anschauung nie zu wandeln vermag. Die Urphänomene liegen der Kunst nicht vor, sie stehen in ihr. Von Rechts wegen können sie niemals Maßstäbe abgeben. Scheint bereits in dieser Kontamination des reinen und empirischen Bereichs die sinnliche Natur den höchsten Ort zu fordern, so triumphiert ihr mythisches Gesicht in der Gesamterscheinung ihres Seins. Es ist für Goethe nur das Chaos der Symbole. Als solche nämlich treten bei ihm ihre Urphänomene, in Gemeinschaft mit den andern auf, wie so deutlich unter den Gedichten das Buch »Gott und Welt« es vorstellt. Nirgends hat der Dichter je versucht, eine Hierarchie der Urphänomene zu begründen. Seinem Geiste stellt die Fülle ihrer Formen nicht anders sich dar als dem Ohre die verworrene Tonwelt. In dieses Gleichnis mag erlaubt sein, eine Schilderung, die er von ihr bietet, zu wenden, weil sie selbst so deutlich wie nur weniges den Geist, in dem er die Natur betrachtet, kund gibt. »Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein, ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so daß ein


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