Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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wäre, in die Tiefe ginge, noch immer genug Beute aus bekannten Ländern und Gegenden davon tragen.« »Man darf« – so schließt Gervinus an – »wohl sagen, daß dies in seinen spätern poetischen Produkten fast durchgängig der Fall ist und daß er darin Erfahrungen, die er ehedem in sinnlicher Breite, wie es die Kunst verlangt, vorgeführt hatte, nach einer gewissen geistigen Tiefe mißt, wobei er sich oft ins Bodenlose verliert. Schiller durchschaut diese so mysteriös verhüllte neue Erfahrung sehr scharf … eine poetische Forderung ohne eine poetische Stimmung und ohne poetischen Gegenstand scheine sein Fall zu sein. In der Tat komme es hier viel weniger auf den Gegenstand an, als auf das Gemüt, ob ihm der Gegenstand etwas bedeuten solle.« (Und nichts ist kennzeichnender für den Klassizismus als dieses Streben in dem gleichen Satz das Symbol zu erfassen und zu relativieren.) »Das Gemüt sei es, das hier die Grenze steckt, und das Gemeine und Geistreiche kann er auch hier wie überall nur in der Behandlung, nicht in der Wahl des Stoffes finden. Was ihm jene beiden Plätze waren, meint er, wäre ihm in aufgeregter Stimmung jede Straße, Brücke usw. gewesen. Wenn Schiller die unternehmbaren Folgen dieser neuen Betrachtungsweise in Goethe hätte ahnen können, so würde er ihn schwerlich ermuntert haben, sich ihr ganz zu überlassen, weil durch eine solche Ansicht der Gegenstände in das Einzelne eine Welt gelegt werde … Denn so ist es gleich die nächste Folge, daß Goethe anfängt, sich Reisebündel von Akten anzulegen, worin er alle öffentlichen Papiere, Zeitungen, Wochenblätter, Predigtauszüge, Komödienzettel, Verordnungen, Preiscourante usw. einheftet, seine Bemerkungen hinzufügt, diese mit der Stimme der Gesellschaft vergleicht, seine eigene Meinung mit dieser berichtigt, die neue Belehrung wieder ad acta nimmt und so Materialien für einen künftigen Gebrauch zu erhalten hofft!! Dies bereitet schon völlig zu der später ganz ins Lächerliche entwickelten Bedeutsamkeit vor, mit der er auf Tagebücher und Notizen die höchsten Stücke hält, mit der er jede elendeste Sache mit pathetischer Weisheitsmiene betrachtet. Seitdem ist ihm jede Medaille, die man ihm schenkt, und jeder Granitstein; den er verschenkt, ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit; und wenn er Steinsalz bohrt, das Friedrich der Große trotz aller Befehle nicht hatte auffinden können, so sieht er ich weiß nicht welche Wunder dabei und schickt seinem Freunde Zelter eine symbolische Messerspitze voll davon nach Berlin. Es gibt nichts Bezeichnenderes für diese seine spätere Sinnesart, die sein steigendes Alter stets mehr ausbildete, als daß er es sich zum Grundsatze macht, dem alten nil admirari mit Eifer zu widersprechen. Alles vielmehr zu bewundern, Alles ›bedeutend, wundersam, incalculabel‹ zu finden!« An dieser Haltung, die Gervinus so unübertrefflich, ohne Übertreibung, malt, hat zwar Bewunderung Anteil aber auch die Angst. Der Mensch erstarrt im Chaos der Symbole und verliert die Freiheit, die den Alten nicht bekannt war. Er gerät im Handeln unter Zeichen und Orakel. In Goethes Leben haben sie nicht gefehlt. Solch ein Zeichen wies den Weg nach Weimar. Ja, in »Wahrheit und Dichtung« hat er erzählt, wie er auf einer Wanderung, zwiespältig über seinen Ruf zu Dichtung oder Malkunst, ein Orakel eingesetzt. Die Angst vor Verantwortung ist die geistigste unter allen, denen Goethe durch sein Wesen verhaftet war. Sie ist ein Grund der konservativen Gesinnung, die er Politischem, Gesellschaftlichem und im Alter auch wohl Literarischem entgegenbrachte. Sie ist die Wurzel der Versäumnis in seinem erotischen Leben. Daß sie auch seine Auslegung der Wahlverwandtschaften bestimmte ist gewiß. Denn gerade diese Dichtung wirft ein Licht in solche Gründe seines eigenen Lebens, die, weil sie sein Bekenntnis nicht verrät, auch einer Tradition verborgen blieben, die sich von dessen Bann noch nicht befreit hat. Nicht aber darf dies mythische Bewußtsein mit der trivialen Floskel angesprochen werden, unter der man oft ein Tragisches im Leben des Olympiers sich gefiel zu erkennen. Tragisches gibt es allein im Dasein der dramatischen, d. h. der sich darstellenden Person, niemals in dem eines Menschen. Am allerwenigsten aber in dem quietistischen eines Goethe, in dem kaum darstellende Momente sich finden. So gilt es auch für dieses Leben wie für jedes menschliche nicht die Freiheit des tragischen Helden im Tode, sondern die Erlösung im ewigen Leben.

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      Drum da gehäuft sind rings, um Klarheit,

      Die Gipfel der Zeit,

      Und die Liebsten nahe wohnen, ermattend auf

      Getrenntesten Bergen,

      So gieb unschuldig Wasser,

      O Fittige gieb uns, treuesten Sinns

      Hinüberzugehn und wiederzukehren.

      Hölderlin

      Wenn jedes Werk so wie die Wahlverwandtschaften des Autors Leben und sein Wesen aufzuklären vermag, so verfehlt die übliche Betrachtung dieses um so mehr, je näher sie sich daran zu halten glaubt. Denn mag nur selten eine Klassikerausgabe versäumen, in ihrer Einleitung es zu betonen, daß gerade ihr Gehalt wie kaum ein anderer aus des Dichters Leben einzig und allein verständlich sei, so enthält dies Urteil im Grunde schon das πρῶτον ψεῦδος der Methode, die in dem schablonierten Wesensbild und leerem oder unfaßlichem Erleben das Werden seines Werks im Dichter darzustellen sucht. Dies πρῶτον ψεῦδος in fast aller neuern Philologie, d. h. in solcher, die noch nicht durch Wort- und Sacherforschung sich bestimmt, ist, von dem Wesen und vom Leben ausgehend die Dichtung als Produkt aus jenen wenn nicht abzuleiten, so doch müßigem Verständnis näher zu bringen. Insofern aber fraglos angezeigt ist, am Sichern, Nachprüfbaren die Erkenntnis aufzubauen, muß überall, wo sich die Einsicht auf Gehalt und Wesen richtet, das Werk durchaus im Vordergrunde stehn. Denn nirgends liegen diese dauerhafter, geprägter, faßlicher zutage als in ihm. Daß sie selbst da noch schwer genug und vielen niemals zugänglich erscheinen, mag für diese letztern Grund genug sein, statt auf der genauen Einsicht in das Werk auf Personal- und Relationserforschung das Studium der Kunstgeschichte zu begründen, vermag jedoch den Urteilenden nicht zu bewegen, ihnen Glauben zu schenken oder gar zu folgen. Vielmehr wird dieser sich gegenwärtig halten, daß der einzige rationale Zusammenhang zwischen Schaffendem und Werk in dem Zeugnis besteht, das dieses von jenem ablegt. Vom Wesen eines Menschen gibt es nicht allein Wissen nur durch seine Äußerungen, zu denen in diesem Sinn auch die Werke gehören – nein, es bestimmt sich allererst durch jene. Werke sind unableitbar wie Taten und jede Betrachtung, die im ganzen diesen Satz zugestände, um ihm im einzelnen zu widerstreben, hat den Anspruch auf Gehalt verloren.

      Was derart der banalen Darstellung entgeht, ist nicht allein die Einsicht in Wert und Art der Werke, sondern gleichermaßen diejenige in das Wesen und das Leben ihres Autors. Vom Wesen des Verfassers zunächst wird nach dessen Totalität, seiner »Natur«, jede Erkenntnis durch die vernachlässigte Deutung der Werke vereitelt. Denn ist auch diese nicht imstande, von dem Wesen eine letzte und vollkommene Anschauung zu geben, welche aus Gründen sogar stets undenkbar ist, so bleibt, wo von dem Werke abgesehen wird, das Wesen vollends unergründlich. Aber auch die Einsicht in das Leben des Schaffenden verschließt sich der herkömmlichen Methode der Biographik. Klarheit über das theoretische Verhältnis von Wesen und Werk ist die Grundbedingung jeder Anschauung von seinem Leben. Für sie ist bisher so wenig geschehen, daß allgemein die psychologischen Begriffe für ihre besten Einsichtsmittel gelten, während doch nirgends so wie hier Verzicht auf jede Ahnung wahren Sachverhalts zu leisten ist, solange diese termini im Schwange gehen. So viel nämlich läßt sich behaupten, daß der Primat des Biographischen im Lebensbilde eines Schaffenden, d. h. die Darstellung des Lebens als die eines menschlichen mit jener doppelten Betonung des Entscheidenden und für den Menschen Unentscheidbaren der Sittlichkeit nur da sich fände, wo Wissen um die Unergründlichkeit des Ursprunges jedes Werk, sowohl dem Wert wie dem Gehalt nach es umgrenzend, vom letzten Sinne seines Lebens ausschließt. Denn wenn das große Werk auch nicht in dem gemeinen Dasein sich heranbildet, ja wenn es sogar Bürgschaft seiner Reinheit ist, so ist es doch zuletzt nur eines unter seinen andern Elementen. Und nur ganz fragmentarisch kann es so das Leben eines Bildners mehr dem Werden als dem Gehalte nach verdeutlichen. Die gänzliche Unsicherheit über die Bedeutung, die Werke in dem Leben eines Menschen haben können, hat dazu geführt, dem Leben Schaffender besondere Arten ihm vorbehaltenen und in ihm allein gerechtfertigten Inhalts zuzuordnen. Ein solches soll nicht von den sittlichen Maximen nur emanzipiert, nein es soll höherer Legitimität teilhaft und der Einsicht deutlicher offen sein. Was Wunder, daß für solche Meinung jeder echte Lebensinhalt, wie er auch in den Werken stets hervortritt, sehr gering wiegt.


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