Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Ende ihr Herzschlag in ihm lebendig blieb. So versteht sich das Ergreifende in der Tagebucheintragung von 1820, daß er die »Wahlverwandtschaften zu lesen angefangen«, so auch die sprachlose Ironie einer Szene, die Heinrich Laube überliefert: »Eine Dame äußerte gegen Goethe über die Wahlverwandtschaften: Ich kann dieses Buch durchaus nicht billigen, Herr von Goethe; es ist wirklich unmoralisch und ich empfehle es keinem Frauenzimmer. – Darauf hat Goethe eine Weile ganz ernsthaft geschwiegen und endlich mit vieler Innigkeit gesagt: Das tut mir leid, es ist doch mein bestes Buch.« Jene letzte Reihe der Werke bezeugt und begleitet die Läuterung, welche keine Befreiung mehr sein durfte. Vielleicht weil seine Jugend aus der Not des Lebens oft allzu behende Flucht ins Feld der Dichtkunst ergriffen hatte, hat das Alter in furchtbar strafender Ironie Dichtung als Gebieterin über sein Leben gestellt. Goethe beugte sein Leben unter die Ordnungen, die es zur Gelegenheit seiner Dichtungen machten. Diese moralische Bewandtnis hat es mit seiner Kontemplation der Sachgehalte im späten Alter. Die drei großen Dokumente solcher maskierten Buße wurden Wahrheit und Dichtung, der westöstliche Divan und der zweite Teil des Faust. Die Historisierung seines Lebens, wie sie Wahrheit und Dichtung zuerst, später den Tag- und Jahresheften zufiel, hatte zu bewahrheiten und zu erdichten, wie sehr dieses Leben Urphänomen eines poetisch gehaltvollen, des Lebens voller Stoffe und Gelegenheiten für »den Dichter« gewesen sei. Gelegenheit der Poesie, von welcher hier die Rede ist, ist nicht nur etwas anderes als das Erlebnis, das die neuere Konvention der dichterischen Erfindung zum Grunde legt, sondern das genaue Gegenteil davon. Was sich durch die Literaturgeschichten als die Phrase forterbt, die Goethesche Poesie sei »Gelegenheitsdichtung« gewesen, meint: Erlebnisdichtung und hat damit, was die letzten und größten Werke betrifft, das Gegenteil von der Wahrheit gesagt. Denn die Gelegenheit gibt den Gehalt und das Erlebnis hinterläßt nur ein Gefühl. Verwandt und ähnlich dem Verhältnis dieser beiden ist das der Worte Genius und Genie. Im Munde der Modernen läuft das letztere auf einen Titel hinaus, der, wie sie sich auch stellen mögen, nie sich eignen wird, das Verhältnis eines Menschen zur Kunst als ein wesentliches zu treffen. Das gelingt dem Worte Genius und die Hölderlinschen Verse verbürgen es: »Sind denn nicht dir bekannt viele Lebendigen? | Geht auf Wahrem dein Fuß nicht, wie auf Teppichen? | Drum, mein Genius! tritt nur | Baar ins Leben und sorge nicht! | Was geschiehet, es sei alles gelegen dir!« Genau das ist die antike Berufung des Dichters, welcher von Pindar bis Meleager, von den isthmischen Spielen bis zu einer Liebesstunde, nur verschieden hohe, als solche aber stets würdige Gelegenheiten für seinen Gesang fand, den auf Erlebnisse zu gründen ihm daher nicht beifallen konnte. So ist denn der Erlebnisbegriff nichts anderes als die Umschreibung jener auch vom sublimsten, weil immer noch gleich feigen Philisterium ersehnten Folgenlosigkeit des Gesanges, welcher, der Beziehung auf Wahrheit beraubt, die schlafende Verantwortung nicht zu wecken vermag. Goethe war im Alter tief genug in das Wesen der Poesie eingedrungen, um schauernd jede Gelegenheit des Gesanges in der Welt, die ihn umgab, zu vermissen und doch jenen Teppich des Wahren einzig beschreiten zu wollen. Spät stand er an der Schwelle der deutschen Romantik. Ihm war der Zugang zur Religion in Form irgend einer Bekehrung, der Hinwendung zu einer Gemeinschaft nicht erlaubt, wie er Hölderlin nicht erlaubt war. Sie verabscheute Goethe bei den Frühromantikern. Aber die Gesetze, denen jene in der Bekehrung und damit im Erlöschen ihres Lebens vergeblich zu genügen suchten, entfachten in Goethe, der ihnen gleichfalls sich unterwerfen mußte, die allerhöchste Flamme seines Lebens. Die Schlacken jeder Leidenschaft verbrannten in ihr, und so vermochte er im Briefwechsel bis an sein Lebensende die Liebe zu Marianne so schmerzlich nahe sich zu halten, daß mehr als ein Jahrzehnt nach jener Zeit, in welcher sich ihre Neigung erklärte, jenes vielleicht gewaltigste Gedicht des Divan entstehen konnte: »Nicht mehr auf Seidenblatt | Schreib’ ich symmetrische Reime«. Und das späteste Phänomen solcher dem Leben, ja zuletzt der Lebensdauer gebietenden Dichtung war der Abschluß des Faust. Sind in der Reihe dieser Alterswerke das erste die Wahlverwandtschaften, so muß bereits in ihnen, wie dunkel darin der Mythos auch walte, eine reinere Verheißung sichtbar sein. Aber einer Betrachtung wie der Gundolfschen wird sie sich nicht erschließen. Sie so wenig wie die der übrigen Autoren gibt sich Rechenschaft von der Novelle, von den »wunderlichen Nachbarskindern«.

      Die Wahlverwandtschaften selbst sind anfänglich als Novelle im Kreise der Wanderjahre geplant worden, doch drängte sie ihr Wachstum aus ihm heraus. Aber die Spuren des ursprünglichen Formgedankens haben sich trotz allem erhalten, was das Werk zum Roman werden ließ. Nur die völlige Meisterschaft Goethes, welche darin auf einem Gipfel sich zeigt, wußte es zu verhindern, daß die eingeborne novellistische Tendenz die Romanform zerbrochen hätte. Mit Gewalt erscheint der Zwiespalt gebändigt und die Einheit erreicht, indem er die Form des Romans durch die der Novelle gleichsam veredelt. Der bezwingende Kunstgriff, der dies vermochte und der sich gleich gebieterisch von seiten des Gehalts her aufdrang, liegt darin, daß der Dichter die Teilnahme des Lesers in das Zentrum des Geschehens selbst hineinzurufen verzichtet. Indem nämlich dieses der unmittelbaren Intention des Lesers so durchaus unzugänglich bleibt, wie es am deutlichsten der unvermutete Tod der Ottilie beleuchtet, verrät sich der Einfluß der Novellenform auf die des Romans und gerade in der Darstellung dieses Todes auch am ehesten ein Bruch, wenn zuletzt jenes Zentrum, das in der Novelle sich bleibend verschließt, mit verdoppelter Kraft sich bemerkbar macht. Der gleichen Formtendenz mag angehören, worauf schon R. M. Meyer hingewiesen hat, daß die Erzählung gerne Gruppen stellt. Und zwar ist deren Bildlichkeit grundsätzlich unmalerisch; sie darf plastisch, vielleicht stereoskopisch genannt werden. Auch sie erscheint novellistisch. Denn wenn der Roman wie ein Maelstrom den Leser unwiderstehlich in sein Inneres zieht, drängt die Novelle auf den Abstand hin, drängt aus ihrem Zauberkreise jedweden Lebenden hinaus. Darin sind die Wahlverwandtschaften trotz ihrer Breite novellistisch geblieben. Sie sind an Nachhaltigkeit des Ausdrucks nicht der in ihnen enthaltenen eigentlichen Novelle überlegen. In ihnen ist eine Grenzform geschaffen, und durch diese stehn sie von andern Romanen weiter entfernt als jene unter sich. Im »Meister und in den Wahlverwandtschaften wird der künstlerische Stil durchaus dadurch bestimmt, daß wir überall den Erzähler fühlen. Es fehlt hier der formal-künstlerische Realismus …, der die Ereignisse und Menschen auf sich selber stellt, so daß sie, wie von der Bühne, nur als ein unmittelbares Dasein wirken; vielmehr, sie sind wirklich eine ›Erzählung‹, die von dem dahinter stehenden, fühlbaren Erzähler getragen wird … die Goetheschen Romane laufen innerhalb der Kategorien des ›Erzählers‹ ab«. »Vorgetragen« nennt Simmel sie ein andermal. Wie immer diese Erscheinung, die ihm nicht mehr analysierbar erscheint, für den Wilhelm Meister sich erklären mag, in den Wahlverwandtschaften rührt sie daher, daß Goethe sich mit Eifersucht es vorbehält, im Lebenskreise seiner Dichtung ganz allein zu walten. Eben dergleichen Schranken gegen den Leser kennzeichnen die klassische Form der Novelle, Boccaccio gibt den seinigen einen Rahmen, Cervantes schreibt ihnen eine Vorrede. So sehr sich also in den Wahlverwandtschaften die Form des Romans selbst betont, eben diese Betonung und dieses Übermaß von Typus und Kontur verrät sie als novellistisch.

      Nichts konnte den Rest von Zweideutigkeit der ihr verbleibt unscheinbarer machen, als die Einfügung einer Novelle, die, je mehr das Hauptwerk gegen sie als gegen ein reines Vorbild ihrer Art sich abhob, desto ähnlicher es einem eigentlichen Roman erscheinen lassen mußte. Darauf beruht die Bedeutung, welche für die Komposition den »wunderlichen Nachbarskindern« eignet, die als eine Musternovelle, selbst wo sich die Betrachtung auf die Form beschränkt, zu gelten haben. Auch hat nicht minder, ja gewissermaßen mehr noch als den Roman, Goethe sie als exemplarisch hinstellen wollen. Denn obwohl des Ereignisses, von dem sie berichtet, im Roman selbst als eines wirklichen gedacht wird, ist die Erzählung dennoch als Novelle bezeichnet. Sie soll als »Novelle« ebenso entschieden wie das Hauptwerk als »Ein Roman« gelten. Aufs deutlichste tritt an ihr die gedachte Gesetzmäßigkeit ihrer Form, die Unberührbarkeit des Zentrums, will sagen das Geheimnis als ein Wesenszug hervor. Denn Geheimnis ist in ihr die Katastrophe, als das lebendige Prinzip der Erzählung in die Mitte versetzt, während im Roman ihre Bedeutung, als die des abschließenden Geschehens phänomenal bleibt. Die belebende Kraft dieser Katastrophe ist, wiewohl so manches im Roman ihr entspricht, so schwer zu ergründen, daß für die ungeleitete Betrachtung die Novelle nicht weniger selbständig, doch auch kaum minder rätselhaft erscheint als »Die pilgernde Törin«. Und doch waltet in dieser Novelle das helle Licht. Alles steht, scharf umrissen, von Anfang an auf der Spitze. Es ist der Tag der Entscheidung, der in den dämmerhaften Hades des Romans hereinscheint. So ist denn die Novelle prosaischer als der Roman. In einer Prosa höhern


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