Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
alten Forderung gemäß, die vom Geopferten Untadeligkeit verlangt, zu diesem furchtbaren Geschick bestimmt. Zwar stellt in dieser Mädchengestalt nicht die Keuschheit, soweit sie aus der Geistigkeit entspringen mag, sich dar – vielmehr begründet solche Unberührbarkeit bei der Luciane nahezu einen Tadel – jedoch ihr ganz natürliches Gebaren macht trotz vollkommener Passivität, die der Ottilie im Erotischen sowie in jeder anderen Sphäre eignet, diese bis zur Entrücktheit unnahbar. In seiner aufdringlichen Art sagt auch das Wernersche Sonett es an: Die Keuschheit dieses Kindes hütet kein Bewußtsein. Aber ist ihr Verdienst nicht nur umso größer? Wie tief sie im natürlichen Wesen des Mädchens gründet, stellt Goethe in den Bildern dar, in denen er sie mit dem Christusknaben und mit Charlottens totem Kind im Arme zeigt. Zu beiden kommt Ottilie ohne Gatten. Jedoch der Dichter hat noch mehr hiermit gesagt. Denn das »lebende« Bild, das die Anmut und die aller Sittenstrenge überlegene Reinheit der Gottesmutter darstellt, ist eben das künstliche. Dasjenige, das die Natur nur wenig später bietet, zeigt den toten Knaben. Und gerade dies enthüllt das wahre Wesen jener Keuschheit, deren sakrale Unfruchtbarkeit an sich selbst in nichts über der unreinen Verworrenheit der Sexualität steht, die die zerfallenen Gatten zueinander führt und deren Recht allein darin waltet, eine Vereinigung hintanzuhalten, in der sich Mann und Frau verlieren müßten. In Ottiliens Erscheinung aber beansprucht diese Keuschheit bei weitem mehr. Sie ruft den Schein einer Unschuld des natürlichen Lebens hervor. Die heidnische wenn auch nicht mythische Idee dieser Unschuld verdankt zumindest ihre äußerste und folgenreichste Formulierung im Ideal der Jungfräulichkeit dem Christentum. Wenn die Gründe einer mythischen Urschuld im bloßen Lebenstrieb der Sexualität zu suchen sind, so sieht der christliche Gedanke ihren Widerpart, wo jener am meisten von drastischem Ausdruck entfernt ist: im Leben der Jungfrau. Aber diese klare wenn auch nicht klar bewußte Intention schließt einen folgenschweren Irrtum ein. Zwar gibt es, wie eine natürliche Schuld, so eine natürliche Unschuld des Lebens. Diese letztere aber ist nicht an die Sexualität – und sei es verneinend – sondern einzig an ihren Gegenpol den – gleichermaßen natürlichen – Geist gebunden. Wie das sexuelle Leben des Menschen der Ausdruck einer natürlichen Schuld werden kann, so sein geistiges, bezogen auf die Einheit seiner gleichviel wie beschaffenen Individualität, der Ausdruck einer natürlichen Unschuld. Diese Einheit individualen geistigen Lebens ist der Charakter. Die Eindeutigkeit als sein konstitutives Wesensmoment unterscheidet ihn vom Dämonischen aller rein sexuellen Phänomene. Einem Menschen einen komplizierten Charakter zusprechen kann nur heißen, ihm, sei es wahrheitsgemäß, sei es zu Unrecht, den Charakter absprechen, indessen für jede Erscheinung des bloßen sexuellen Lebens das Siegel ihrer Erkenntnis die Einsicht in die Zweideutigkeit ihrer Natur bleibt. Dies erweist sich auch an der Jungfräulichkeit. Vor allem liegt die Zweideutigkeit ihrer Unberührtheit zu Tage. Denn eben das, was als das Zeichen innerer Reinheit gedacht wird, ist der Begierde das Willkommenste. Aber auch die Unschuld der Unwissenheit ist zweideutig. Denn auf ihrem Grunde geht die Neigung unversehens in die als sündhaft gedachte Begierde über. Und eben diese Zweideutigkeit kehrt höchst bezeichnender Weise in dem christlichen Symbol der Unschuld, in der Lilie, wieder. Die strengen Linien des Gewächses, das Weiß des Blütenkelches verbinden sich mit den betäubend süßen, kaum mehr vegetabilen Düften. Diese gefährliche Magie der Unschuld hat der Dichter der Ottilie mitgegeben und sie ist aufs engste dem Opfer verwandt, das ihr Tod zelebriert. Denn eben indem sie dergestalt unschuldig erscheint, verläßt sie nicht den Bannkreis seines Vollzugs. Nicht Reinheit sondern deren Schein verbreitet sich mit solcher Unschuld über ihre Gestalt. Es ist die Unberührbarkeit des Scheins, die sie dem Geliebten entrückt. Dergleichen scheinhafte Natur ist auch im Wesen der Charlotte angedeutet, das völlig rein und unanfechtbar nur erscheint, während in Wahrheit die Untreue gegen den Freund es entstellt. Selbst in ihrer Erscheinung als Mutter und Hausfrau, in der Passivität ihr wenig ansteht, mutet sie schemenhaft an. Und doch stellt sich nur um den Preis dieser Unbestimmtheit in ihr das Adlige dar. Ottilien, welche unter Schemen der einzige Schein ist, ist sie demnach im tiefsten nicht unähnlich. Wie es denn überhaupt unerläßlich für die Einsicht in dieses Werk ist, seinen Schlüssel nicht im Gegensatz der vier Partner sondern in dem zu suchen, worin sie gleichermaßen von den Liebenden der Novelle sich unterscheiden. Die Gestalten der Haupterzählung haben ihren Gegensatz weniger als Einzelne denn als Paare.
Hat an jener echten natürlichen Unschuld, welche gleich wenig mit der zweideutigen Unberührtheit zu schaffen hat wie mit der seligen Schuldlosigkeit, das Wesen der Ottilie seinen Anteil? Hat sie Charakter? Ist ihre Natur, nicht so dank eigener Offenherzigkeit als kraft des freien und erschlossenen Ausdrucks, klar vor Augen? Das Gegenteil von all dem bezeichnet sie. Sie ist verschlossen – mehr als das, all ihr Tun und Sagen vermag nicht, ihrer Verschlossenheit sie zu entäußern. Pflanzenhaftes Stummsein, wie es so groß aus dem Daphne-Motiv der flehend gehobenen Hände spricht, liegt über ihrem Dasein und verdunkelt es noch in den äußersten Nöten, die sonst bei jedem es ins helle Licht setzen. Ihr Entschluß zum Sterben bleibt nicht nur vor den Freunden bis zuletzt geheim, er scheint in seiner völligen Verborgenheit auch für sie selbst unfaßbar sich zu bilden. Und dies rührt an die Wurzel seiner Moralität. Denn wenn irgendwo, so zeigt sich im Entschluß die moralische Welt vom Sprachgeist erhellt. Kein sittlicher Entschluß kann ohne sprachliche Gestalt, und streng genommen, ohne darin Gegenstand der Mitteilung geworden zu sein, ins Leben treten. Daher wird, in dem vollkommenen Schweigen der Ottilie, die Moralität des Todeswillens, welcher sie beseelt, fragwürdig. Ihm liegt in Wahrheit kein Entschluß zugrunde sondern ein Trieb. Daher ist nicht, wie sie es zweideutig auszusprechen scheint, ihr Sterben heilig. Wenn sie aus ihrer »Bahn« geschritten sich erkennt, so kann dies Wort in Wahrheit einzig heißen, daß nur der Tod sie vor dem innern Untergange bewahren kann. Und so ist er wohl Sühne im Sinne des Schicksals, nicht jedoch die heilige Entsühnung, welche nie der freie, sondern nur der göttlich über ihn verhängte Tod dem Menschen werden kann. Ottiliens ist, wie ihre Unberührtheit, nur der letzte Ausweg der Seele, welche vor dem Verfallensein entflieht. In ihrem Todestriebe spricht die Sehnsucht nach Ruhe. Wie gänzlich er Natürlichem in ihr entspringt, hat Goethe nicht zu bezeichnen verfehlt. Wenn Ottilie stirbt indem sie sich die Nahrung entzieht, so hat er im Roman es ausgesprochen, wie sehr ihr auch in glücklicheren Zeiten oft Speise widerstanden hat. Nicht so sehr darum ist das Dasein der Ottilie, das Gundolf heilig nennt, ein ungeheiIigtes, weil sie sich gegen eine Ehe, die zerfällt, vergangen hätte, als weil sie, im Scheinen und im Werden schicksalhafter Gewalt bis zum Tod unterworfen, entscheidungslos ihr Leben dahinlebt. Dieses ihr schuldig-schuldloses Verweilen im Raume des Schicksals leiht ihr vor flüchtigen Blicken das Tragische. So kann Gundolf von dem »Pathos dieses Werkes« sprechen »nicht minder tragisch erhaben und erschütternd als das, aus dem der Sophokleische Ödipus stammt«. Vor ihm schon ähnlich Francois-Poncet in seinem schalen aufgeschwemmten Buche über die »affinites electives«. Und doch ist dies das falscheste Urteil. Denn im tragischen Worte des Helden ist der Grat der Entscheidung erstiegen, unter dem Schuld und Unschuld des Mythos sich als Abgrund verschlingen. Jenseits von Verschuldung und Unschuld ist das Diesseits von Gut und Böse gegründet, das dem Helden allein, doch niemals dem zagenden Mädchen erreichbar ist. Darum ist es leeres Reden, ihre »tragische Läuterung« zu rühmen. Untragischer kann nichts ersonnen werden als dieses trauervolle Ende.
Aber nicht allein darin gibt sich der sprachlose Trieb zu erkennen; haltlos erscheint auch ihr Leben, wenn es der Lichtkreis moralischer Ordnungen trifft. Doch nur gänzliche Anteillosigkeit an dieser Dichtung scheint dafür dem Kritiker Augen gelassen zu haben. So blieb es dem hausbacknen Verstand Julian Schmidts vorbehalten, die Frage zu stellen, die doch dem Unbefangenen am ersten dem Geschehen gegenüber sich einstellen müßte. »Es wäre nichts dagegen zu sagen gewesen, wenn die Leidenschaft stärker gewesen wäre als das Gewissen, aber wie begreift sich dies Verstummen des Gewissens?« »Ottilie begeht eine Schuld, sie empfindet sie später sehr tief, tiefer als nötig; aber wie geht es zu, daß sie es nicht vorher empfindet? … Wie ist es möglich, daß eine so wohl geschaffene und so wohl erzogene Seele wie Ottilie sein soll, nicht empfindet, daß sie durch die Art ihres Benehmens gegen Eduard ein Unrecht an Charlotte, ihrer Wohltäterin begeht?« Keine Einsicht in die innersten Zusammenhänge des Romans kann das plane Recht dieser Frage entkräften. Das Verkennen ihrer zwingenden Natur läßt das Wesen des Romans im Dunkeln. Denn dies Schweigen der moralischen Stimme ist nicht, wie die gedämpfte Sprache der Affekte, als ein Zug der Individualität zu fassen. Es ist keine Bestimmung innerhalb der Grenzen menschlichen Wesens. Mit diesem Schweigen hat verzehrend