Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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im Alter gestorben ist. Alle sprachlose Klarheit des Handelns ist scheinhaft und in Wahrheit ist das Innere so sich Bewahrender ihnen selbst nicht weniger als andern verdunkelt. In ihrem Tagebuche allein scheint zuletzt sich noch Ottiliens menschliches Leben zu regen. Ist doch all ihr sprachbegabtes Dasein mehr und mehr in diesen stummen Niederschriften zu suchen. Doch auch sie bauen nur das Denkmal für eine Erstorbene. Ihr Offenbaren von Geheimnissen, welche der Tod allein entsiegeln dürfte, gewöhnt an den Gedanken ihres Hinscheidens; und sie deuten auch, indem sie jene Schweigsamkeit der Lebenden bekunden, auf ihr völliges Verstummen voraus. Sogar in ihre geistige, entrückte Stimmung dringt das Scheinhafte, das in dem Leben der Schreiberin waltet. Denn wenn es die Gefahr des Tagebuches überhaupt ist, allzufrühe die Keime der Erinnerung in der Seele aufzudecken und das Reifen ihrer Früchte zu vereiteln, so muß sie notwendig verhängnisvoll dort werden, wo in ihm allein das geistige Leben sich ausspricht. Und doch stammt zuletzt alle Kraft verinnerlichten Daseins aus Erinnerung. Erst sie verbürgt der Liebe ihre Seele. Die atmet in dem Goetheschen Erinnern: »Ach, Du warst in abgelebten Zeiten | Meine Schwester oder meine Frau«. Und wie in solchem Bunde selbst die Schönheit als Erinnerung sich überdauert, so ist sie auch im Blühen wesenlos ohne diese. Das bezeugen die Worte des Platonischen Phaedrus: »Wer nun erst frisch von der Weihe kommt und einer von denen ist, die dort im Jenseits viel erschauten, der, wenn er ein göttliches Antlitz, welches die Schönheit wohl nachbildet oder eine Körpergestalt erblickt, wird zunächst, der damals erlebten Bedrängnis gedenkend, von Bestürzung befallen, dann aber recht zu ihr hintretend, erkennt er ihr Wesen und verehrt sie wie einen Gott, denn die Erinnerung zur Idee der Schönheit erhoben schaut diese wiederum neben der Besonnenheit auf heiligem Boden stehend.«

      Ottiliens Dasein weckt solche Erinnerung nicht, in ihm bleibt wirklich Schönheit das Erste und Wesentliche. All ihr günstiger »Eindruck geht nur aus der Erscheinung hervor; trotz der zahlreichen Tagebuchblätter bleibt ihr inneres Wesen verschlossen, verschlossener als irgend eine weibliche Figur Heinrich von Kleists«. In dieser Einsicht begegnet sich Julian Schmidt mit einer alten Kritik, die mit sonderbarer Bestimmtheit sagt: »Diese Ottilie ist nicht ein echtes Kind von des Dichters Geiste, sondern sündhafter Weise erzeugt, in doppelter Erinnerung an Mignon und an ein altes Bild von Masaccio oder Giotto«. In der Tat sind in Ottiliens Gestalt die Grenzen der Epik gegen die Malerei überschritten. Denn die Erscheinung des Schönen als des wesentlichen Gehaltes in einem Lebendigen liegt jenseits des epischen Stoffkreises. Und doch steht sie im Zentrum des Romans. Denn es ist nicht zu viel gesagt, wenn man die Überzeugung von Ottiliens Schönheit als Grundbedingung für den Anteil am Roman bezeichnet. Diese Schönheit darf, solange seine Welt Bestand hat, nicht verschwinden: der Sarg, in dem das Mädchen ruht, wird nicht geschlossen. Sehr weit hat Goethe sich in diesem Werk von dem berühmten Homerischen Vorbild für die epische Darstellung der Schönheit entfernt. Denn nicht allein zeigt selbst die Helena in ihrem Spott gegen Paris sich entschiedner, als je in ihren Worten die Ottilie, sondern vor allem in der Darstellung von deren Schönheit ist Goethe nicht der berühmten Regel gefolgt, die aus den bewundernden Reden der auf der Mauer versammelten Greise entnommen wurde. Jene auszeichnenden Epitheta, welche, selbst gegen die Gesetze der Romanform, der Ottilie verliehen werden, dienen nur, sie aus der epischen Ebene herauszurücken, in welcher der Dichter waltet und eine fremde Lebendigkeit ihr mitzuteilen, für die er nicht verantwortlich ist. Je ferner sie dergestalt der Homerischen Helena steht desto näher der Goetheschen. In zweideutiger Unschuld und scheinhafter Schönheit wie sie, steht sie wie sie in Erwartung des sühnenden Todes. Und Beschwörung ist ja auch bei ihrer Erscheinung im Spiel.

      Der episodischen Gestalt der Griechin gegenüber wahrte Goethe die vollkommene Meisterschaft, da er in der Form dramatischer Darstellung selbst die Beschwörung durchleuchtete – wie wohl in diesem Sinne es am allerwenigsten ein Zufall scheint, daß jene Szene, in der Faust von Persephone die Helena erbitten sollte, nie geschrieben wurde. In den Wahlverwandtschaften aber ragen die dämonischen Prinzipien der Beschwörung in das dichterische Bilden selbst mitten hinein. Beschworen nämlich wird stets nur ein Schein, in Ottilien die lebendige Schönheit, welche stark, geheimnisvoll und ungeläutert als »Stoff« in gewaltigstem Sinne sich aufdrängte. So bestätigt sich das Hadeshafte, das der Dichter dem Geschehn verleiht: vor dem tiefen Grunde seiner Dichtergabe steht er wie Odysseus mit dem nackten Schwerte vor der Grube voll Blut und wie dieser wehrt er den durstigen Schatten, um nur jene zu dulden, deren karge Rede er sucht. Sie ist ein Zeichen ihres geisterhaften Ursprungs. Er ist es, der das eigentümlich Durchscheinende, mitunter Preziöse in Anlage und Ausführung hervorbringt. Jene Formelhaftigkeit, welche vor allem im Aufbau des zweiten Teiles sich findet, der zuletzt nach Vollendung der Grundkonzeption bedeutend erweitert wurde, tritt doch angedeutet auch im Stil, in seinen zahllosen Parallelismen, Komparativen und Einschränkungen hervor, wie sie der späten Goetheschen Schreibart nah liegen. In diesem Sinne äußert Görres gegen Arnim, daß in den Wahlverwandtschaften manches ihm »wie gebohnt und nicht wie geschnitzt« vorkäme. Ein Wort, das zumal auf die Maximen der Lebensweisheit seine Anwendung finden möchte. Problematischer noch sind die Züge, welche überhaupt nicht der rein rezeptiven Intention sich erschließen können: jene Korrespondenzen, welche einzig einer vom Ästhetischen ganz abgekehrten, philologisch forschenden Betrachtung sich erschließen. Ganz gewiß greift in solchen die Darstellung ins Bereich beschwörender Formeln hinüber. Daher fehlt ihr so oft die letzte Augenblicklichkeit und Endgültigkeit der künstlerischen Belebung: die Form. In dem Roman baut diese nicht sowohl Gestalten, welche oft genug aus eigner Machtvollkommenheit formlos als mythische sich einsetzen, auf, als daß sie zaghaft, gleichsam arabeskenhaft um jene spielend, vollendet und mit höchstem Recht sie auflöst. Als Ausdruck inhärenter Problematik mag man die Wirkung des Romans ansehn. Es unterscheidet ihn von andern, die das beste Teil, wenn auch nicht stets die höchste Stufe ihrer Wirkung im unbefangenen Gefühl des Lesers finden, daß er auf dieses höchst verwirrend wirken muß. Ein trüber Einfluß, der sich in verwandten Gemütern bis zu schwärmerischem Anteil und in fremderen zu widerstrebender Verstörtheit steigern mag, war ihm von jeher eigen und nur die unbestechliche Vernunft, in deren Schutz das Herz der ungeheueren, beschwornen Schönheit dieses Werks sich überlassen darf, ist ihm gewachsen.

      Beschwörung will das negative Gegenbild der Schöpfung sein. Auch sie behauptet aus dem Nichts die Welt hervorzubringen. Mit beiden hat das Kunstwerk nichts gemein. Nicht aus dem Nichts tritt es hervor sondern aus dem Chaos. Ihm jedoch wird es nicht, wie nach dem Idealismus der Emanationslehre die geschaffene Welt es tut, sich entringen. Künstlerisches Schaffen »macht« nichts aus dem Chaos, durchdringt es nicht; genau so wenig wird, wie Beschwörung dies in Wahrheit tut, aus Elementen jenes Chaos Schein sich mischen lassen. Dies bewirkt die Formel. Form jedoch verzaubert es auf einen Augenblick zur Welt. Daher darf kein Kunstwerk gänzlich ungebannt lebendig scheinen ohne bloßer Schein zu werden und aufzuhören Kunstwerk zu sein. Das in ihm wogende Leben muß erstarrt und wie in einem Augenblick gebannt erscheinen. Dies in ihm Wesende ist bloße Schönheit, bloße Harmonie, die das Chaos – und in Wahrheit eben nur dieses, nicht die Welt – durchflutet, im Durchfluten aber zu beleben nur scheint. Was diesem Schein Einhalt gebietet, die Bewegung bannt und der Harmonie ins Wort fällt ist das Ausdruckslose. Jenes Leben gründet das Geheimnis, dies Erstarren den Gehalt im Werke. Wie die Unterbrechung durch das gebietende Wort es vermag aus der Ausflucht eines Weibes die Wahrheit gerad da herauszuholen, wo sie unterbricht, so zwingt das Ausdruckslose die zitternde Harmonie einzuhalten und verewigt durch seinen Einspruch ihr Beben. In dieser Verewigung muß sich das Schöne verantworten, aber nun scheint es in eben dieser Verantwortung unterbrochen und so hat es denn die Ewigkeit seines Gehalts eben von Gnaden jenes Einspruchs. Das Ausdruckslose ist die kritische Gewalt, welche Schein vom Wesen in der Kunst zwar zu trennen nicht vermag, aber ihnen verwehrt, sich zu mischen. Diese Gewalt hat es als moralisches Wort. Im Ausdruckslosen erscheint die erhabne Gewalt des Wahren, wie es nach Gesetzen der moralischen Welt die Sprache der wirklichen bestimmt. Dieses nämlich zerschlägt was in allem schönen Schein als die Erbschaft des Chaos noch überdauert: die falsche, irrende Totalität die absolute. Dieses erst vollendet das Werk, welches es zum Stückwerk zerschlägt, zum Fragmente der wahren Welt, zum Torso eines Symbols. Eine Kategorie der Sprache und Kunst, nicht des Werkes oder der Gattungen, ist das Ausdruckslose strenger nicht definierbar, als durch eine Stelle aus Hölderlins Anmerkungen zum Ödipus, welche in ihrer über die Theorie der Tragödie hinaus für jene der Kunst schlechthin grundlegenden Bedeutung noch nicht erkannt zu sein scheint. Sie lautet: »Der tragische Transport ist


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