Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Auffassung, das Leben Schaffender verfüge über autonome Inhalte, berührt sich die triviale Denkgewohnheit so genau mit einer sehr viel tieferen, daß die Annahme erlaubt ist, die erste sei nur eine Deformierung dieser letzten und ursprünglichen, welche jüngst wieder ans Licht trat. Wenn nämlich der herkömmlichen Anschauung Werk, Wesen und Leben gleich bestimmungslos sich vermengen, so spricht jene ausdrücklich Einheit diesen dreien zu. Sie konstruiert damit die Erscheinung des mythischen Heros. Denn im Bereich des Mythos bilden in der Tat das Wesen, Werk und Leben jene Einheit, die ihnen sonst allein im Sinn des laxen Literators zukommt. Dort ist das Wesen Dämon und das Leben Schicksal und das Werk, das nur die beiden ausprägt, lebende Gestalt. Dort hält es zugleich den Grund des Wesens in sich und den Inhalt des Lebens. Die kanonische Form des mythischen Lebens ist eben das des Heros. In ihm ist das Pragmatische zugleich symbolisch, in ihm allein mit andern Worten gleicherweise die Symbolgestalt und mit ihr der Symbolgehalt des menschlichen Lebens adäquat der Einsicht gegeben. Aber dieses menschliche Leben ist vielmehr das übermenschliche und daher nicht nur in dem Dasein der Gestalt, entscheidender vielmehr im Wesen des Gehalts vom eigentlich menschlichen unterschieden. Denn während die verborgene Symbolik dieses letzten bindend gleich sehr auf Individualem wie auf dem Menschlichen des Lebenden beruht, erreicht die offenkundige des Heroenlebens weder die Sphäre individueller Sonderart noch jene der moralischen Einzigkeit. Vom Individuum scheidet den Heros der Typus, die, wenn auch übermenschliche, Norm; von der moralischen Einzigkeit der Verantwortung die Rolle des Stellvertreters. Denn er ist nicht allein vor seinem Gott, sondern der Stellvertreter der Menschheit vor ihren Göttern. Mythischer Natur ist alle Stellvertretung im moralischen Bereich vom vaterländischen »Einer für alle« bis zu dem Opfertode des Erlösers. – Typik und Stellvertretung im Heroenleben gipfeln in dem Begriff seiner Aufgabe. Deren Gegenwart und evidente Symbolik unterscheidet das übermenschliche Leben vom menschlichen. Sie kennzeichnet Orpheus, der in den Hades steigt, nicht minder als den Herakles der zwölf Aufgaben: den mythischen Sänger wie den mythischen Helden. Für diese Symbolik fließt eine der mächtigsten Quellen aus dem Astralmythos: im übermenschlichen Typus des Erlösers vertritt der Heros die Menschheit durch sein Werk am Sternenhimmel. Ihm gelten die orphischen Urworte: sein Dämon ist es, der sonnenhaft, seine Tyche, die wechselnd wie der Mond, sein Schicksal, das unentrinnbar gleich der astralen Anagke, sogar der Eros nicht – Elpis allein weist über sie hinaus. So ist es denn kein Zufall, daß der Dichter auf die Elpis stieß, als er das menschlich Nahe in den andern Worten suchte, daß unter allen sie allein keiner Erklärung bedürftig gefunden wurde – kein Zufall aber auch, daß nicht sie, vielmehr der starre Kanon der vier übrigen das Schema für den »Goethe« Gundolfs dargeboten. Demnach ist die Methodenfrage an die Biographik weniger doktrinär, als diese ihre Deduktion vermuten ließe. Denn es ist ja in dem Buche Gundolfs versucht worden, als ein mythisches das Leben Goethes darzustellen. Und diese Auffassung erfordert die Beachtung nicht allein, weil Mythisches im Dasein dieses Mannes lebt, erfordert sie gedoppelt vielmehr bei Betrachtung eines Werkes, auf das sie seiner mythischen Momente wegen sich berufen könnte. Gelingt ihr nämlich diesen Anspruch zu erhärten, so bedeutet das, die Abhebung der Schicht, in der der Sinn jenes Romans selbständig waltet, sei unmöglich. Wo solch gesonderter Bereich nicht nachzuweisen, da kann es sich nicht um Dichtung, sondern allein um deren Vorläufer, das magische Schrifttum handeln. Daher ist jede eingehende Betrachtung eines Goetheschen Werkes, ganz besonders aber die der Wahlverwandtschaften, von der Zurückweisung dieses Versuches abhängig. Mit ihr ist zugleich die Einsicht in einen Lichtkern des erlösenden Gehalts gewiesen, der jener Einstellung wie überall auch in den Wahlverwandtschaften entgangen ist.

      Der Kanon, welcher dem Leben des Halbgotts entspricht, erscheint in einer eigentümlichen Verschiebung in der Auffassung, die die Georgesche Schule vom Dichter bekundet. Ihm nämlich wird, gleich dem Heros, sein Werk als Aufgabe von ihr zugesprochen und somit sein Mandat als göttliches betrachtet. Von Gott aber kommen dem Menschen nicht Aufgaben sondern einzig Forderungen, und daher ist vor Gott kein Sonderwert dem dichterischen Leben zuzuschreiben. Wie denn übrigens der Begriff der Aufgabe auch vom Dichter aus betrachtet unangemessen ist. Dichtung im eigentlichen Sinn entsteht erst da, wo das Wort vom Banne auch der größten Aufgabe sich frei macht. Nicht von Gott steigt solche Dichtung nieder, sondern aus dem Unergründlichen der Seele empor; sie hat am tiefsten Selbst des Menschen Anteil. Weil ihre Sendung jenem Kreise unmittelbar von Gott zu stammen scheint, so wird von ihm dem Dichter nicht allein der unverletzliche, jedoch nur relative Rang in seinem Volke zugebilligt, sondern eine völlig problematische Suprematie als Mensch schlechthin und somit seinem Leben vor Gott, dem er als Übermensch gewachsen scheint. Der Dichter aber ist eine nicht etwa grad- sondern artmäßig vorläufigere Erscheinung menschlichen Wesens als der Heilige. Denn im Wesen des Dichters bestimmt sich ein Verhältnis des Individuums zur Volksgemeinschaft, in dem des Heiligen das Verhältnis des Menschen zu Gott.

      Zu der heroisierenden Ansicht vom Dichter findet sich in den Betrachtungen des Kreises, wie sie Gundolfs Buch fundieren, höchst verwirrend und verhängnisvoll ein zweiter nicht geringerer Irrtum aus dem Abgrund der gedankenlosen Sprachverwirrung. Wenn auch dem der Titel eines Dichters als des Schöpfers wohl nicht angehört, so ist er doch bereits in jedem Geiste ihm verfallen, der jenen Ton des Metaphorischen darin, Gemahnung an den wahren Schöpfer, nicht vernimmt. Und in der Tat ist der Künstler weniger der Urgrund oder Schöpfer als der Ursprung oder Bildner und sicherlich sein Werk um keinen Preis sein Geschöpf, vielmehr sein Gebilde. Zwar hat auch das Gebilde Leben, nicht das Geschöpf allein. Aber was den bestimmenden Unterschied zwischen beiden begründet: nur das Leben des Geschöpfes, niemals das des Gebildeten hat Anteil, hemmungslosen Anteil an der Intention der Erlösung. Wie immer also die Gleichnisrede vom Schöpfertume eines Künstlers sprechen mag, ihre eigenste virtus, die der Ursache nämlich, vermag Schöpfung nicht an seinen Werken, sondern an Geschöpfen einzig und allein zu entfalten. Daher führt jener unbesonnene Sprachgebrauch, der an dem Worte »Schöpfer« sich erbaut, ganz von selbst dahin, vom Künstler nicht die Werke sondern das Leben für dessen eigenstes Produkt zu halten. Während aber im Leben des Heros kraft dessen völliger symbolischer Erhelltheit das völlig Gestaltete, dessen Gestalt der Kampf ist, sich darstellt, findet sich im Leben des Dichters nicht nur eine eindeutige Aufgabe so wenig wie in irgend einem menschlichen, sondern ebensowenig ein eindeutiger und klar erweisbarer Kampf. Da dennoch die Gestalt beschworen werden soll, so bietet jenseits der lebendigen im Kampf nur die erstarrende im Schrifttum sich dar. So vollendet sich ein Dogma, das das Werk, welches es zum Lesen verzauberte, durch nicht weniger verführerisches Irren als Leben wieder zum Werk erstarren läßt und das die vielberufene »Gestalt« des Dichters als einen Zwitter von Heros und Schöpfer zu fassen vermeint, an dem sich nichts mehr unterscheiden, doch von dem sich mit dem Schein des Tiefsinns alles behaupten läßt.

      Das gedankenloseste Dogma des Goethekults, das blasseste Bekenntnis der Adepten: daß unter allen Goetheschen Werken das größte sein Leben sei – Gundolfs »Goethe« hat es aufgenommen. Goethes Leben wird demnach nicht von dem der Werke streng geschieden. Wie der Dichter in einem Bilde von klarer Paradoxie die Farben die Taten und Leiden des Lichts genannt hat, so macht Gundolf in einer höchst getrübten Anschauung zu solchem Licht, das letzten Endes nicht von anderer Art als seine Farben, seine Werke sein würde, das Goethesche Leben. Diese Einstellung leistet ihm zweierlei: sie entfernt jeden moralischen Begriff aus dem Gesichtskreis und erreicht zugleich, indem sie dem Heros die Gestalt, die ihm als Sieger zukommt, als Schöpfer zuspricht, die Schicht des blasphemischen Tiefsinns. So heißt es von den Wahlverwandtschaften, daß darin Goethe »Gottes gesetzliches Verfahren nachsann«. Aber das Leben des Menschen, und sei es das des Schaffenden, ist niemals das des Schöpfers. Genau so wenig läßt es sich als das des Heros, das sich selber die Gestalt gibt, deuten. In solchem Sinne kommentiert es Gundolf. Denn nicht mit der treuen Gesinnung des Biographen wird der Sachgehalt dieses Lebens auch, und gerade, um des darin Nichtverstandenen willen erfaßt, nicht in der großen Bescheidung echter Biographik als das Archiv selbst unentzifferbarer Dokumente dieses Daseins, sondern offenbar liegen sollen Sachgehalt und Wahrheitsgehalt und wie im Heroenleben einander entsprechen. Offenbar jedoch liegt der Sachgehalt des Lebens allein und sein Wahrheitsgehalt ist verborgen. Wohl lassen der einzelne Zug, die einzelne Beziehung sich aufhellen, nicht aber die Totalität, es sei denn auch sie werde nur in einer endlichen Beziehung ergriffen. Denn an sich ist sie unendlich. Daher gibt es im Bereich der Biographik weder Kommentar noch Kritik. In der Verletzung dieses Grundsatzes begegnen sich auf seltsame Weise zwei Bücher, die übrigens


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