Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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darum nicht weniger ist die eheliche Treue bedingt. Bedingt in dem doppelten Sinne: durchs notwendig wie durchs hinreichend Bedingende. Jenes liegt in dem Fundamente der Entscheidung. Sie ist gewiß nicht willkürlicher darum, weil die Leidenschaft nicht ihr Kriterium ist. Vielmehr steht dies nur umso unzweideutiger und strenger in dem Charakter der Erfahrung vor ihr. Nur diejenige Erfahrung nämlich vermag die Entscheidung zu tragen, welche, jenseits alles späteren Geschehens und Vergleichens, wesensmäßig dem Erfahrenden sich einmalig zeigt und einzig, während jeder Versuch aufs Erlebnis Entscheidung zu gründen früher oder später den aufrechten Menschen mißlingt. Ist diese notwendige Bedingung ehelicher Treue gegeben, dann heißt Pflichterfüllung ihre hinreichende. Nur wenn von beiden eine frei vom Zweifel ob sie da war bleiben kann, läßt sich der Grund des Bruchs der Ehe sagen. Nur dann ist klar, ob er »von Hause aus« notwendig ist, ob noch durch Umkehr eine Rettung zu erhoffen steht. Und hiermit gibt sich jene Vorgeschichte, die Goethe dem Roman ersonnen hat, als Zeugnis des untrüglichsten Gefühls. Früher schon haben sich Eduard und Charlotte geliebt, doch des ungeachtet beide ein nichtiges Ehebündnis geschlossen, bevor sie einander sieh vereinten. Nur auf diese einzige Weise vielleicht konnte in der Schwebe bleiben, worin im Leben beider Gatten der Fehltritt liegt: ob in der frühern Unschlüssigkeit, ob in der gegenwärtigen Untreue. Denn die Hoffnung mußte Goethe erhalten, daß schon einmal siegreicher Bindung auch nun zu dauern bestimmt sei. Daß aber dann nicht als rechtliche Form noch auch als bürgerliche diese Ehe dem Schein, der sie verführt, begegnen könne, ist schwerlich dem Dichter entgangen. Nur im Sinne der Religion wäre dies ihr gegeben, in dem »schlechtere« Ehen als sie ihren unantastbaren Bestand haben. Demnach ist ganz besonders tief das Mißlingen aller Einigungsversuche dadurch motiviert, daß diese von einem Manne ausgehen, welcher mit der Weihe des Geistlichen selber die Macht und das Recht abgelegt hat, die allein solche rechtfertigen können. Doch da ihnen Vereinigung nicht mehr vergönnt, bleibt am Ende die Frage siegreich, die entschuldigend alles begleitet: war das nicht nur die Befreiung aus von Anfang verfehltem Beginnen? Wie dem nun sei – diese Menschen sind aus der Bahn der Ehe gerissen, um unter andern Gesetzen ihr Wesen zu finden.

      Heiler als Leidenschaft doch nicht hilfreicher führt auch Neigung nur dem Untergang die entgegen, die der ersten entsagen. Aber nicht die Einsamen richtet sie zugrunde wie jene. Unzertrennlich geleitet sie die Liebenden hinab, ausgesöhnt erreichen sie das Ende. Auf diesem letzten Weg wenden sie einer Schönheit sich zu, die nicht mehr dem Schein verhaftet ist, und sie stehen im Bereich der Musik. »Aussöhnung« hat Goethe jenes dritte Gedicht der »Trilogie« genannt, in welchem die Leidenschaft zur Ruhe geht. Es ist »das Doppelglück der Töne wie der Liebe«, das hier, keineswegs als Krönung, sondern als erste schwache Ahnung, als fast noch hoffnungsloser Morgenschimmer den Gequälten leuchtet. Die Musik kennt ja die Aussöhnung in der Liebe und aus diesem Grunde trägt das letzte Gedicht der Trilogie als einziges eine Widmung, während der »Elegie« in ihrem Motto wie in ihrem Ende das »Laßt mich allein« der Leidenschaft entfährt. Versöhnung aber, die im Weltlichen blieb, mußte schon dadurch als Schein sich enthüllen und wohl dem Leidenschaftlichen, dem er endlich sich trübte. »Die hehre Welt, wie schwindet sie den Sinnen!« »Da schwebt hervor Musik mit Engelsschwingen« und nun verspricht der Schein erst ganz zu weichen, nun erst die Trübung ersehnt und vollkommen zu werden. »Das Auge netzt sich, fühlt im höhern Sehnen | Den Götterwert der Töne wie der Tränen.« Diese Tränen, die beim Hören der Musik das Auge füllen, entziehen ihm die sichtbare Welt. Damit ist jener tiefe Zusammenhang angedeutet, welcher Hermann Cohen, der im Sinn des greisen Goethe vielleicht besser als nur einer all der Interpreten fühlte, in einer flüchtigen Bemerkung geleitet zu haben scheint. »Nur der Lyriker, der in Goethe zur Vollendung kommt, nur der Mann, der Tränen sät, die Tränen der unendlichen Liebe, nur er konnte dem Roman diese Einheitlichkeit stiften.« Freilich ist das nicht mehr als eben erahnt, auch führt von hier kein Weg die Deutung weiter. Denn dies vermag nur die Erkenntnis, daß jene »unendliche« Liebe weit weniger ist als die schlichte, von der man sagt, daß sie über den Tod hinaus dauert, daß es die Neigung ist, die in den Tod führt. Aber darin wirkt ihr Wesen und kündigt wenn man so will die Einheitlichkeit des Romans sich an, daß die Neigung, wie die Verschleierung des Bildes durch Tränen in der Musik, so in der Aussöhnung den Untergang des Scheins durch die Rührung hervorruft. Eben die Rührung nämlich ist jener Übergang, in welchem der Schein – der Schein der Schönheit als der Schein der Versöhnung – noch einmal am süßesten dämmert vor dem Vergehen. Sprachlich können weder Humor noch Tragik die Schönheit fassen, in einer Aura durchsichtiger Klarheit vermag sie nicht zu erscheinen. Deren genauester Gegensatz ist die Rührung. Weder Schuld noch Unschuld, weder Natur noch Jenseits gelten ihr streng unterschieden. In dieser Sphäre erscheint Ottilie, dieser Schleier muß über ihrer Schönheit liegen. Denn die Tränen der Rührung, in welchen der Blick sich verschleiert, sind zugleich der eigenste Schleier der Schönheit selbst. Aber Rührung ist nur der Schein der Versöhnung. Und wie ist gerade jene trügerische Harmonie in dem Flötenspiele der Liebenden unbeständig und rührend. Von Musik ist ihre Welt ganz verlassen. Wie denn der Schein, dem die Rührung verbunden ist, so mächtig nur in denen werden kann, die, wie Goethe, nicht von Ursprung an durch Musik im Innersten berührt und vor der Gewalt lebender Schönheit gefeit sind. Ihr Wesenhaftes zu erretten ist das Ringen Goethes. Darinnen trübt der Schein dieser Schönheit sich mehr und mehr, wie die Durchsichtigkeit einer Flüssigkeit in der Erschütterung, in der sie Kristalle bildet. Denn nicht die kleine Rührung, die sich selbst genießt, die große der Erschütterung allein ist es, in welcher der Schein der Versöhnung den schönen überwindet und mit ihm zuletzt sich selbst. Die tränenvolle Klage: das ist Rührung. Und wie dem tränenlosen Wehgeschrei so gibt auch ihr der Raum der dionysischen Erschütterung Resonanz. »Trauer und Schmerz im Dionysischen als die Tränen, die dem steten Untergang alles Lebens geweint werden, bilden die sanfte Ekstase; es ist ›das Leben der Zikade, die ohne Speise und Trank singt, bis sie stirbt‹.« So Bernoulli zum hunderteinundvierzigsten Kapitel des »Mutterrechts«, wo Bachofen von der Zikade handelt, dem Tiere, das ursprünglich nur der dunklen Erde eigen vom mythischen Tiefsinn der Griechen in den Verband der uranischen Sinnbilder hinaufgehoben ward. Was anders meinte Goethes Sinnen um Ottiliens Lebensausgang?

      Je tiefer die Rührung sich versteht, desto mehr ist sie Übergang; ein Ende bedeutet sie niemals für den wahren Dichter. Eben das will es besagen, wenn die Erschütterung sich als ihr bestes Teil zeigt und dasselbe meint, obzwar in sonderbarer Beziehung, Goethe, wenn er in der Nachlese zur Poetik des Aristoteles sagt: »Wer nun auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen innern Ausbildung fortschreitet, wird empfinden und gestehn, daß Tragödien und tragische Romane den Geist keineswegs beschwichtigen, sondern das Gemüt und das was wir das Herz nennen, in Unruhe versetzen und einem vagen unbestimmten Zustande entgegenführen; diesen liebt die Jugend und ist daher für solche Produktionen leidenschaftlich eingenommen«. Übergang aber wird die Rührung aus der verworrenen Ahnung »auf dem Wege einer wahrhaft sittlichen … Ausbildung« nur zu dem einzig objektiven Gegenstande der Erschütterung sein, zum Erhabenen. Eben dieser Übergang ist es, der im Untergang des Scheines sich vollzieht. Jener Schein, der in Ottiliens Schönheit sich darstellt, ist der untergehende. Denn es ist nicht so zu verstehen, als führe äußere Not und Gewalt den Untergang der Ottilie herauf, sondern in der Art ihres Scheins selbst liegt es begründet, daß er verlöschen muß, daß er es bald muß. Ein ganz anderer ist er als der triumphierende blendender Schönheit, der Lucianens ist oder Lucifers. Und während der Gestalt der Goetheschen Helena und der berühmteren der Mona Lisa aus dem Streit dieser beiden Arten des Scheins das Rätsel ihrer Herrlichkeit entstammt, ist die Ottiliens nur durchwaltet von dem einen Schein, der verlischt. In jede ihrer Regungen und Gesten hat der Dichter dies gelegt, um zuletzt, am düstersten und zartesten zugleich, in ihrem Tagebuche mehr und mehr das Dasein einer Schwindenden sie führen zu lassen. Also nicht der Schein der Schönheit schlechthin, der sich zwiefach erweist, ist in Ottilie erschienen, sondern allein jener eine ihr eigene vergehende. Aber freilich erschließt der die Einsicht im schönen Schein überhaupt und gibt erst darin sich selbst zu erkennen. Daher sieht jede Anschauung, die die Gestalt der Ottilie erfaßt, vor sich die alte Frage erstehen, ob Schönheit Schein sei.

      Alles wesentlich Schöne ist stets und wesenhaft aber in unendlich verschiedenen Graden dem Schein verbunden. Ihre höchste Intensität erreicht diese Verbindung im manifest Lebendigen und zwar gerade hier deutlich polar in triumphierendem und verlöschendem Schein. Alles Lebendige nämlich ist, je höher sein


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