Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Wesen ihr mitzugeben, des kanonischen Ausdrucks der Schönheit sie zu berauben. Dieses Mädchen ist nicht wesentlich schön, Ottilie ist es. Auf seine Weise ist es selbst Eduard, nicht umsonst rühmt man die Schönheit dieses Paares. Goethe selbst aber wandte nicht nur – und über die Grenzen der Kunst hinaus – die erdenkliche Macht seiner Gaben auf, diese Schönheit zu bannen, sondern mit leichtester Hand legt er’s nahe genug, die Welt dieser sanften, verschleierten Schönheit als die Mitte der Dichtung zu ahnen. Im Namen der Ottilie wies er auf die Heilige, der als Schutzpatronin Augenleidender auf dem Odilienberg im Schwarzwald ein Kloster gestiftet war. Er nennt sie einen »Augentrost« der Männer die sie sehen, ja man darf in ihrem Namen auch des milden Lichtes sich erinnern, das die Wohltat kranker Augen und die Heimat allen Scheines in ihr selbst ist. Dem stellte er den Glanz, der schmerzhaft strahlt, im Namen und in der Erscheinung der Luciane, und ihren sonnenhaften, weiten Lebenskreis dem mondhaft-heimlichen Ottiliens gegenüber. Wie er aber deren Sanftmut nicht allein Lucianes falsche Wildheit, sondern auch die rechte jener Liebenden zur Seite gibt, so ist der milde Schimmer ihres Wesens mitteninne gestellt zwischen das feindliche Glänzen und das nüchterne Licht. Der rasende Angriff, von dem die Novelle erzählt, war gegen das Augenlicht des Geliebten gerichtet; nicht strenger konnte die Gesinnung dieser Liebe die abhold allem Schein ist angedeutet werden. Die Leidenschaft bleibt in dessen Bannkreis gefangen und den Entbrennenden vermag sie an sich selbst nicht einmal in der Treue Halt zu leihen. Der Schönheit unter jedem Schein verfallen, wie sie ist, muß ihr Chaotisches verheerend ausbrechen, fände nicht ein geistigeres Element sich zu ihr, welches den Schein zu sänftigen vermöchte. Es ist die Neigung.
In der Neigung löst der Mensch von der Leidenschaft sich ab. Es ist das Wesensgesetz, welches diese wie jede Ablösung aus der Sphäre des Scheins und den Übergang zum Reiche des Wesens bestimmt, daß allmählich, ja selbst unter einer letzten und äußersten Steigerung des Scheins sich die Wandlung vollzieht. So scheint auch im Heraustreten der Neigung die Leidenschaft mehr noch als früher und völlig zur Liebe zu werden. Leidenschaft und Neigung sind die Elemente aller scheinhaften Liebe, die nicht im Versagen des Gefühls, sondern einzig in seiner Ohnmacht von der wahren sich unterschieden zeigt. Und so muß es denn ausgesprochen werden, daß nicht die wahre Liebe es ist, die in Ottilie und Eduard herrscht. Die Liebe wird vollkommen nur wo sie über ihre Natur erhoben durch Gottes Walten gerettet wird. So ist das dunkle Ende der Liebe, deren Dämon Eros ist, nicht ein nacktes Scheitern, sondern die wahrhafte Einlösung der tiefsten Unvollkommenheit, welche der Natur des Menschen selber eignet. Denn sie ist’s, welche die Vollendung der Liebe ihm wehrt. Darum tritt in alles Lieben, was nur sie bestimmt, die Neigung als das eigentliche Werk des Ἔρως ϑἀνατος: das Eingeständnis, daß der Mensch nicht lieben könne. Während in aller geretteten, wahren Liebe die Leidenschaft secundiert wie die Neigung bleibt, macht deren Geschichte und der Übergang der einen in die andere das Wesen des Eros. Freilich führt nicht ein Tadel der Liebenden, wie Bielschowsky ihn wagt, darauf hin. Dennoch läßt selbst sein banaler Ton die Wahrheit nicht verkennen. Nachdem er nämlich die Unart, ja die zügellose Selbstsucht des Liebhabers angedeutet, heißt es von Ottiliens unbeirrter Liebe weiter: »Es mag im Leben hie und da eine solche abnorme Erscheinung anzutreffen sein. Aber dann zucken wir die Achseln und sagen: wir verstehen es nicht. Eine solche Erklärung, gegenüber einer dichterischen Erfindung abgegeben, ist ihre schwerste Verurteilung. In der Dichtung wollen und müssen wir verstehen. Denn der Dichter ist Schöpfer. Er schafft die Seelen«. Inwiefern dies zuzugeben sei, wird gewiß höchst problematisch bleiben. Unverkennbar aber ist, daß jene Goetheschen Gestalten nicht geschaffen, noch auch rein gebildet, sondern eher gebannt erscheinen können. Daher eben stammt die Art von Dunkel, welche Kunstgebilden fremd und dem allein, der dessen Wesen in dem Schein kennt, zu ergründen ist. Denn der Schein ist in dieser Dichtung nicht sowohl dargestellt, als in ihrer Darstellung selber. Darum allein kann er so viel bedeuten, darum allein bedeutet sie so viel. Bündiger enthüllt den Bruch jener Liebe dies, daß jedwede in sich gewachsne Herr dieser Welt werden muß: sei es in ihrem natürlichen Ausgang, dem gemeinsamen – nämlich streng gleichzeitigen – Tode, sei es in ihrer übernatürlichen Dauer, der Ehe. Dies hat Goethe in der Novelle ausgesprochen, da der Augenblick der gemeinsamen Todesbereitschaft durch göttlichen Willen das neue Leben den Liebenden schenkt, auf das alte Rechte ihren Anspruch verlieren. Hier zeigt er das Leben der beiden gerettet in eben dem Sinne, in dem es den Frommen die Ehe bewahrt; in diesem Paare hat er die Macht wahrer Liebe dargestellt, die in religiöser Form auszusprechen er sich verwehrte. Demgegenüber steht im Roman in diesem Lebensbereich das zwiefache Scheitern. Während die einen, vereinsamt, dahinsterben, bleibt den Überlebenden die Ehe versagt. Der Schluß beläßt den Hauptmann und Charlotten wie die Schatten in der Vorhölle. Weil in keinem der Paare der Dichter die wahre Liebe konnte walten lassen, welche diese Welt hätte sprengen müssen, gab er unscheinbar aber unverkennbar in den Gestalten der Novelle ihr Wahrzeichen seinem Werke mit.
Über schwankende Liebe macht die Rechtsnorm sich Herr. Die Ehe zwischen Eduard und Charlotte bringt, noch verfallend, jener den Tod, weil in ihr – und sei’s in mythischer Entstellung – die Größe der Entscheidung eingebettet liegt, welcher die Wahl niemals gewachsen ist. Und so spricht über sie der Titel des Romans das Urteil; Goethen halb unbewußt, wie es scheint. Denn in der Selbstanzeige sucht er den Begriff der Wahl für das sittliche Denken zu retten. »Es scheint, daß den Verfasser seine fortgesetzten physikalischen Arbeiten zu diesem seltsamen Titel veranlaßten. Er mochte bemerkt haben, daß man in der Naturlehre sich sehr oft ethischer Gleichnisse bedient, um etwas von dem Kreise menschlichen Wissens weit Entferntes näher heranzubringen; und so hat er auch wohl, in einem sittlichen Falle, eine chemische Gleichnisrede zu ihrem geistigen Ursprunge zurückführen mögen, um so mehr als doch überall nur Eine Natur ist und auch durch das Reich der heitern Vernunftfreiheit die Spuren trüber leidenschaftlicher Notwendigkeit sich unaufhaltsam hindurchziehen, die nur durch eine höhere Hand, und vielleicht auch nicht in diesem Leben, völlig auszulöschen sind.« Aber deutlicher als diese Sätze, die vergeblich Gottes Reich, wo die Liebenden wohnen, in dem der heiteren Vernunftfreiheit zu suchen scheinen, spricht das bloße Wort. »Verwandtschaft« ist an und für sich bereits das denkbar reinste, um nächste menschliche Verbundenheit sowohl nach Wert als auch nach Gründen zu bezeichnen. Und in der Ehe wird es stark genug, buchstäblich auch sein Metaphorisches zu machen. Weder vermag das durch die Wahl verstärkt zu werden, noch wäre insbesondere das Geistige solcher Verwandtschaft auf die Wahl gegründet. Diese rebellische Anmaßung aber beweist am unwidersprechlichsten der Doppelsinn des Wortes, das nicht abläßt, mit dem im Akt Ergriffnen zugleich den Wahlakt selber zu bedeuten. Allein in jedem Falle da Verwandtschaft zum Gegenstand einer Entschließung wird, schreitet die über die Stufe der Wahl zur Entscheidung hinüber. Diese annihiliert die Wahl, um die Treue zu stiften: nur die Entscheidung, nicht die Wahl ist im Buche des Lebens verzeichnet. Denn Wahl ist natürlich und mag sogar den Elementen eignen; die Entscheidung ist transzendent. – Weil jener Liebe noch das höchste Recht nicht zukommt, nur darum also eignet dieser Ehe noch die größere Macht. Doch niemals hat der untergehenden der Dichter im mindesten ein eigenes Recht zusprechen wollen. Die Ehe kann in keinem Sinne Zentrum des Romans sein. Darüber hat, wie ungezählte andre, auch Hebbel in vollkommenem Irrtum sich befunden, wenn er sagt: »In Goethes Wahlverwandtschaften ist doch eine Seite abstrakt geblieben, es ist nämlich die unermeßliche Bedeutung der Ehe für Staat und Menschheit wohl räsonnierend angedeutet, aber nicht im Ring der Darstellung zur Anschauung gebracht worden, was gleichwohl möglich gewesen wäre und den Eindruck des ganzen Werkes noch sehr verstärkt hätte«. Und früher schon im Vorwort zur »Maria Magdalene«; »Wie Goethe, der durchaus Künstler, großer Künstler war, in den Wahlverwandtschaften einen solchen Verstoß gegen die innere Form begehen konnte, daß er, einem zerstreuten Zergliederer nicht unähnlich, der statt eines wirklichen Körpers ein Automat auf das anatomische Theater brächte, eine von Haus aus nichtige, ja unsittliche Ehe, wie die zwischen Eduard und Charlotte, zum Mittelpunkt seiner Darstellung machte und dies Verhältnis behandelte und benützte, als ob es ein ganz entgegengesetztes, ein vollkommen berechtiges wäre, wüßte ich mir nicht zu erklären«. Abgesehen davon, daß die Ehe im Geschehen nicht die Mitte ist, sondern Mittel – so wie Hebbel sie erfaßt, hat Goethe nicht und so wollte er sie nicht erscheinen lassen. Denn zu tief wird er empfunden haben, daß »von Haus aus« gar nichts über sie gesagt werden, ihre Sittlichkeit allein als Treue, nur als Untreue ihre Unsittlichkeit sich erweisen könnte. Geschweige, daß etwa die Leidenschaft ihre Grundlage