Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

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Diese Darlegung hat den Begriffen ästhetischer Gattungen gegenüber volles Gewicht. Aber sie bleibt auf halbem Wege stehen. Denn so ersichtlich eine Aufreihung von Kunstwerken, die es aufs Gemeinsame abstellt, ein müßiges Unternehmen ist, wo es sich nicht um historische oder stilistische Beispielsammlungen, sondern um deren Wesentliches handelt, so undenkbar bleibt, daß die Kunstphilosophie ihrer reichsten Ideen wie der des Tragischen oder des Komischen je sich entäußere. Denn das sind nicht Inbegriffe von Regeln, nein, selber einem jeden Drama an Dichtigkeit und an Realität zumindest ebenbürtige Gebilde, die gar nicht ihm kommensurabel sind. So erheben sie denn keinerlei Anspruch, eine Anzahl gegebener Dichtungen auf Grund irgendwelcher Gemeinsamkeiten ›unter‹ sich zu begreifen. Denn auch wenn es die reine Tragödie, das reine komische Drama, das nach ihnen benannt werden dürfte, nicht geben sollte, mögen diese Ideen Bestand haben. Dazu hat eine Untersuchung ihnen zu verhelfen, die nicht in ihrem Ausgangspunkt an alles dasjenige, was je als tragisch oder komisch mag bezeichnet worden sein, sich bindet, sondern nach Exemplarischem sich umsieht, und sollte sie auch nur einem versprengten Bruchstück diesen Charakter zubilligen können. ›Maßstäbe‹ für den Rezensenten fördert sie so nicht. Kritik, sowie Kriterien einer Terminologie, das Probestück der philosophischen Ideenlehre von der Kunst, bilden sich nicht unter dem äußeren Maßstab des Vergleiches, sondern immanent, in einer Entwicklung der Formensprache des Werks, die deren Gehalt auf Kosten ihrer Wirkung heraustreibt. Dazu kommt, daß gerade die bedeutenden Werke, sofern in ihnen nicht erstmalig und gleichsam als Ideal die Gattung erscheint, außerhalb von Grenzen der Gattung stehen. Ein bedeutendes Werk – entweder gründet es die Gattung oder hebt sie auf und in den vollkommenen vereinigt sich beides.

      In der Unmöglichkeit einer deduktiven Entwicklung der Kunstformen, in der damit gesetzten Entkräftung der Regel als kritischer Instanz – eine Instanz der künstlerischen Unterweisung wird sie immer bleiben –, ist Grund zu einer fruchtbaren Skepsis gelegt. Sie ist dem tiefen Atemholen des Gedankens zu vergleichen, nach dem er ans Geringste sich mit Muße und ohne die Spur einer Beklemmung zu verlieren vermag. Vom Geringsten wird nämlich überall dort die Rede sein, wo die Betrachtung sich in Werk und Form der Kunst versenkt, um ihren Gehalt zu ermessen. Die Hast, die sich an ihnen mit dem Griffe übt, mit dem man fremdes Eigentum verschwinden läßt, ist Routinierten eigen und um nichts besser als die Bonhomie des Banausen. Für die wahre Kontemplation dagegen verbindet sich die Abkehr vom deduktiven Verfahren mit einem immer weiter ausholenden, immer inbrünstigem Zurückgreifen auf die Phänomene, die niemals in Gefahr geraten, Gegenstände eines trüben Staunens zu bleiben, solange ihre Darstellung zugleich die der Ideen und darin erst ihr Einzelnes gerettet ist. Selbstverständlich ist der Radikalismus, der die ästhetische Terminologie einer Anzahl ihrer besten Prägungen berauben, die Kunstphilosophie zum Schweigen bringen würde, auch für Croce nicht letztes Wort. Vielmehr heißt es: »Wenn man den theoretischen Wert der abstrakten Klassifikation leugnet, so heißt das nicht den theoretischen Wert jener genetischen und konkreten Klassifikation leugnen, die übrigens nicht ›Klassifikation‹ ist, die vielmehr Geschichte genannt wird.«332 Mit diesem dunklen Satze streift der Autor, nur leider allzusehr beeilt, den Kern der Ideenlehre. Ihn läßt ein Psychologismus, der seine Bestimmung der Kunst als ›Ausdruck‹ durch eine andere, als ›Intuition‹, zersetzt, das nicht gewahren. Es bleibt ihm verschlossen, wie die von ihm als ›genetische Klassifikation‹ bezeichnete Betrachtung mit einer Ideenlehre von den Kunstarten im Problem des Ursprungs übereinkommt. Ursprung, wiewohl durchaus historische Kategorie, hat mit Entstehung dennoch nichts gemein. Im Ursprung wird kein Werden des Entsprungenen, vielmehr dem Werden und Vergehen Entspringendes gemeint. Der Ursprung steht im Fluß des Werdens als Strudel und reißt in seine Rhythmik das Entstehungsmaterial hinein. Im nackten offenkundigen Bestand des Faktischen gibt das Ursprüngliche sich niemals zu erkennen, und einzig einer Doppeleinsicht steht seine Rhythmik offen. Sie will als Restauration, als Wiederherstellung einerseits, als eben darin Unvollendetes, Unabgeschlossenes andererseits erkannt sein. In jedem Ursprungsphänomen bestimmt sich die Gestalt, unter welcher immer wieder eine Idee mit der geschichtlichen Welt sich auseinandersetzt, bis sie in der Totalität ihrer Geschichte vollendet daliegt. Also hebt sich der Ursprung aus dem tatsächlichen Befunde nicht heraus, sondern er betrifft dessen Vor- und Nachgeschichte. Die Richtlinien der philosophischen Betrachtung sind in der Dialektik, die dem Ursprung beiwohnt, aufgezeichnet. Aus ihr erweist in allem Wesenhaften Einmaligkeit und Wiederholung durcheinander sich bedingt. Die Kategorie des Ursprungs ist also nicht, wie Cohen meint,333 eine rein logische, sondern historisch. Das Hegelsche ›Desto schlimmer für die Tatsachen‹ ist bekannt. Im Grunde will es besagen: die Einsicht in die Wesenszusammenhänge liegt beim Philosophen und Wesenszusammenhänge bleiben was sie sind, auch wenn sie sich in der Welt der Fakten rein nicht ausprägen. Diese echt idealistische Haltung erkauft ihre Sicherheit, indem sie das Kernstück der Ursprungsidee preisgibt. Denn jeder Ursprungsnachweis muß vorbereitet auf die Frage nach der Echtheit des Aufgewiesenen sein. Kann er sich als echt nicht beglaubigen, so trägt er seinen Titel zu Unrecht. Mit dieser Überlegung scheint für die höchsten Gegenstände der Philosophie die Unterscheidung der quaestio juris von der quaestio facti aufgehoben. Das ist unbestreitbar und unvermeidlich. Die Folgerung jedoch ist nicht, daß unverzüglich jedes frühe ›Faktum‹ als wesenprägendes Moment zu nehmen wäre. Vielmehr beginnt die Aufgabe des Forschers hier, der ein solches Faktum dann erst für gesichert zu halten hat, wenn seine innerste Struktur so wesenhaft erscheint, daß sie als einen Ursprung es verrät. Das Echte – jenes Ursprungssiegel in den Phänomenen – ist Gegenstand der Entdeckung, einer Entdeckung, die in einzigartiger Weise sich mit dem Wiedererkennen verbindet. Im Singulärsten und Verschrobensten der Phänomene, in den ohnmächtigsten und unbeholfensten Versuchen sowohl wie in den überreifen Erscheinungen der Spätzeit vermag Entdeckung es zu Tag zu fördern. Nicht um Einheit aus ihnen zu konstruieren, geschweige ein Gemeinsames aus ihnen abzuziehen, nimmt die Idee die Reihe historischer Ausprägungen auf. Zwischen dem Verhältnis des Einzelnen zur Idee und zum Begriff findet keine Analogie statt: hier fällt es unter den Begriff und bleibt was es war – Einzelheit; dort steht es in der Idee und wird was es nicht war – Totalität. Das ist seine platonische ›Rettung‹.

      Die philosophische Geschichte als die Wissenschaft vom Ursprung ist die Form, die da aus den entlegenen Extremen, den scheinbaren Exzessen der Entwicklung die Konfiguration der Idee als der durch die Möglichkeit eines sinnvollen Nebeneinanders solcher Gegensätze gekennzeichneten Totalität heraustreten läßt. Die Darstellung einer Idee kann unter keinen. Umständen als geglückt betrachtet werden, solange virtuell der Kreis der in ihr möglichen Extreme nicht abgeschritten ist. Das Abschreiten bleibt virtuell. Denn das in der Idee des Ursprungs Ergriffene hat Geschichte nur noch als einen Gehalt, nicht mehr als ein Geschehn, von dem es betroffen würde. Innen erst kennt es Geschichte, und zwar nicht mehr im uferlosen, sondern in dem aufs wesenhafte Sein bezogenen Sinne, der sie als dessen Vor- und Nachgeschichte zu kennzeichnen gestattet. Die Vor- und Nachgeschichte solcher Wesen ist, zum Zeichen ihrer Rettung oder Einsammlung in das Gehege der Ideenwelt, nicht reine, sondern natürliche Geschichte. Das Leben der Werke und Formen, das in diesem Schutze allein sich klar und ungetrübt vom menschlichen entfaltet, ist ein natürliches Leben.334 Ist dies gerettete Sein in der Idee festgestellt, so ist die Präsenz der uneigentlichen nämlich naturhistorischen Vor- sowie Nachgeschichte virtuell. Sie ist nicht mehr pragmatisch wirklich, sondern, als die natürliche Historie, am vollendeten und zur Ruhe gekommenen Status, der Wesenheit, abzulesen. Damit bestimmt die Tendenz aller philosophischen Begriffsbildung sich neu in dem alten Sinn: das Werden der Phänomene festzustellen in ihrem Sein. Denn der Seinsbegriff der philosophischen Wissenschaft ersättigt sich nicht am Phänomen, sondern erst an der Aufzehrung seiner Geschichte. Die Vertiefung der historischen Perspektive in dergleichen Untersuchungen kennt, sei es ins Vergangene oder ins Künftige, prinzipiell keine Grenzen. Sie gibt der Idee das Totale. Deren Bau, wie die Totalität sie im Kontrast zu der ihr unveräußerlichen Isolierung prägt, ist monadologisch. Die Idee ist Monade. Das Sein, das da mit Vor- und Nachgeschichte in sie eingeht, gibt in der eigenen verborgen die verkürzte und verdunkelte Figur der übrigen Ideenwelt, so wie bei den Monaden der »Metaphysischen Abhandlung« von 1686 in einer jeweils alle andern undeutlich mitgegeben sind. Die Idee ist Monade – in ihr ruht prästabiliert die Repräsentation der Phänomene als in deren objektiver Interpretation. Je höher geordnet die Ideen desto vollkommener die in ihnen gesetzte Repräsentation. Und so könnte denn wohl die reale Welt


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