Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin

Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke - Walter  Benjamin


Скачать книгу
Denken auf der anderen Seite sind stets die Bestimmungsgründe einer unkritischen Induktion gewesen. Immer handelt es sich um die Scheu vor konstitutiven Ideen – den universaliis in re – wie sie gelegentlich von Burdach mit besonderer Schärfe formuliert worden ist. »Ich habe versprochen, vom Ursprung des Humanismus zu reden, als sei er ein lebendiges Wesen, das als Ganzes irgendwo und irgendwann auf die Welt kam und als Ganzes dann weiter gewachsen ist … Wir verfahren dabei wie die sogenannten Realisten unter den Scholastikern des Mittelalters, die den allgemeinen Begriffen, den ›Universalien‹, Realität beilegten. In gleicher Weise setzen auch wir – hypostasierend wie die Mythologien der Urzeit – ein Wesen von einheitlicher Substanz und von voller Wirklichkeit und heißen es, als wäre es ein lebendiges Individuum, Humanismus. Wir sollten uns aber hier wie in unzähligen ähnlichen Fällen … darüber klar werden, daß wir einen abstrakten Hilfsbegriff nur erfinden, um unendliche Reihen mannigfaltiger geistiger Erscheinungen und recht verschiedener Persönlichkeiten uns übersichtlich und faßbar zu machen. Wir können das, nach einem Grundsatz menschlicher Wahrnehmung und Erkenntnis, nur dadurch erreichen, daß wir gewisse Eigentümlichkeiten, die in diesen Reihen von Varietäten uns ähnlich oder übereinstimmend erscheinen, aus dem uns angeborenen systematischen Bedürfnis schärfer sehen und stärker betonen als die Unterschiede … Diese Marken Humanismus oder Renaissance sind willkürlich, ja irrig, weil sie diesem vielquelligen, vielgestaltigen, vielgeistigen Leben den falschen Schein einer realen Wesenseinheit geben. Und ebenso eine willkürliche, ja irreführende Maske ist der seit Burckhardt und Nietzsche vielbeliebte ›Renaissancemensch‹.«325 Eine Anmerkung des Autors zu dieser Stelle lautet: »Das üble Gegenstück des unausrottbaren ›Renaissancemenschen‹ ist ›der gotische Mensch‹, der heute eine verwirrende Rolle spielt und selbst in der Gedankenwelt bedeutender, verehrungswürdiger Geschichtsforscher (E. Troeltsch!) sein gespenstisches Wesen treibt. Dazu tritt dann noch ›der barocke Mensch‹, als welcher uns z. B. Shakespeare vorgestellt wird.«326 Diese Stellungnahme ist soweit sie gegen die Hypostasierung von Allgemeinbegriffen geht – nicht in allen Fassungen gehören die Universalien zu denen – in ihrem Recht evident. Aber sie versagt gänzlich vor den Fragen einer platonisch auf Darstellung der Wesenheiten gerichteten Wissenschaftstheorie, deren Notwendigkeit sie verkennt. Einzig und allein diese vermag die Sprachform der wissenschaftlichen Darlegungen, wie sie sich außerhalb des Mathematischen bewegen, vor der grenzenlosen und jede noch so subtile Induktionsmethodik zuletzt in ihren Strudel ziehenden Skepsis zu bewahren, der Burdachs Ausführungen nicht begegnen können. Denn sie sind eine private reservatio mentalis, keine methodische Sicherung. Was insbesondere historische Typen und Epochen angeht, so wird man zwar niemals annehmen dürfen, Ideen wie die der Renaissance oder des Barock vermöchten den Stoff begrifflich zu bewältigen, und die Meinung, eine moderne Einsicht in die verschiedenen Geschichtsperioden lasse sich in etwaigen polemischen Auseinandersetzungen beglaubigen, in denen als an den großen Wendepunkten die Epochen gleichsam mit offenem Visier einander begegneten, würde den Gehalt der Quellen verkennen, der von aktualen Interessen nicht von historiographischen Ideen bestimmt zu sein pflegt. Was aber solche Namen als Begriffe nicht vermögen, leisten sie als Ideen, in denen nicht das Gleichartige zur Deckung, wohl aber das Extreme zur Synthese gelangt. Unbeschadet dessen, daß auch begriffliche Analysis nicht unter allen Umständen auf gänzlich auseinanderfallende Erscheinungen stößt und gelegentlich der Umriß einer Synthese in ihr sichtbar wenn auch nicht legitimiert zu werden vermag. So hat gerade vom literarischen Barock, in dem das deutsche Trauerspiel entsprungen ist, Strich mit Recht bemerkt, »daß die Gestaltungsprinzipien durch das ganze Jahrhundert die gleichen geblieben sind«327

      Burdachs kritische Reflexion ist nicht sowohl im Gedanken an eine positive Revolution der Methode als aus der Besorgnis vor sachlichen Irrtümern im einzelnen vorgetragen. Es darf sich aber letzten Endes die Methodik keinesfalls von bloßen Befürchtungen sachlicher Unzulänglichkeit geleitet, negativ und als ein Warnungskanon präsentieren. Vielmehr muß sie von Anschauungen höherer Ordnung ausgehen als der Gesichtspunkt eines wissenschaftlichen Verismus sie darbietet. Der muß dann notwendig beim einzelnen Problem auf diejenigen Fragen echter Methodik stoßen, die er in seinem wissenschaftlichen Credo ignoriert. Regelmäßig wird deren Lösung über eine Revision der Fragestellung führen, die in der Erwägung formulierbar ist, wie die Frage: Wie es denn eigentlich gewesen sei? sich wissenschaftlich nicht sowohl beantworten als vielmehr stellen lasse. Mit dieser im Vorstehenden vorbereiteten, im folgenden abzuschließenden Erwägung allererst entscheidet sich, ob die Idee eine unerwünschte Abbreviatur ist oder in ihrem sprachlichen Ausdruck den wahren wissenschaftlichen Gehalt vielmehr begründet. Eine Wissenschaft, die sich im Protest gegen die Sprache ihrer Untersuchungen ergeht, ist ein Unding. Worte sind, neben den Zeichen der Mathematik, das einzige Darstellungsmedium der Wissenschaft und sie selber sind keine Zeichen. Denn im Begriff, als welchem freilich das Zeichen entspräche, depotenziert sich eben dasselbe Wort, das als Idee sein Wesenhaftes besitzt. Der Verismus, in dessen Dienst die induktive Methode der Kunsttheorie sich stellt, wird dadurch nicht geadelt, daß am Ende die diskursiven und induktorischen Fragestellungen zu einer »Anschauung«328 zusammentreten, welche, wie R. M. Meyer mit vielen andern wähnt, als Synkretismus mannigfaltigster Methoden zu runden sich vermöge. Damit steht man wie mit allen naiv-realistischen Umschreibungen der Methodenfrage wieder am Anfang. Denn eben die Anschauung soll ja gedeutet werden. Und das Bild der induzierenden ästhetischen Forschungsweise zeigt die gewohnte trübe Farbe auch hier, indem diese Anschauung nicht die in der Idee gelöste der Sache ist, sondern die subjektiver, in das Werk hineinprojizierter Zustände des Aufnehmenden, auf welche die von R. M. Meyer als Schlußstück seiner Methode gedachte Einfühlung hinausläuft. Diese Methode, als konträrer Gegensatz der im Verlaufe dieser Untersuchung anzuwendenden, »sieht die Kunstform des Dramas und wieder der Tragödie oder Komödie und weiter etwa des Charakter- und des Situationslustspiels als gegebene Größen an, mit denen sie rechnet. Nun sucht sie aus der Vergleichung hervorragender Vertreter jeder Gattung Regeln und Gesetze zu gewinnen, an denen das einzelne Produkt zu messen sei. Und wiederum aus der Vergleichung der Gattungen erstrebt sie allgemeine Kunstgesetze, die für jedes Werk gelten sollen.«329 Die kunstphilosophische ›Deduktion‹ der Gattung würde hiernach auf induktorischem Verfahren verbunden mit dem abstrahierenden beruhen und eine Abfolge dieser Gattungen und Arten deduktiv nicht sowohl gewonnen als im Schema der Deduktion vorgeführt werden.

      Während die Induktion die Ideen zu Begriffen durch den Verzicht auf ihre Gliederung und Anordnung herabwürdigt, vollzieht die Deduktion das gleiche durch deren Projizierung in ein pseudo-logisches Kontinuum. Das philosophische Gedankenreich entspinnt sich nicht in der ununterbrochenen Linienführung begrifflicher Deduktionen, sondern in einer Beschreibung der Ideenwelt. Ihre Durchführung setzt mit jeder Idee von neuem als einer ursprünglichen an. Denn die Ideen bilden eine unreduzierbare Vielheit. Als gezählte – eigentlich aber benannte – Vielheit sind die Ideen der Betrachtung gegeben. Von hier aus ist dem deduzierten Gattungsbegriff der Kunstphilosophie die vehemente Kritik durch Benedetto Croce erwachsen. Mit Recht erblickt er in der Klassifikation als dem Gerüst spekulativer Deduktionen die Grundlage einer oberflächlich schematisierenden Kritik. Und während Burdachs Nominalismus der historischen Epochenbegriffe, sein Widerstand, die Fühlung mit dem Faktum im geringsten zu lockern, auf die Furcht, vom’ Richtigen sich zu entfernen, zurückdeutet, führt ein durchaus analoger Nominalismus der ästhetischen Gattungsbegriffe bei Croce, ein analoges Festhalten am Einzelnen, auf die Besorgnis zurück, mit der Entfernung von ihm des Wesenhaften schlechtweg verlustig zu gehen. Gerade das ist mehr als alles andere angetan, den wahren Sinn ästhetischer Gattungsnamen ins rechte Licht zu setzen. Der »Grundriß der Ästhetik« rügt das Vorurteil »von der Möglichkeit, mehrere oder viele besondere Kunstformen zu unterscheiden, von denen jede in ihrem besonderen Begriff und in ihren Grenzen bestimmbar und mit eigenen Gesetzen versehen ist … Viele Ästhetiker verfassen noch immer Schriften über die Ästhetik des Tragischen oder des Komischen oder der Lyrik oder des Humors und Ästhetiken der Malerei oder der Musik oder der Dichtkunst …; aber was schlimmer ist, … die Kritiker haben bei der Beurteilung der Kunstwerke noch nicht völlig die Gewohnheit abgelegt, sie an der Gattung oder der besonderen Kunst, der sie nach ihrer Meinung angehören, zu messen.«330 »Jede beliebige Theorie der Teilung der Künste ist unbegründet. Die Gattung oder die Klasse ist in diesem Fall eine einzige, die Kunst selbst oder die Intuition, während die einzelnen Kunstwerke im übrigen zahllos sind: alle original, keines ins


Скачать книгу