Walter Benjamin: Gesamtausgabe - Sämtliche Werke. Walter Benjamin
Debatte über das Drama gänzlich ausscheide, ist ein dringendes Anliegen ihrer Methode. In diesem Sinne erklärt Wilamowitz-Moellendorff: »das sollte man einsehn, daß die κάϑαρσις; für das Drama nicht artbestimmend sein kann, und selbst wenn man die affekte, durch welche das drama wirkt, als artbildend anerkennen wollte, so würde das unselige paar furcht und mitleid recht unzureichend bleiben.«341 – Noch unglücklicher und weit häufiger noch als der Versuch, das Trauerspiel mit Aristoteles zu retten, ist jener Typus ›Würdingung‹, der da mit Aperçus sehr leichten Kaufes die ›Notwendigkeit‹ dieses Dramas bewiesen haben will und mit ihr ein anderes, von dem nicht ersichtlich zu sein pflegt, ob das der positive Wert oder die Hinfälligkeit jedweder Bewertung ist. Im Bereich der Geschichte ist die Frage nach der Notwendigkeit seiner Erscheinungen ganz offenkundig allerwege apriorisch. Das falsche Schmuckwort der ›Notwendigkeit‹, mit dem man das barocke Trauerspiel oft dekorierte, schillert in vielen Farben. Es meint nicht nur historische in müßigem Kontrast zum bloßen Zufall, sondern auch die subjektive einer bona fides im Gegensatz zum Virtuosenstück. Daß aber mit der Feststellung, das Werk entspringe notwendig einer subjektiven Disponiertheit seines Autors, nichts gesagt ist, erhellt. Nicht anders steht’s um die ›Notwendigkeit‹, die Werke oder Formen als Vorstufen der ferneren Entwicklung in einem problematischen Zusammenhang begreift. »Mag sein Naturbegriff und seine Kunstanschauung zerrissen und zertrümmert sein für immer; was unverwelklich, unverderblich, unverlierbar fortgedeiht, das sind einmal die stofflichen Entdeckungen, und dann noch mehr die technischen Erfindungen des XVII. Jahrhunderts.«342 So rettet noch die jüngste Darstellung die Dichtung dieser Zeit als bloßes Mittel. Die ›Notwendigkeit‹343 der Würdigungen steht in einer Sphäre der Äquivokationen und gewinnt ihren Anschein aus dem einzigen ästhetisch erheblichen Begriff der Notwendigkeit. Es ist der, dessen Novalis gedenkt, wo er von der Apriorität der Kunstwerke als einer Notwendigkeit da zu sein, welche sie mit sich führen, spricht. Daß diese einzig einer Analyse, die sie bis in den metaphysischen Gehalt beträfe, sich ergibt, ist augenfällig. Der moderantistischen ›Würdigung‹ entgeht sie. In einer solchen bleibt am Ende auch der neue Cysarzsche Versuch befangen. Wenn frühern Abhandlungen die Motive einer ganz anderen Betrachtungsweise abgingen, so überrascht bei dieser letzten, wie wertvolle Gedanken und präzise Beobachtungen durch das System der klassizistischen Poetik, auf welches sie bewußt bezogen werden, um ihre beste Frucht kommen. Zuletzt spricht hier weniger die klassische ›Rettung‹ denn eine unmaßgebliche Entschuldigung. In älteren Werken pflegt an dieser Stelle der Dreißigjährige Krieg sich einzufinden. Für alle Entgleisungen, die man an dieser Form zu tadeln fand, erscheint er haftbar. »Ce sont, a-t-on dit bien des fois, des pièces écrites par des bourreaux et pour. Mais c’est ce qù’il fallait aux gens de ce tempslà. Vivant dans une atmosphère de guerres de luttes sanglantes, ils trouvaient ces scènes naturelle; c’était le tablaeau de leur moeurs qu’on leur offrait. Aussi goûtèrent-ils naîvement, brutalement le plaisir qui leur ètait offert.«344
Dergestalt hatte die Forschung des Jahrhundertendes von einer kritischen Ergründung der Trauerspielform sich hoffnungslos weit entfernt. Der Synkretismus kulturhistorischer, literargeschichtlicher, biographischer Betrachtung, mit dem sie die kunstphilosophische Besinnung zu ersetzen bestrebt war, hat in der neusten Forschung ein Pendant von weniger harmloser Struktur. Wie ein Kranker, der im Fieber liegt, alle Worte, die ihm vernehmbar werden, in die jagenden Vorstellungen des Deliriums verarbeitet, so greift der Zeitgeist die Zeugnisse von früheren oder von entlegenen Geisteswelten auf, um sie an sich zu reißen und lieblos in seinen selbstbefangenen Phantasien einzuschließen. Gehört doch dies zu seiner Signatur: kein neuer Stil, kein unbekanntes Volkstum wäre aufzufinden, das nicht alsbald mit voller Evidenz zu dem Gefühl der Zeitgenossen spräche. Dieser verhängnisvollen pathologischen Suggestibilität, kraft welcher der Historiker durch »Substitution«345 an die Stelle des Schaffenden sich zu schleichen sucht, als wäre der, eben weil er’s gemacht, auch der Interpret seines Werkes, hat man den Namen der ›Einfühlung‹ gegeben, in dem die bloße Neugier unterm Mäntelchen der Methode sich vorwagt. Auf diesem Streifzug ist die Unselbständigkeit der gegenwärtigen Generation zumeist der imposanten Wucht erlegen, mit der ihr das Barock begegnete. Zu einer echten, neue Zusammenhänge nicht zwischen dem modernen Kritiker und seiner Sache, sondern innerhalb der Sache selbst erschließenden Einsicht hat die Umwertung, die mit dem Ausbruch des Expressionismus – wenn auch nicht unberührt von der Poetik der Georgischen Schule346 – eintrat, bisher nur in den wenigsten Fällen geführt347 Aber die Geltung der alten Vorurteile ist im Schwinden. Frappante Analogien zu dem gegenwärtigen Stande des deutschen Schrifttums haben immer neuen Anlaß zu einer, wenn auch meist sentimentalen so doch positiv gerichteten Versenkung ins Barocke gegeben. Schon im Jahre 1904 erklärte ein Literaturkritiker dieser Epoche: »es will mir … scheinen, als ob das Kunstgefühl noch keiner Periode seit zwei Jahrhunderten mit der ihren Stil suchenden Barockliteratur des siebzehnten Jahrhunderts im Grunde so verwandt gewesen ist, wie das Kunstgefühl unserer Tage. Innerlich leer oder im Tiefsten aufgewühlt, äußerlich von technisch formalen Problemen absorbiert, die sich mit den Existenzfragen der Zeit zunächst sehr wenig zu berühren schienen, – so waren die meisten Barockdichter, und ähnlich sind, so weit man sehen kann, wenigstens die Dichter unserer Zeit, die ihrer Produktion das Gepräge geben.«348 Inzwischen hat die Meinung dieser Sätze, die schüchtern und zu kurz ergriffen ist, in einem sehr viel weitern Sinne sich behauptet. 1915 erschienen als Auftakt des expressionistischen Dramas die »Troerinnen« von Werfel. Nicht zufällig begegnet der gleiche Stoff bei Opitz im Beginn des Barockdramas. In beiden Werken war der Dichter auf das Sprachrohr und die Resonanz der Klage bedacht. Dazu bedurfte es in beiden Fällen nicht weitgespannter künstlicher Entwicklungen, sondern einer am dramatischen Rezitativ sich schulenden Verskunst. Zumal im Sprachlichen ist die Analogie damaliger Bemühung mit der jüngstvergangenen und mit der momentanen augenfällig. Forcierung ist den beiden eigentümlich. Die Gebilde dieser Literaturen wachsen nicht sowohl aus dem Gemeinschaftsdasein auf, als daß sie durch gewaltsame Manier den Ausfall geltender Produkte in dem Schrifttum zu verdecken trachten. Denn wie der Expressionismus ist das Barock ein Zeitalter weniger der eigentlichen Kunstübung als eines unablenkbaren Kunstwollens. So steht es immer um die sogenannten Zeiten des Verfalls. Das höchste Wirkliche der Kunst ist isoliertes, abgeschlossenes Werk. Zu Zeiten aber bleibt das runde Werk allein dem Epigonen erreichbar. Das sind die Zeiten des ›Verfalls‹ der Künste, ihres ›Wollens‹. Darum entdeckte Riegl diesen Terminus gerad an der letzten Kunst des Römerreiches. Zugänglich ist dem Wollen nur die Form schlechtweg doch nie ein wohlgeschaffenes Einzelwerk. In diesem Wollen gründet die Aktualität des Barock nach dem Zusammenbruch der deutschen klassizistischen Kultur. Das Streben nach einem Rustikastil der Sprache, der sie der Wucht des Weltgeschehens gewachsen scheinen ließe, kommt hinzu. Die Übung, Adjektiva, die keinen adverbialen Gebrauch kennen, mit dem Hauptwort zum Block zusammenzupressen, ist nicht von heute. ›Großtanz‹, ›Großgedicht‹ (d. h. Epos) sind barocke Vokabeln. Neologismen finden sich überall. Heute wie damals spricht aus vielen darunter das Werben um neues Pathos. Die Dichter suchten der innersten Bildkraft, aus welcher die bestimmte und doch sanfte Metaphorik der Sprache hervorgeht, sich persönlich zu bemächtigen. Weniger in Gleichnisreden als in Gleichnisworten suchte man seine Ehre, als sei die Sprachschöpfung unmittelbare Angelegenheit der dichterischen Wortfindung. Die barocken Übersetzer fanden Freude an den gewaltsamsten Prägungen wie sie bei Heutigen zumal als Archaismen begegnen, in denen man der Quellen des Sprachlebens sich zu versichern meint. Immer ist diese Gewaltsamkeit Kennzeichen einer Produktion, in welcher ein geformter Ausdruck wahrhaften Gehalts kaum dem Konflikt entbundener Kräfte abzuringen ist. In solcher Zerrissenheit spiegelt die Gegenwart gewisse Seiten der barocken Geistesverfassung bis in die Einzelheiten der Kunstübung. Dem Staatsroman, dem damals wie heute sich angesehene Autoren widmeten, stehen die pazifistischen Bekenntnisse der Literaten zum simple life, zur natürlichen Güte des Menschen heute so gegenüber wie damals das Schäferspiel. Den Literaten, dessen Dasein heute wie je in einer vom tätigen Volkstum getrennten Sphäre sich abspielt, verzehrt von neuem eine Ambition, in deren Befriedigung die damaligen Dichter freilich trotz allem glücklicher waren als die heutigen. Denn Opitz, Gryphius, Lohenstein haben in Staatsgeschäften hin und wieder dankbar entgoltene Dienste zu leisten vermocht. Und daran findet diese Parallele ihre Grenze. Durchgehend fühlte der barocke Literat ans Ideal einer absolutistischen Verfassung sich gebunden, wie die Kirche beider Konfessionen