Was für ein Leben!. Gianni Celati

Was für ein Leben! - Gianni Celati


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er ihm nicht zu antworten brauchte, um ihre Unterhaltungen weiterzuführen; er brauchte nur mit demselben Schritt weiterzuschlurfen, den glucksenden Ausrufen seines Freundes folgend. Pucci hörte ihm zu, genau so ruhig, wie er seiner Mutter zuhörte oder dem Surren eines Radios, das stundenlang lief, und man wusste gar nicht, wovon es redete. Auf ihren sommerlichen Gängen hatten sie einander nie was zu sagen, aber Bordignoni begann hin und wieder zu glucksen.

      Jetzt denke ich an die Tage des nahenden Sommers, am frühen Morgen die Schatten sehr lang, wenig Leute auf der Straße und ein Hauch von Müdigkeit überall, dass es eine Freude war. Sonnige Straßen mit der Stille der leeren Tage, verschlafene und dem Blick gewogene Häuser. Und die Kühle in den Hauseingängen? Gehört zu den besten Erinnerungen. Jemand fuhr mit dem Fahrrad in der Sonne vorbei und du kamst dir vor wie am Äquator. Jemand stand am Fenster und sofort musstest du gähnen. An solchen Tagen behagte es einem, träg zu sein und zu summen wie die Fliegen in den Küchen auf dem Land, dann ohne Ziel die Schuhe mitzuziehen und wie die Hunde herumzustreunen auf der Suche nach einem Knochen. Die Gedanken zerflossen in der Bewegung der Füße, und man wusste nichts mehr von Vater, Mutter, Familie und hatte auch vergessen, dass man einen Vornamen und einen Nachnamen hatte.

      Am liebsten hätte man sich wie die Katzen im Schatten auf den Bürgersteig gelegt, anstatt immer dieselben Runden zu drehen. Pucci und Bordignoni hatten ihre Wege und die waren wie etwas Hingekritzeltes: vom Stadtplatz zum Bahnhof und vom Bahnhof zu der Grünanlage hinter dem Rathaus, von der Grünanlage hinter dem Rathaus zum Sportplatz, vom Sportplatz zum Stadtviertel Doro und dann zurück zum Bahnhof und zum Stadtplatz. Fünf oder sechs Stunden auf dieser Weide, mit dem Widerschein der Sonne auf dem Straßenpflaster und in der warmen Luft, die einen schläfrig machte, am Ende schafften sie es nicht einmal mehr, einander ciao zu sagen.

      Von der Stadt, in der es Pucci zugefallen war, zur Welt zu kommen und zur Schule zu gehen, habe ich im Moment nur die blassen Farben der Häuser im Sinn und die schmalen Straßen mit Kopfsteinpflaster, auf denen wir unterwegs waren, die Hände in den Taschen. Es gab einen Stadtplatz mit einem breiten Spazierstreifen und Arkaden, wo die Leute gegen Abend ihre Runden drehten. Viele machten unter den Arkaden im Café Commercio halt, wo sie vor dem Abendessen einen Aperitif tranken, hier kannten sich alle und grüßten sich alle freundlich. Da waren die Rechtsanwälte, die Notare, die Bankangestellten, die Honoratioren, die eleganten Fatzkes, die Söhne der Einzelhändler und die Sprosse der besten Familien mit ihrem Anhang von Freunden, die am mondänen Leben teilnehmen wollten. Dann waren da auch einfache Weidetiere wie Pucci, Bordignoni und ich, die mit der Woge abendlicher Freundlichkeiten kaum etwas zu tun hatten.

      Wenn wir dort vorbeikamen, dann schaffte es Bordignoni nicht einmal mehr, seinen Lieblingsausruf zu glucksen, er wurde schüchtern und kleinlaut, wobei ihm die Augenlider fast ganz hinuntersanken. Offenbar passten seine Gefühle weder zu diesem Ort noch zu dem dort wehenden Lüftchen, einem Lüftchen gestopft voll Geschwätz und moralischer Urteile, das wir in unseren Ohren pfeifen hörten. Es war aber klar, dass die anderen seriöseren Bürger hier auf dem öffentlichen Platz zu Hause waren, da sie in aller Ruhe unter den Arkaden spazierengingen, wo es ranzig roch und die Luft gefärbt wirkte. Eine bläuliche Luft, weil die Glühbirnen an der Decke der Arkaden mit blauem Papier bedeckt waren, viele bei den Begegnungen gewechselte Worte und Lächeln und die Seelen der Bürger schwammen im gefärbten Licht.

      Abends bot sich dann auf dem Platz noch ein nicht ganz uninteressantes Schauspiel, bei dem aber Bordignoni Depressionen bekam. Man sah Massen schöner Frauen, die ihre gute Figur und ihre schönen Kleider zur Schau stellten, wobei sie Herden von Männern zulächelten, die ihre Augen weit nach ihnen aufrissen. Das Lächeln, das die schönen Frauen über die Menge der brünstigen Männer ausgossen, galt nie einem abgerissenen oder zahnlosen oder beklagenswertem Typ; es war immer bestimmt für Personen, die man schon meilenweit entfernt als wohlhabend erkannte. Denn der wohlhabende Bürger glänzt stärker als der rechtschaffene, nicht wohlhabende Bürger, und oft sticht er hervor durch eine gesündere Gesichtsfarbe, gut frisiertes Haar, einen flinken Kopf wie ein Torpedo.

      Auf jeden Fall hatten wir trotz unserer Ahnungslosigkeit begriffen, dass die schönen Frauen Wert darauf legen, nur von solchen Männern angeschaut zu werden, die über ein gutes Gehalt verfügten, weswegen sie sich freuten, auf der Welt zu sein, und womöglich auch eine Empfehlung des Katholischen Vereins hatten; während es einen so gewaltigen und abgerissenen Jungen wie Bordignoni nach ihrem Geschmack nicht einmal auf der Welt hätte geben sollen. Bordignoni, der seine Augenlider mehr als gewöhnlich hochschob, wenn er eine Frau erspähte, die nicht schön war, aber riesige Brüste hatte, ließ sie fast ganz herunterfallen, wenn er einer schönen Frau begegnete. Er wurde verzagt, weil er in Betracht zog, dass er für eine schöne Frau weniger interessant war als ein Prellstein.

      Am Anfang des Sommers kam es manchmal vor, dass Pucci und ich uns auf unseren nachmittäglichen Gängen begegneten. Wir weideten ein bisschen zusammen, ohne den Mund aufzumachen, und sonntags trafen wir Bordignoni mit unserem verstörten Mitschüler namens Rinaldi. Mit ihnen gingen wir in ein Kino im Zentrum, dessen Fassade mit Trompeten und Geigen und anderem Zeug aus Gips geschmückt war; es war ein ehemaliges Theater, wo der rote Samt der Sitze aufgerissen war, das Stuckwerk von den Kranzgesimsen abbröckelte und wo der Abortgestank schwadenweise hereinkam, in der obersten Galerie, wo wir saßen. Die oberste Galerie wurde von Männern besucht, die Jungen aufzugabeln suchten und uns hinter den Säulen versteckt zuwisperten. »He, pss, pss!« Wenn wir vorbeigingen, zischelten sie etwas, um uns in die Klos zu locken: »He, du, hör mal, komm her!« Manchmal sahen wir Kerle aus der Unterwelt, die im Schatten mit Messern aufeinander losgingen oder Polizisten, die einen wegzerrten, während der Film weiterlief und viele Zuschauer nichts merkten.

      Die interessantesten Filme, die wir sahen, waren Lustspielfilme und dann kamen die, in denen die Helden Verbrecher waren, die am Schluss ins Gefängnis kamen oder tot waren. »Ex operibus eorum cognoscetis eos«, sagt der Apostel Matthäus. Der Verbrecher, dem die moralische und bürgerliche Ordnung scheißegal ist, und der dann in den Knast oder zur Zwangsarbeit geschickt wird, zeigt viel mehr Kraft als der glückliche Held, der eine schöne Frau heiratet und herrschaftlich lebt. Die Filme mit den glücklichen Helden, die dann immer eine schöne Frau heiraten, waren sämtlich geistlos. Bordignoni murrte: »Leckmichdoch, stinklangweilig!« Und wir kamen aus dem Kino, die Hände in den Taschen, und dachten, ob es so was überhaupt gibt, so langweilige Leute, bei denen alles immer gutgeht. Der verstörte Rinaldi sagte, das gebe es nur in Amerika.

      Wie jetzt die Feder so übers Papier gleitet, kommen viele Tatsachen hervor, die aus einem Sumpf vergessener Dinge aufsteigen, wobei sie Orte und Personen zum Vorschein bringen, die es irgendwo unter dem Himmel gegeben haben muss. Wie etwa die Leute, die sich jeden Abend zum Spaziergang auf dem Stadtplatz einfinden, immer pünktlich zur festgesetzten Zeit, alle gut gekleidet für die Zeremonie der gesellschaftlichen Begegnungen, aufs höchste von städtischem Geist beseelt. Ich erkenne die vom Schneidermeister Masi angefertigten Sakkos und Mäntel, die beim Hutmacher Zaniboni- Forti gekauften Hüte, die vom Geschäftsmann Paci importierten Regenmäntel, die eleganten Schuhe aus dem Schuhgeschäft Del Pane; ich erkenne alle, die auf den Platz kamen, jeder mit seinem schönen Anzug, seinem Hut, den neuen Schuhen, nur weil das ganze Leben zu dieser ewigen Abenddämmerung der Begegnungen führt. Natürlich erscheint im Lauf der Jahreszeiten der Nachwuchs, die Mannschaften der jungen Sprösslinge aus unserer Schule und der Stadt; und jeder kam zum abendlichen Treffen in der Überzeugung, die Welt erwarte nur ihn, oder auch verärgert, wenn es ihm vorkam, sie warte auf einen anderen statt auf ihn. Jeder dreißig oder vierzig Jahre lang hier, um seine Kleider zu zeigen, seine Vergleiche zu ziehen, seine Kommentare abzugeben, und dann weg, hinüber zu anderen ewigen Dingen.

      Abends ermahnte Puccis Mutter ihren Sohn, er solle sich ernsthaft ans Lernen machen: »Aurelio, du musst verstehen, wir bringen große Opfer, damit du in die Schule gehen kannst.« Leidenschaftlich liebte sie die religiöse Bedeutung des Wortes >Opfer<, auch wenn sie nicht leidenschaftlich gern in die Kirche ging, aber dafür leidenschaftlich gern das Fleisch ihres Dekolletés ausstellte. Doch vielleicht war diese Ausstellung die Folge eines organischen Überflusses und nicht eines Verlangens, etwas herzuzeigen, da an Frau Pucci im Allgemeinen eine melancholische Zurückhaltung beeindruckte. Ich erinnere mich gut an sie, denn, als ich die ersten Jahre ins Gymnasium ging, schaute ich ihr gern auf der Straße nach, weil sie so schöne


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