Was für ein Leben!. Gianni Celati

Was für ein Leben! - Gianni Celati


Скачать книгу
»Ach Pucci, du hast ein Glück, du schon!«

      Die Mutter versuchte ihre Gespräche zu unterbrechen, und kaum streckte sie den Kopf ins Zimmer, sah man Bordignoni erneut die Farbe wechseln, aber andersherum als bei seiner Ankunft. Das heißt, von rosig nach weiß, dann rot vor Scham, bis er dann auf der Straße wieder zu seinem natürlichen Rosig zurückkehrte, freilich mit einigen rötlichen Flecken. Bei der Phase des Hinausgehens war er aber immer sehr rot im Gesicht, eigentlich feuerrrot, wobei er Puccis Mutter schräg beäugte, über Stühle stolperte, mit dem Schädel gegen die Kante der Haustür schlug, wenn er versuchte ihr den überwältigenden Blick zuzuwerfen. Wenn er draußen war, hatte die Mutter immer eine Bitte an ihren Sohn: »Aurelio, du musst diesem Bordignoni sagen, er soll nicht mehr kommen, er lenkt dich nämlich vom Lernen ab. Hast du verstanden?« »Ja, ja.« »Und außerdem gefällt mir sein Gesicht nicht, mit diesen großen Augen, die mich immer anglotzen. Was hat denn der immer so zu schauen?«

      Ich spüre, dass mir die Inspiration vor allem in die Feder fließt, wenn ich an die beinahe leere Stadt denke, an die bebende Luft über dem Pflaster, an die streunenden Hunde, die an den Mauern schnuppern und an die sommerlichen Spaziergänge mit Pucci und Bordignoni. Ein dritter Mitschüler war manchmal auf diesen Gängen dabei; er hieß Scagliarini und schien zu dem einzigen Zweck gemacht zu sein, die Verschwendung an Größe und Dicke bei Bordignoni auszugleichen. Denn wenn an Bordignoni alles dick und groß war und große Lust zeigte, sich noch weiter auszubreiten, so war Scagliarini dünn und beinahe ohne Ausbreitung. Nur sein Profil stach hervor, denn seine rechtwinkelige Nase ragte ihm um einige Zentimeter voraus.

      Außerdem: wenn Pucci und Bordignoni Kleidung trugen, die einmal ihren Vätern oder Großvätern gehört hatten und ihnen recht und schlecht passten, so hatte Scagliarini Kleider, die nur ihm passen konnten. Wie der Anzug, den er immer trug, bestehend aus grauem gestreiftem Sakko, enger Hose und schmaler Krawatte mit kleinem Knoten, was ihn ein bisschen wie einen Gangster aussehen ließ. Die Kleidung entsprach seinen Vorstellungen von der Zukunft, denn er wusste, dass er Billardspieler und Pokerspieler werden musste, der nur nachts unterwegs war. Er wusste, dass er auf dem Weg war, der Mann mit dem goldenen Arm zu werden, deshalb trug er einen gestreiften Anzug wie ein Berufsspieler mit Sakko, Krawatte und immer an der Lippe hängender Zigarette.

      Was Scagliarini noch auszeichnete, waren seine sehr kleinen Füße, aber solche Plattfüße, dass er nur winzige Schritte machen konnte, wobei er sich auf die Fersen stützte und hin und her wackelte. Bordignoni sagte: »Scagliarini, haben sie dir die Pfoten zugehobelt?« Der andere ging weiter, ohne auf ihn zu achten, seinem wurstigen Stil gemäß; und die Emotionen für die Frauen, bei denen unser dicker Freund gluckste, interessierten ihn nicht. Die beiden hatten sich nicht viel zu sagen; jeder weidete nach seinem eigenen Kopf, ohne den anderen um Erlaubnis zu fragen. Aber wenn Bordignoni Scagliarini beim Billardspielen zusah, musste er bei dessen sicheren Stößen ehrlich ausrufen: »Leckmichdoch, Scagliarini, du bist wirklich der Mann mit dem goldenen Arm!«

      Wir gingen oft in den Billardsaal, um Scagliarini beim Trainieren zuzusehen, wo er den Billardstock mit Kreide bestrich, während er, immer sehr konzentriert, die Kugeln nicht aus den Augen ließ. Er dachte nur an Gerade, Bandenstöße, Effetstöße, Zugbälle und Laufbälle, und wenn ein Freund kam, grüßte er ihn gar nicht. Später wurde er Meister im Kegelbillard – Goriziana – und es kamen auch Leute aus anderen Sälen, um ihn spielen zu sehen. Ich selber verspürte etwas wie einen Rausch, wenn die Kugeln über das grüne Tuch rollten, die kleine weiße dahin und dorthin geschlagen wurde und alles ablief, als wäre es seit eh und je vom Spiel des Schicksals bestimmt. Ich sehe Scagliarini wieder in dem Augenblick, in dem er zum Queuestoß ansetzt, dann höre ich den Klang der zusammenstoßenden Kugeln: >Tock!< Eine Welt klingt nach in diesem Tock. Der rauchige Saal, die Kreise von Wölkchen rund um die Köpfe, die grünen Lampen, die ihr Licht über die Billardtische werfen. Galgenvögel sind hier unterwegs mit Narben, scheelem Blick, mit Uniformen wie Bandenbosse. Warum ich aber beim Kegelbillardspiel an das Spiel des Schicksals denken musste, das weiß ich nicht zu sagen.

      An unserer Schule genoss Scagliarini ein gewisses Ansehen als ein Mann, der nie mit der Wimper zuckt, aber die Mädchen betrachteten ihn als einen Tunichtgut, weil er beim Rauchen die Zigarette im Mundwinkel stecken hatte und sie nicht anschaute. Er hat tatsächlich nie eine Frau angeschaut. Aber wenn er manchmal am Morgen mit dem Taxi in die Schule kam, nachdem er eine ganze Nacht gepokert hatte und mit dem Gehabe eines hartgesottenen Rüpels aus dem Taxi ausstieg, waren doch manche Mädchen von seiner Persönlichkeit beeindruckt. Ich erinnere mich an eine namens Bonvicini, eine kleine Mollige, die bei den Nonnen aufgewachsen war; und wenn sich die Mitschüler um Scagliarini drängten, um zu erfahren, ob er gewonnen hatte, dann schaffte es die Bonvicini immer, ihm ein Heft mit den Mathematikhausaufgaben zu geben. Scagliarini nahm das Heft, ohne sich zu bedanken, seinem wurstigen Stil gemäß, und sie zog sich in einem so elektrisierten Zustand zurück, dass sich ihr sämtliche Härchen auf den Armen aufstellten. Ich würde gern noch was von der Bonvicini wissen, die in der Schule sehr gut war, beinahe so gut wie die Veratti. Wer weiß, wie es ihr im Leben ergangen ist? Sie wird geheiratet haben, die Bonvicini, es heiraten ja alle.

      Bordignoni erwartete eines Abends Pucci schon an der Straßenecke, vor Aufregung zitternd wegen einer Idee, die in seinem Kopf aufgeblitzt war, während er einem Motor das Öl wechselte. »Jetzt pass auf, Pucci. Du kennst doch die Bernigotti, die Englischlehrerin? Also, bei der kommen wir zum Ziel, du wirst sehen!« Sein Kumpan schaute ihn an, in Erwartung weiterer Nachrichten, aber ohne jegliche Neugier wie gewöhnlich. »Hör zu, Pucci. Wir gehen zu ihr nach Haus, wir fragen, ob sie uns Englischstunden gibt und zahlen im voraus. Verstanden? Du wirst sehen, das klappt. Dann ziehen wir sie auf ein Bett und springen auf sie drauf.« Pucci hatte nie solche Ideen gehabt, und damals musste er lange nachdenken, um zu verstehen, wozu sie gut sind, denn sie wollten ihm absolut nicht einleuchten.

      Abends weideten die zwei Freunde in der Allee der Umgehungsstraße, wo eine lange Reihe Linden am Bürgersteig entlanglief und das Licht der Straßenlaternen aus dem Halbdunkel hervortreten ließ. Auf der Seite der Stadtmauer waren ganz hinten die Damen, die sich den Männern anboten, die Prostituierten mit ihren Zuhältern, welche die Geschäfte und die Kundschaft überwachten. Auf der anderen Seite glänzten die Lichter der Kneipen im Freien mit vollen Tischchen, Leuten, die zusammen lachten und plauderten. In den dunkleren und menschenleeren Seitenstraßen, dem Weideland von Pucci und Bordignoni, waren Männer, die an einer Mauer versteckte Vorschläge wisperten; überall Liebe in Aussicht, Seelen auf der Suche nach Gesellschaft, Mädchen, die aus dem Fenster spähen, Hunde auf der Suche nach dem anderen Geschlecht, eine miauende Katze, ein Betrunkener, der sich kaum auf den Beinen hält. Die zwei Freunde strichen langsamen Schrittes herum, und hin und wieder kam Bordignoni auf seine fixe Idee zurück: »Also, Pucci, gehen wir zur Bernigotti?« Pucci schwieg, denn er dachte über den Zweck des Unterfangens nach, das ihm vielleicht wegen seiner kriminellen Natur nicht ganz missfiel.

      Die Englischlehrerin Bernigotti, eine Frau mit kräftigem Knochenbau und sehr entschiedenem Schritt, war gewöhnlich mit einem Federhütchen und einem Hund an der Leine unterwegs. Beim abendlichen Rundendrehen war sie immer allein mit ihrem Hund und wurde von den Bürgern ein wenig eisig gegrüßt, denn sie gehörte zur Kategorie der sogenannten alten Jungfern. Ihre Haltung war aber so stolz, dass alle sie mit ein wenig Scheu oder auch Verlegenheit ansahen, da es nicht zu den Gepflogenheiten gehörte, das Altejungferntum auf dem Stadtplatz vorzuzeigen. Die schönen Frauen, die dorthin gingen, um sich anschauen zu lassen, zusammen mit den Männern, die sie anschauten, sagten: »Was hat denn die hier verloren, was dreht die hier ihre Runden?« Die ehrbaren Familienoberhäupter nebst jeweiligen Gattinnen hatten alle die größte Lust, ihr Übles nachzureden, doch es fehlte ihnen der Rohstoff. Sie lebte allein, ab und zu fuhr sie weg, kam wieder. Wo fuhr sie hin? Hmm. Hatte sie nicht zufällig weibliche Bekanntschaften, die an etwas Schmutziges denken ließen? Nein, nichts dergleichen. Aber trotzdem musste eine, die so für sich allein lebte, etwas zu verbergen haben, sagten die ehrbaren Familienoberhäupter und die jeweiligen Gattinen zueinander. Oder sie sagten es nicht einmal, denn die Sache verstand sich von selbst.

      Mag sein, dass die Geschichte von der alleinlebenden Frau in Bordignonis Hirn die Idee des Ansturms auf die Bernigotti hatte aufblitzen lassen, sie war eine vollbusige Frau, die einen gewissen Eindruck auf ihn machte. Aber wie hatte er sich den Annäherungsversuch vorgestellt?


Скачать книгу