Was für ein Leben!. Gianni Celati

Was für ein Leben! - Gianni Celati


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jetzt aus meiner Feder, was an jenem fernen Abend los war, während die zwei Kumpane in der Allee der Umgehungsstraße herumgrasten. Sie gingen an einem Tanzlokal vorbei, wo sich die Männer stauten, die sich die Frauen ansahen, und von Frauen, die sich von den Männern ansehen ließen. Aus dem Tanzlokal kam eine so lasche Musik heraus, aber so lasch, dass man melancholisch wurde. In der Zwischenzeit sahen sich draußen die Männer und die Frauen an, ohne sich zu bewegen, mit langen Gesichtern, es war die alte Geschichte der Paarungen, der Ausschau nach Liebe, der Seelen auf der Suche nach Gesellschaft wie die in der Nacht herumstreunenden Hunde. Hier kehrte Bordignoni wieder zu seinem abenteuerlichen Vorschlag zurück: »Hör zu, Pucci. Wir gehen zur Bernigotti, wir tun so, als würden wir sie zum Spaß kitzeln, dann legen wir sie aufs Bett und genießen.«

      Dieser Vorschlag muss Pucci fast überhaupt nicht kriminell vorgekommen sein. Er hörte nämlich nicht mehr auf seinen Kumpan, sondern machte es auch jetzt wie die Katzen, wenn sie wegschauen, um nicht gestört zu werden; und er schaute den Autos nach, die am Ende der Allee verschwanden und den Effekt der Schlusslichter hinter sich ließen, was auf den Gemütszustand des nächtlichen Wanderers eine gute Wirkung ausübte. Ich glaube, allmählich erwachte in ihm die Idee einer Übereinstimmung zwischen den Gelüsten der Augen und den Gelüsten der Füße und zwischen der Bewegung der Füße und dem Leben auf den Straßen je nach der Tageszeit; eigentlich der Eindruck, es gebe ein Innen und ein Außen, die irgendwie zusammenhingen, wer weiß wie. Aber an dem Abend muss Bordignoni unter einer Straßenlaterne verstanden haben, dass er als gewaltiger Junge, der seine Träume hatte, allein geblieben war: »Ach, Pucci, du hast mich wirklich enttäuscht!« So endete ihre Freundschaft, weil er sich gesagt haben muss, dass er einen aufgeweckteren Kumpanen brauchte, um sich in gewisse Abenteuer zu stürzen; und von da an haben sich die beiden nicht mehr getroffen, und Pucci ging danach allein auf die Weide.

      Bordignoni hatte nie Glück bei den Frauen. Es heißt, eines Tages habe er sich in eine Kneipenkellnerin, eine gewisse Rossana, verliebt, die in der Kneipe dem städtischen Schlachthaus gegenüber arbeitete. Die gefiel ihm irrsinnig, weil auch sie dick war, aber auf andere Weise als er: sie hatte dicke Hüften, einen dicken Busen, dicke Arme und vielleicht auch dicke Beine unter ihrem langen Rock. Sie trug einen so weiten und so langen Rock, dass Bordignoni davon träumte, darunter zu schlüpfen wie in ein Zelt. Außerdem trug sie einen Angorapullover, der etwas Weiches und Flaumiges ausstrahlte, und ein Tuch um den Hals, mit dem sie sehr fein aussah. Vor allem das Halstuch hatte es Bordignoni angetan, es machte ihn schwindlig und er fand es von solcher Feinheit, dass ihn die Idee einer nie empfundenen Süßigkeit überkam.

      Im Grunde war er so verliebt in die Kneipenkellnerin Rossana, dass er sie immer anschauen wollte, und wenn er einen Freund traf, wollte er immer von ihr sprechen, und wenn er frei hatte, ging er jede halbe Stunde in die Kneipe und sagte: »Einen Kaffee!« Die Mechanikerwerkstätte, wo er arbeitete, war weit weg von der Kneipe, also konnte er sie nur abends sehen. Aber in der Zeit des Sommerurlaubs weihte Bordignoni jede Minute der Kneipenkellnerin Rossana: ihrem Gesicht, ihrem Halstuch, ihrem Rock, den Erhebungen ihres Busens, ihren schneeweißen Armen, die er immerzu sehen wollte. Ab Anfang August ging er von morgens früh um sieben in die Kneipe dem Schlachthaus gegenüber und sagte: »Einen Kaffee!« Und hob die Augenlider so hoch er konnte, damit ihm nichts von ihr, von ihrer Kleidung, ihrem Zauber entging. Dann kehrte er um, verließ die Kneipe und spazierte zwanzig Minuten, allerhöchstens eine halbe Stunde am Doro-Kanal entlang; und ging wieder hinein und verlangte noch einen Kaffee. Ich weiß nicht, ob sie ihn je gefragt hat, warum er so viel Kaffee trinke, oder ob sie ihn je darauf hingewiesen hat, dass ihm das schaden könnte.

      Tatsache ist, dass Bordignoni im Lauf weniger Tage ein flimmerndes Herzklopfen bekam. Schon war er bis über die Ohren verliebt und dazu noch der viele Kaffee, daraus wurde ein Herzkasperl, so dass er auf der Stelle ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Die Ärzte sprachen von Infarktverdacht und behielten ihn eine Zeitlang zur Beobachtung. Als er aus dem Krankenhaus kam, war er wie umgewandelt, ein anderer Mensch, nicht mehr ganz so gewaltig. Die Liebe hatte an ihm gezehrt und ihn verwandelt. Ja, du träumst und träumst, sie wiederzusehen, als ob du die Böschung des Fegefeuers hochklettern würdest, wo dich ganz oben deine Liebste erwartet.

      Welche Veränderungen, welche Erwartung im Bett des Krankensaals, wo er die ganze Nacht keine Ruhe fand! Er versuchte jeden Moment ihr einen Brief zu schreiben, um ihr von dem Tamtam in seinem Herzen zu erzählen. Doch er fühlte sich zu schlecht im Schreiben, Bordignoni wusste nie, wann ein Doppelkonsonant kam, also verzichtete er auf den Brief. Und an dem Tag, an dem er freigelassen wurde, rannte er, obwohl man ihm gesagt hatte, er dürfe sich nicht anstrengen, in einem irrsinnigen Tempo vom Krankenhaus zur Kneipe, ungefähr vier Kilometer Asphalt. Am Ende ging ihm der Atem aus, die Milz war am Platzen, er hatte das Gefühl, er würde ohnmächtig auf den Boden fallen, und er blieb eine halbe Stunde auf den Bürgersteig sitzen, um wieder zu sich zu kommen, die Augen auf die Glastür gerichtet, hinter der die geliebte Rossana war.

      Aber die Kneipenkellnerin Rossana war nicht mehr da, sie arbeitete gar nicht mehr als Kneipenkellnerin. Sie hatte einen Verkäufer von Schädlingsbekämpfungsmitteln, einen gewissen Fregatti geheiratet, ich kannte ihn, ein magerer Typ, schon in der Jugend mit Glatze, beinahe zu ernst und zurückhaltend. Und die Kunden der Kneipe und viele Arbeiter des städtischen Schlachthofs waren zur Hochzeit eingeladen worden, es war ein schönes Fest, das im Zirkel der Anarchisten im Viertel Fantuzzi gefeiert wurde. Aber Bordignoni war nicht eingeladen worden, weil er im Krankenhaus war und nicht einmal im Kopf der schönen Rossana präsent. Danach soll er sich mit den Pfaffen angefreundet haben und in die Kirche gegangen sein und sogar eine Pilgerfahrt zur Muttergottes von Lourdes unternommen haben. Und dann: Wer weiß, was ihm dann noch passiert ist? Bei ihm hat nie etwas geklappt, er wusste nicht, wie er seine Gelüste befriedigen sollte, die Begierden des irrsinnigen Körpers, die Qualen des Fleisches auf der Suche nach einem anderen Fleisch, um sich mit ihm zu vereinigen und nicht immer als Ungepaarter auf der Welt zu sein.

      Noch eine kleine Anekdote, bevor ich schließe. Nachdem Bordignoni mit Pucci gebrochen hatte, ging er abends in Richtung Allee der Umgehungsstraße, wo die Damen des Trottoirs auf Kunden warteten: »Wie geht’s, junger Mann? Ein bisschen kühl heute abend, was?« Es waren mitteilsame Frauen, die gern über ihr Leben und über ihr Unglück redeten. Eine jammerte wegen ihrer Krampfadern: »Immer stehen, wissen Sie, die ganze Nacht! Ich müsste zum Arzt gehen, aber ich hab keine Zeit.« Eine andere sprach immer von ihrer Tochter: »Ich arbeite für sie, sie soll nicht in der Gosse bleiben, ich will, dass sie bei den Klosterfrauen in die Schule geht, meine liebe Mimmina!« Eine andere sagte, sie müsse sich an der Galle operieren lassen, habe aber noch nicht genügend Geld zusammengespart. In der Zwischenzeit hielten die Kunden im Auto das Trottoir entlang und protestierten: »He da, sollen wir heute leer ausgehen?« Die Frauen: »Momentchen! Wir reden gerade! So eine Hast!«

      Eine angenehme Gesellschaft, die Damen auf dem Trottoir unter den Bäumen der Umgehungsstraße, immer herzlich, lächelnd, zum Scherzen aufgelegt. Insbesondere eine junge Hinkende, die mit ihren Wahnsinnssprüchen alle zum Lachen brachte. Aber sie wurden strengstens von ihren Beschützern bewacht, das waren magere, leichenblasse Typen im grauen Anzug mit Nadelstreifen, mit Galgengesichtern von Annodazumal, zum Kotzen. Kloakengeschmeiß, Saftsäcke von Mackern, zahnlose Brabbler teilten manchmal saftige Ohrfeigen aus, denn sie wollten nicht, dass in der Hurerei langsam gearbeitet wurde. Klatsch, klatsch! Allein ihre Visagen, wenn man die nur anschaute, ließen einem jede Liebeslust vergehen. Aber noch dazu hatten wir, wie auch unser Freund Bordignoni, kein Auto, und es war ziemlich unangenehm, es stehend an eine Mauer gelehnt zu treiben. »Da hinten in den Anlagen ist eine Höhle, wenn es Ihnen so recht ist.«

      Wir mussten alles im Dunkeln machen, die Hose aufknöpfen und uns mit einem Arm an die Mauer stützen, um nicht umzufallen, während wir uns auf dem Weg zu den schattigen Stellen unserer Damen vortasteten, die es unter anderem immer eilig hatten, aus Angst vor ihren gewalttätigen Schutzengeln. Jedes Mal war es ein Problem, und wir waren damals noch nicht bewandert in der Führung so geschwinder Geschäfte, die uns von der Natur anbefohlen wurden, die auflodert und ihre Ansprüche geltend macht. Furchtsam ist das Verlangen, das zusammen mit Ängstlichkeit und Unbehagen auftritt. Fremd geht man über die Weiden, auf der Suche nach Futterplätzen, aber wenn die Lüste sprechen könnten, würden sie sagen, wie verlassen die Welt ist. Auf dem Heimweg dachte Bordignoni an die Frauen mit den riesigen Brüsten,


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