Als ich die Stille fand. Franz Welser-Möst
sondern kreativ in die Zukunft zu investieren.
Das Buch ist eine teilweise humorvolle, aber auch zutiefst ernst gemeinte Reise durch meine 60 Jahre, in denen ich gelernt habe, vieles zu hinterfragen und alles, aber auch wirklich alles zu schätzen, was mir widerfährt. Und zu lernen, lernen, lernen.
Mein Dank gilt dem Brandstätter Verlag, der die Idee hatte und mich aufmerksam durch die Zeit der Entstehung dieses Buches begleitet hat.
Vor allem aber Axel Brüggemann, der in sehr intensiven Gesprächen vieles aus meinem Innersten herausgeholt hat, von dem ich nicht vorhatte, es mit der Öffentlichkeit zu teilen, und der als redegewandter und brillanter Überzeugungstäter es schaffte, mich an den Punkt zu bringen, es doch zu tun.
Besonderer Dank gilt auch Annette Frank, die mich intensiv, fachkundig, geduldig, aber auch hartnäckig durch die lange Zeit der Korrekturen begleitet hat.
Prélude
Diese existenzielle Stille
Ich kann bis heute nicht genau sagen, ob mir bewusst war, dass die Reifen unseres Wagens den Griff auf dem gefrorenen Asphalt auf der Brücke nach Losenstein verloren hatten. Wir sind hilflos über eine Böschung geschlittert und kamen einige Sekunden später nach einigen Überschlägen zum Stillstand. Ich weiß auch nicht mehr, ob ich von der Rückbank aus beobachten konnte, wie der Fahrer versuchte, das Rutschen durch das energische Betätigen der Bremsen auszubügeln, wodurch er unsere Lage nur noch verschlimmerte. Woran ich mich allerdings erinnere, ist, dass ich diese Sekunden als Ewigkeit wahrnahm.
Die Zeit schien aufgelöst, ebenso wie die Schwerkraft. In diesem Augenblick verlor jedes Koordinatensystem, das der Existenz eines Menschen für gewöhnlich Halt gibt, seine Bedeutung. In Filmen wird das subjektive Gefühl bei einem solchen Unfall oft dargestellt, indem der Regisseur das Geschehen in Zeitlupe abbremst und die gleiche schlingernde Bewegung des Kraftfahrzeuges aus unterschiedlichen Perspektiven immer wieder hintereinander abspielt.
Der Film, der sich in diesem Augenblick bei mir abspielte, war eher ein Hörspiel. Oder besser gesagt: ein Stumm-Spiel. Ich erinnere mich nicht, ob in unserem Auto noch Worte gefallen sind, ob jemand „Oh Gott!“ geflüstert oder „Pass auf!“ geschrien hat. Das Gleiten des Autos vor dem Crash nahm ich bewusst wahr, aber alles um mich herum erschien plötzlich irreal. An was ich mich erinnere, ist die unglaubliche Stille, die mich umhüllte.
Eine Stille, die nichts mit jener Ruhe zu tun hatte, die ich von meinen zahlreichen Wanderungen kenne, wenn ich bei Sonnenaufgang in den Bergen unterwegs bin und der voll orchestrierten Natur lausche: Blätter, die sich im Wind wiegen, Tiere, die aus der Dunkelheit erwachen, der Sturm, der auf den Gipfeln bläst, oder – nach innen gerichtet – der Rhythmus des eigenen Herzschlages. Die Stille, die ich in diesem Moment auf der Rückbank unseres Autos wahrnahm, klang anders. Eine Stille, wie ich sie zuvor höchstens in der Musik erlebt hatte: ein Aussetzen von Zeit und Raum. Im Unterschied zur Musik war ich allerdings nicht in der Lage, diese Stille zu gestalten, ihren Aufbau und ihre Dauer zu bestimmen – ich war ihr vollkommen ausgeliefert, unfähig, mich zu bewegen, geschweige denn Einfluss auf das zu nehmen, was in den nächsten Sekunden passieren sollte. Diese Stille schien alle mir bekannten Regeln unserer Welt zu ignorieren. Eine Sekunden-Stille oder eine ewige Stille – ich kann es nicht sagen, da selbst die Zeit ausgehebelt war, sich gleichsam ausdehnte in die Unendlichkeit. Die Stille, die ich in unserem Auto hörte, während es unkontrolliert über den Asphalt rutschte, war eine Stille, die so still war wie nichts, was ich bis dahin nicht gehört hatte.
Seit diesem Tag denke ich immer wieder über das Phänomen der Stille nach. Die Stille als Möglichkeit, sich die allgegenwärtige Lautstärke der Welt zu vergegenwärtigen. Die Stille als Zustand der Abwesenheit des Klanges. Zeichnet sich Stille nicht grundsätzlich dadurch aus, dass an ihrem Anfang und an ihrem Ende Klänge stehen? Ist Stille in Wahrheit nicht das Spannungsfeld zwischen zwei Ton-Polen, der Zustand zwischen dem Hörbaren, das die jeweilige Stille letztlich definiert?
In der Bibel verkünden Engel die Botschaft Gottes. Der Welt zu verkünden, setzt voraus, selbst von Stille umgeben zu sein. Das Hören und das Nicht-Hören sind auch für den Menschen existenzielle Zustände der Weltwahrnehmung. Nicht umsonst sprechen wir von Stillstand. Es ist der Hörsinn, auf den wir vielleicht im Letzten vertrauen. Jener Sinn, der evolutionsbedingt niemals schläft: Während wir die Augen schließen, bleiben unsere Ohren gespitzt und warnen uns vor Tigern oder Wölfen, selbst, wenn der Rest des Körpers sich längst „aufs Ohr“ gelegt hat.
Die Stille, die ich in unserem Auto kurz vor dem Unfall wahrnahm, hatte nichts Negatives. Ich könnte auch nicht sagen, dass sie mir „schön“ vorgekommen ist, vielleicht wäre „erfüllend“ das passendere Adjektiv. Ein erfüllendes Vakuum des Klanges. Das war, was mich umgab, als der erste Aufprall des sich überschlagenden Wagens mir das Bewusstsein nahm und wir auf einem gefrorenen Acker in den österreichischen Voralpen zum Stehen kamen.
Später, als ich im Spital nach einigen Tagen Intensivstation auf die normale Unfallstation verlegt worden war, wurde mir einer der damals in österreichischen Krankenhäusern beliebten, hellblauen Kopfpolster gereicht, in dem ein Lautsprecher eingenäht war. Die erste Musik, die ich hörte, war Schuberts G-Dur-Messe. Sie lief im Radiosender Ö1. Schubert hatte sie mit nur 18 Jahren komponiert.
Am 19. November 1978, dem Tag des Unfalls, war ich ebenfalls 18 Jahre alt. Und ich befand mich auf dem besten Weg, meinen größten Traum zu verwirklichen: Ich wollte professioneller Geiger werden – am liebsten bei den Wiener Philharmonikern. Gemeinsam mit Freunden hatte ich gerade Schuberts G-Dur-Messe beim Festgottesdienst im oberösterreichischen Großraming aufgeführt. Die Aufführung fand in jener Kirche statt, deren älteste Teile aus dem Jahre 1513 stammen und die dem heiligen Jakobus gewidmet ist. Großraming war der Geburtsort meines Lehrers Balduin Sulzer, und es war dessen Bruder, Otto Sulzer, Leiter des örtlichen Kirchenchores, der uns gebeten hatte, die heilige Messe zu spielen.
150 Jahre früher, am 19. November 1828, rang Franz Schubert in der Wiener Wohnung seines Bruders Ferdinand mit dem Typhus. Er verlor den Kampf und verstarb um 15 Uhr mit nur 31 Jahren. Sein Todestag sollte unseren Sonntag bestimmen: Von Großraming aus hatten wir vor, weiter nach Steyr zu fahren. Hier hatte Schubert die Komposition seines Forellenquintetts begonnen – und das wollten wir später noch aufführen. Nach der erfolgreichen G-Dur-Messe beim Hochamt haben wir uns zunächst beim Kirchenwirt gestärkt. Wir, das waren der örtliche Kirchenchor und das Orchester, in dem auch einige Schüler aus dem Musikgymnasium Linz mitspielten. Darunter auch eine Unternehmerfamilie, mit der ich befreundet war – der Vater war begeisterter Hobbycellist. Mit ihm, seiner Frau, seinem Sohn und zwei Schulkolleginnen wollte ich später die knapp 40 Kilometer nach Steyr fahren, entlang der Enns durch das wunderschöne Ennstal.
Als wir den Kirchenwirt verließen, hörte ich, wie der Vater seinen Sohn, während er ihm den Autoschlüssel überreichte, ermahnte: „Sei vorsichtig, die Brücken könnten vereist sein.“ Der Sohn hatte seinen Führerschein erst vor einem halben Jahr gemacht und nickte. Dann stiegen wir in den Mercedes, um durch die österreichischen Voralpen zu fahren. Ich saß rechts hinten im Fond. Seine Mutter hatte neben mir Platz genommen, daneben ihr Gatte. Neben ihrem Sohn am Lenkrad saßen noch die zwei Schulkolleginnen. Wir waren gut zehn Minuten unterwegs, als wir – es war Punkt 15 Uhr – die Brücke bei Losenstein passierten und ins Schlingern gerieten. Der Fahrer wollte, wie bereits erwähnt, das Schlimmste verhindern, indem er auf die Bremse trat, was unser Fahrzeug allerdings vollkommen außer Kontrolle geraten ließ. Alles, was von da an passierte, weiß ich lediglich aus den Erzählungen anderer.
Am Abend wollten auch meine Eltern in das Konzert gehen und schauten noch am späten Nachmittag dieses Tages bei der befreundeten Familie vorbei. Dort eröffnete ihnen eine Verwandte der Familie die traurige Nachricht: „Aber wissen Sie nicht, es gab einen Unfall, die gnädige Frau ist an Ort