Als ich die Stille fand. Franz Welser-Möst
wurde mir erzählt, dass einige Chormitglieder, die direkt hinter unserem Wagen gefahren waren, den Unfall beobachtet hatten. Einer von ihnen war auch Feuerwehrmann und hat uns aus dem Wrack gezogen. Als ich – noch vor Ort – das Bewusstsein wiedererlangte, war mein erster Gedanke: „Hoffentlich kommen wir pünktlich zum Konzert.“ Heute finde ich es tröstlich, wie gnädig die Natur ist, wenn sie uns das fast Unerträgliche zu verdrängen hilft. Gemeinsam mit dem Sohn der Familie wurde ich in einem Krankenwagen ins Spital gefahren.
Als ich nach der Erstversorgung auf die Intensivstation gebracht wurde, spürte ich wahnsinnige Schmerzen im Rücken. „Was habe ich denn?“, fragte ich den Pfleger, der sich um mich kümmerte und mit „Feingefühl“ antwortete: „Drei Wirbeln san hin.“
Als ich versuchte, meine Füße zu bewegen, fiel es mir zunächst schwer, und ich machte mir Gedanken, wie mein Leben im Rollstuhl aussehen würde. Doch mein Körper erholte sich ziemlich rasch, der Unfall sollte aber mein Leben in vielerlei Hinsicht nachhaltig prägen. Es stellte sich heraus, dass die Beweglichkeit von zwei meiner Finger irreversibel eingeschränkt bleiben würde, da die Nerven beschädigt waren. Damit musste ich meinen großen Traum von der Geigenkarriere begraben. Hinzu kamen die Schmerzen – fast 14 Jahre begleiteten sie mich beinahe täglich. Oft so sehr, dass ich am Morgen kaum aus dem Bett kam, weil mein Rücken so krampfartig verspannt war. Und es prägte mich die Erfahrung dieses Unfalls, dieser sich in die Unendlichkeit ausdehnenden Stille. Mir war mit 18 Jahren der Tod begegnet, und das veränderte mein Leben wie keine Erfahrung davor oder danach.
Seither mache ich mir viele Gedanken über die Merkwürdigkeiten dieses 19. Novembers. Dass unser Wagen genau 150 Jahre nach Schuberts Tod von der Straße abkam, um Punkt 15 Uhr zur Todesstunde des Komponisten. Dass der Unfall passierte, ausgerechnet nachdem wir Schuberts G-Dur-Messe gespielt hatten, die er mit 18 Jahren geschrieben hatte, also in dem Alter, in dem ich damals war. Dass wir geplant hatten, sein Forellenquintett aufzuführen, und dass Schuberts Musik das Erste war, was ich im Krankenhaus-Kissen hörte: wieder die G-Dur-Messe! Ist all das Zufall? Grundsätzlich glaube ich nicht an Zufälle. Höchstens, wenn man das Wort im Sinne von „es fällt einem etwas zu“ versteht, dann war dieser 19. November 1978 sicherlich ein Zufalls-Tag, an dem mir so viel zufiel, was mein Leben nachhaltig verändern sollte. Dieser Sonntag war ein Schicksalstag für mich, dem ich viel von dem zu verdanken habe, was ich heute bin.
Ich frage mich noch immer, ob die zu Tode gekommene Mutter der befreundeten Familie ebenfalls jene Stille gehört hat, die ich vor dem Unfall wahrgenommen habe – und ob diese Stille vielleicht ein Vorbote dessen war, was uns nach dem Leben erwartet. Die anderen von uns, die überlebten, begleitete der schreckliche Unfall weiterhin: Mit der Firma des Unternehmers ging es bergab, der Sohn, dessen Mutter neben mir starb, erkrankte schwer. War uns an diesem Novembersonntag dies alles nur „zu-ge-fallen“?
Bei mir hat der Unfall in erster Linie meine Einstellung zum Tod und zum Glauben verändert. Jenen Glauben, den meine Eltern pflegten und der unsere Familie so tief geprägt hat. Ich habe später in unterschiedlichen Religionen nach etwas Anderem gesucht, im Buddhismus und im Hinduismus, bei Ghandi und Laotse. Bei meinen Wanderungen durch verschiedene Religionen bin ich zu Erkenntnissen gelangt, die ich vorwiegend in philosophischen Schriften fand. Am ehesten würde ich mich als Agnostiker beschreiben, der es mit Sokrates hält, also an die Unsterblichkeit dessen glaubt, was wir die Seele nennen. Dieses Wissen ermöglicht mir eine sehr persönliche Spiritualität. Muße und Ruhe gibt mir heute vor allen Dingen die Natur, und das, was Spiritualität bedeutet, erlebe ich vielleicht am ehesten in der Musik.
Ist es nicht bezeichnend, dass Franz Schubert seine G-Dur-Messe in nur einer Woche komponiert hat und im Credo bereits mit 18 Jahren den Satz Et unam sanctam catholicam et apostolicam ecclesiam wegließ und der „heiligen katholischen und apostolischen Kirche“ so das Glaubensbekenntnis versagte? Ist es nicht spannend, dass er auch auf den Satz Et expecto resurrectionem mortuorum verzichtete, Ich erwarte die Auferstehung von den Toten? Die G-Dur-Messe war die letzte Musik, die ich vor dem Unfall hörte – und sie war jene Musik, mit der mich die Welt zurück begrüßen sollte. Zufall?
Woran ich glaube, ist vielleicht tatsächlich jene Stille, die ich seither erfahren habe, die von Klang umgebene Stille. Sie ist meine Form der Ewigkeit und der Außerweltlichkeit. In ihr finde ich den Trost, dass sich am Ende eines Lebens das Gefühl der Zufriedenheit einstellen kann. Vielleicht kann man diesen Zustand auch Seelenstille nennen. Ein Zustand, den ich mir immer wieder durch die Musik erhoffe. Dem ich vielleicht sogar hinterhereile. Ein Zustand, der leider nur sehr selten eintritt, aber wenn, dann wird er zu einer Art Offenbarung.
Die existenzielle Größe der Musik habe ich zum Beispiel erlebt, als ich den Pianisten Radu Lupu mit seiner Interpretation von Beethovens Waldsteinsonate in der Zürcher Tonhalle hörte. Ich kann nicht beschreiben, was genau dieser Abend in mir ausgelöst hat, aber ich kann sagen, dass ich drei Nächte lang nicht schlafen konnte – so sehr hat mich aufgewühlt, was ich gehört hatte. Nach dem Konzert habe ich Radu Lupu in seinem Künstlerzimmer besucht und gesagt: „Diese Interpretation werde ich wohl ein Leben lang nicht vergessen.“ Ich hatte das Gefühl, dass er selbst von der Wirkung seines Spiels überrascht war. Aber seine trockene Antwort war: „Ja, so hatte Beethoven es wohl gemeint.“
Es gibt diese Aufführungen, die uns über die Grenzen unserer Existenz hinausführen und bei denen alle Beteiligten zu einer Einheit werden. Das erste Mal, als mir dies widerfuhr, war während der Aufführung von Franz Schmidts Das Buch mit sieben Siegeln in der Stiftskirche Wilhering, die ich mit 24 Jahren dirigierte. Die Offenbarung des Johannes, in der es genau um diese letzten Dinge geht, wurde zu einem klingenden Weltbild. Als ich meine Eltern im Anschluss an die Aufführung traf, brachten weder sie noch ich ein Wort hervor, und mir liefen nur die Tränen über das Gesicht.
Vor allem die Musik Schuberts hat mich sowohl als Zuhörer als auch als Ausführenden immer wieder in diese Gefilde des Grenzüberschreitens geführt. In besonderer Erinnerung ist mir eine Aufführung des Schubert-Quintetts, das ich mit Freunden während meiner Zeit als Chefdirigent im schwedischen Norrköping spielte (ich hatte den Bratschen-Part trotz der zwei beschädigten Finger übernommen). In der Reprise des zweiten Satzes hörte und empfand ich plötzlich diese Musik der Ewigkeit. Klänge, in denen jede Zeit ausgehebelt wird, Musik, in der sich fünf Musiker im Augenblick des Spiels verlieren. Schubert hat diese außerweltliche Musik zwei Monate vor seinem Tod komponiert, und vielleicht kommt dieser zweite Satz jener Stille am nächsten, die ich gehört habe, bevor sich unser Wagen überschlug.
Unvergesslich bleibt mir auch ein Schubert-Liederabend, den Simon Keenlyside bei der Schubertiade in Schwarzenberg 2002 gesungen hat. Ich war auch hier von der existenziellen Größe der Musik so überwältigt, dass ich mir daraufhin die Aufnahme, die der ORF gemacht hatte, besorgt und diese immer wieder angehört habe.
Anlässlich meines 50. Geburtstages habe ich sozusagen als Geschenk an mich selbst ungefähr 120 Freunde und Bekannte zu einer privaten „Schubertiade“ eingeladen. Radu Lupu hat die letzte Klaviersonate von Schubert in B-Dur gespielt. Im Anschluss sang Simon Keenlyside einige Schubert-Lieder, am Klavier von Malcolm Martineau begleitet. Kurz vor seinem Auftritt fragte mich Keenlyside, wie es nach solch intensivem Musizieren dieser B-Dur-Sonate überhaupt noch möglich sei, etwas musikalisch hinzuzufügen und zu singen.
Und dann war da noch die Aufführung der Großen C-Dur-Symphonie von Schubert, gemeinsam mit dem Cleveland Orchestra in Cleveland am Freitag, den 13. März 2020. Zu diesem Zeitpunkt begann die Corona-Krise gerade die ganze Welt zu erfassen. Wir alle erahnten, dass wir uns in einer noch nie dagewesenen Ausnahmesituation befanden. So wurde der Entschluss gefasst, keine öffentlichen Auftritte unseres Orchesters mehr zu machen. Um jedoch das laufende Aufnahmeprojekt (Anm.: CD/Download- und Streaming-Serie A New Century mit Live-Aufnahmen aus der Severance Hall) abschließen zu können, führten wir die Symphonie vor etwa 20 Mitarbeitern unserer Büros auf. Wie ein Damoklesschwert hing die Frage über uns, ob und wann ein gemeinsames Musizieren wieder möglich wäre. Dadurch erreichte diese Aufführung eine Tiefe und gleichzeitig eine Schwerelosigkeit, wie ich sie vorher mit diesem Orchester