Handbuch Sozialraumorientierung. Группа авторов
GG).
Diese Gewährleistung der Selbstverwaltung umfasst auch die Grundlagen der finanziellen Eigenverantwortung. Um ihre Aufgaben gewährleisten zu können, wird den Kommunen im Rahmen ihrer Selbstverwaltung zur Sicherung der finanziellen Eigenverantwortung auch die Nutzung von Steuerquellen zugestanden. Hierzu dürfen Kommunen z. B. über Gewerbesteuerhebesätze eigene wirtschaftskraftbezogene Steuerquellen nutzen. Mit Artikel 72 Absatz 2 GG liegt darüber hinaus eine Rechtsgrundlage vor, die mit der »Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet« eine sozialräumlich ausgleichende Orientierung zum Ziel hat. Damit widerspricht eine Polarisierung von Regionen nach unterschiedlichen Lebensverhältnissen dem Grundgesetz nach Artikel 72.
Im Rahmen der allgemeinen Daseinsvor- und -fürsorge obliegt es den Kommunen, Aufgaben in nahezu allen Politikfeldern, von Bauen, Verkehr, Infrastruktur über Wirtschaft und Soziales bis hin zu Bildung, Kultur und Sport, zu erfüllen. Kommunen verfügen hierzu über eigene Personal-, Organisations- und Finanzhoheit. Ihre Zuständigkeiten werden nur z. T. durch Bundesgesetze wie bspw. im Baugesetzbuch oder in den Sozialgesetzbüchern (z. B. SGB II, SGB VIII und SGB XII) geregelt, denn es gilt der Grundsatz, dass durch Bundesgesetze Gemeinden und Gemeindeverbänden, nicht ohne weiteres zusätzliche Aufgaben übertragen werden dürfen (Art. 84 Abs. 1 GG). Aufgaben und Zuständigkeiten ergeben sich insbesondere durch landesrechtliche Vorgaben, die in jeweiligen Gemeindeordnungen konkretisiert werden. Dort sind auch die Gemeindeverfassungen rechtlich geregelt, die sich zwischen den Bundesländern durchaus unterscheiden und grob nach norddeutschen und süddeutschen Ratsverfassungen unterteilt werden können (vgl. Wehling 2006)6.
Im Bau- und Sozialrecht gibt es, wie die nachfolgenden Zitate zeigen, eher allgemeine Aufträge zu einer sozialräumlichen Ausrichtung:
»nachhaltige städtebauliche Entwicklung, die die sozialen, wirtschaftlichen und umweltschützenden Anforderungen auch in Verantwortung gegenüber künftigen Generationen miteinander in Einklang bringt« (BauGB § 1 Abs. 5).
»positive Lebensbedingungen für junge Menschen und ihre Familien sowie eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu erhalten oder zu schaffen« (SGB VIII § 1 Abs. 3 Satz 4).
Neben diesen eher grundsätzlichen und allgemeinen gesetzlichen Grundlagen gilt es im Rahmen des Handlungskonzepts SRO weitere gesetzliche Grundlagen, wie z. B. zur Beteiligung von Bürger*innen an ihren Angelegenheiten, zu beachten. So genießen Bürger*innen Aufenthalts-, Beteiligungs-, Versammlungs- und (Mit-)Entscheidungsrechte, die in Bundes- und Landesgesetzen bzw. den einschlägigen Gemeindeordnungen verankert sind. Im Baurecht sind u. a. Rechte und Pflichten von Eigentümer*innen, Mieter*innen, Pächter*innen, wie z. B. die Auskunftspflicht (§ 138 BauGB) sowie Beteiligungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten der Betroffenen (§§ 137, 138, 139 BauGB) geregelt. Neben den Beteiligungsrechten von Bewohner*innen bei Stadtsanierungsprojekten sind insbesondere die Rechtsgrundlagen von »Bürger- und Einwohnerversammlungen« (z. B. Art. 18 GO Bay, § 20a GO B-W, § 16b GO S-Hol, § 16 GO R-Pf), Anhörungsrechte bei Gemeinderatssitzungen, z. B. durch »Bürgerfragestunden« (vgl. § 16c GO S-Hol, § 16a GO R-Pf bzw. Regelungen durch Geschäftsordnungen der Stadt-/Gemeinderäte), »Bürgerantrag« (z. B. § 20b, 3 GO B-W), »Bürgerbegehren«, »Bürgerentscheid« und auch die Einrichtung von Beiräten sachkundiger Bürger*innen (wie z. B. Integrations-/Migrationsbeiräte, Senior*innenbeiräte, Jugendparlament, Quartiersbeiräte etc.) in den Gemeindeordnungen der Länder geregelt. Aufgrund des in Deutschland geltenden Föderalismus und Subsidiaritätsprinzips können o. g. Regelungen je nach Bundesland und Kommune durchaus unterschiedlich ausfallen. Ebenfalls auf Landesebene sind die Anhörungsrechte und andere Formen des Rechtsweges, die z. B. für die Straffälligenhilfe von Bedeutung sind, geregelt. In den o. g. diversen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit können die rechtlichen Grundlagen sozialraumorientierten Arbeitens durchaus variieren und müssen daher Handlungsfeld spezifisch dargestellt und bewertet werden. Regelungen wie bspw. die UN-Behindertenrechtskonvention7, die in Artikel 19 die unabhängige Lebensführung von Menschen mit Behinderungen und deren Einbezug in die Gemeinschaft fordert, können hingegen von übergeordneter und Handlungsfeld übergreifender Bedeutung sein.
1.6 Sozialraumorientierung in Handlungsfeldern Sozialer Arbeit
Soziale Arbeit orientiert sich als normative Handlungswissenschaft, wie oben bereits angeführt, an Zielen, wie der (Be-)Achtung der Würde des Menschen und der Schaffung sozialer Gerechtigkeit8. Aus ihrem disziplinären Gegenstand der Vermeidung, Verminderung und Bewältigung sozialer Probleme ergibt sich nicht nur der Auftrag zur Bearbeitung vorhandener Missstände, sondern ebenso zur Verhinderung manifester und latenter sozialer Probleme. Soziale Probleme sind Bestandteile komplexer sozialer Prozesse, die aus einer festgestellten Diskrepanz zwischen gesellschaftlichen Wertvorstellungen und Zielsetzungen und der empirisch wahrnehmbaren Realsituation resultieren und in Wechselwirkung von Machtpotenzialen menschlicher Beziehungen modifiziert werden. Soziale Arbeit hat Konzepte und Methoden entwickelt, die versuchen der Komplexität sozialer Wirklichkeit gerecht zu werden und gleichzeitig die Möglichkeit zu eröffnen, diese Komplexität durch Fokussierung auf bestimmte Problemaspekte oder Ebenen zu reduzieren. In der Praxis Sozialer Arbeit sind, durch gesellschaftliche (teilweise gesetzlich verankerte) Aufträge und traditionelle Organisationsformen von Hilfen und Dienstleistungen, Spezialisierungen in Bezug auf Adressat*innen, Methoden und Hilfeformen entstanden, die einer ganzheitlichen Perspektive entgegenstehen können.
Ganzheitliche Sicht und integrierte Behandlung sozialer Probleme erfordern ein vielschichtiges Vorgehen bei Situationsanalyse, Problemdefinition und der Beschreibung von Zielen, Aufgaben und Methoden. Dazu gehören neben multidisziplinären theoretischen Grundlagen zur Generierung von Erklärungs- und Handlungswissen ein Mehrebenansatz bzgl. der Gestaltung von Lebensbedingungen und -räumen sowie die Methodenintegration zur Kooperation und Vernetzung mit allen relevanten Akteuren unter Einbezug der Betroffenen.
Sozialraumorientierung hat sich mittlerweile zu einem, bislang noch nicht konsistenten Handlungskonzept Sozialer Arbeit entwickelt, das trotz oder wegen konzeptioneller und pragmatischer Unterschiede und Modifikationen in zunehmend vielen Handlungsfeldern Sozialer Arbeit Anwendung zu finden scheint. Im Rahmen der Weiterentwicklung von der fallspezifischen über die fallübergreifende bis hin zur fallunspezifischen Arbeit geht der Adressat*innenkreis durch SRO über die klassische Klientel Sozialer Arbeit hinaus und bezieht potenziell alle Menschen in sozial- und räumlich strukturierten Lebens- und Aktionsräumen ein. Mit Beteiligung und Aktivitätsförderung Betroffener, Erschließung und Nutzung von Ressourcen des sozialräumlichen Lebensumfeldes sowie institutioneller und individueller Vernetzung versuchen Organisationen und Fachkräfte Sozialer Arbeit ihrer jeweiligen Aufgabenstellung gerecht(er) zu werden. So setzt bspw. die Ausrichtung der »gemeindenahen Psychiatrie« auf die Potenziale von Angehörigen, Nachbarschaft und sozialem Umfeld von Menschen mit psychischen Belastungen. Dies gilt auch für die Altenhilfe, in der ambulante wie stationäre Hilfen und nahräumliche Versorgung kombiniert und die spezifischen Angebote und Dienstleistungen geöffnet werden, um der Isolierung älterer Menschen entgegen zu wirken. In der Jugendhilfe wird mit »Mobiler Jugendarbeit« und »Straßensozialarbeit« versucht, sozialräumliche Akzente zu setzen oder Finanzbudgets für fallübergreifende oder fallunabhängige Arbeit auf »Soziale Planungsräume« (Noack 2015) zu beziehen. Über Multiplikator*innen sollen sozialräumliche Netzwerke zur besseren Integration von Migrant*innen geschaffen werden. Im Rahmen der Inklusionsbemühungen wird unter dem Begriff »Diversity Management« versucht, mit Unterschiedlichkeiten von Menschen so umzugehen, dass Teilhabe ohne systematische Benachteiligungen oder gar Stigmatisierung gelingt und der Fokus weniger auf personalen Merkmalen von Behinderung, sondern stärker auf der alltäglichen Hinderung an Teilhabe gelegt wird. Dies wird – wie oben erwähnt – auch von der UN-Behindertenrechtskonvention speziell für Menschen mit Behinderungen eingefordert. Die einzelnen Beiträge in diesem Band versuchen, den Handlungsfeldspezifischen Bezug zum hier explizierten Handlungskonzept SRO systematisch herzustellen und zu beschreiben.
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