Unverzehrtes Leben. Michael Großek
Lauf, ohne dass die Bevölkerung es zunächst als solches einschätzen konnte, weil keiner es ihr vermittelte. Dabei war der Wissenschaft das Ausmaß der Wahrheit klar: Dass nämlich die riesigen Sonneneruptionen die Umlaufbahn der Erde in Bälde kreuzen und der blaue Planet die Urgewalten des Universums zu spüren bekommen würde. Schließlich musste jeder von den starken Auswirkungen auf die technisierte Zivilisation Kenntnis nehmen; ein geordnetes Leben gehörte nicht mehr zur Normalität des einst gewohnten Alltags. Das bedeutete, sich von lieb gewordenen Dingen und Gewohnheiten zu verabschieden. Dass gleichzeitig das schützende Magnetfeld der Erde langsam aber sicher in sich zusammenbrach, blieb vielen verborgen – nur merkwürdige Krankheiten häuften sich.
All diejenigen Menschen, die in jahrzehntelangem Glauben an die Heilsbringer von denselbigen durch ungesunde, genmanipulierte Lebensmittel, Umweltverseuchung, Havarien von Kernkraftwerken, erst krank, dann von deren Medizin abhängig gemacht wurden, hatten – wie zufällig – keine Chance diese Katastrophenzeiten zu überstehen. Das »Problem Überbevölkerung« war zumindest zu einem Großteil »gelöst«. Wie sich die »Welt« doch immer »selbst reguliert«? Damit hausgemachte Katastrophen überhaupt ihre wahrscheinlich maximalen Schadensausmaße erreichen konnten, gab es keine organisatorisch angemessene Antwort des Staates für den Schutz der Zivilbevölkerung. Im Großraum Berlin leben noch knapp eine Million Menschen, in ganz Deutschland sind es vielleicht geschätzt gerade mal 20-30 Millionen.
Frauke Quandt muss sich zusammennehmen. Sie hat Hunger und nur noch wenig dieser Währung vorrätig, die für solche Zeiten immer wichtig waren: Kaffee und Tabak, (wobei Zigaretten seit vielen Jahren Mangelware sind). Nach der Häufung von nicht mehr zu deckelnden Internet- und Kreditkartenbetrügereien, war »anonymes Geld« zwar wieder in Mode gekommen, aber nicht für alles brauchbar. Gott sei Dank, war sie immer Raucherin gewesen und kannte die verbotenen Quellen in der Stadt. Nur wollten die einen lukrativen Gegenwert – und der war Papiergeld nun mal nicht mehr. Aufgrund ihres Berufes hatte sie aber, was diese Leute wollten: Adressen von lebenden Bürgerinnen und Bürgern, samt deren Kindern. Oh ja, das war einiges wert!
Was würden wohl gerade ihre Kinder machen? Als der ganze Mist begann, waren Milva 9 und Merkan 12. Wie so oft, hatte keiner die Warnungen ernst genommen. Jede Katastrophe wurde mit der anderen begründet. Und es gab nur einen Verlierer: die Bevölkerung. Zuerst hat die Regierung versucht, uns zu beruhigen, dann zum Durchhalten ermuntert. Und ja, der Drang zur Hilfsbereitschaft hat alles nur noch weiter hinausgezögert. Wir haben den letzten Notgroschen (was für ein anachronistisches Wort, denkt Frauke in dem Moment) gegeben, in der Hoffnung, wir retten den Staat, denn der lässt uns nicht hängen – denkste, haste jedacht: det is nu Berlin – alles im Arsch anno 45.
Nach dem Ende der EUROphorie, der »Globalen Geldvernichtung« in 29/30 und dem daraus resultierenden Zusammenbruch der kleineren Konzerne, folgte fast zwangsläufig die Auflösung der Nationalstaaten. Nur Deutschland wurde durch die Weltgemeinschaft in 38 ein temporärer Fortbestand mit der Republik-Mark (REMA) zugebilligt, um die aufgrund der im Jahr 18 von der Bundesregierung ausgesprochenen Gesamtentschuldigungsleistung noch aufbringen zu lassen. Immerhin konnte die Regierung den anderen sterbenden Staaten das Zugeständnis abringen, den 100. Jahrestag der Entstehung des Grundgesetzes noch feiern zu dürfen. Welch ein Gewinn! Und warum wiederholt Geschichte sich doch meistens irgendwie im Kern? Der Tag der Auflösung der Republik wurde auf die Silvesternacht vom 31.12.2049 zum 1.1.2050 festgesetzt. Was danach kommen wird, weiß bis heute niemand.
Irgendwann hieß es, dass die Erde einer Kollision mit einem Asteroiden gerade noch mal so entschlüpft war. Der Abstand soll nur wenige tausend Kilometer betragen haben. Jedenfalls soll die ISS mit abrasiert worden sein. Es kümmerte irgendwie keinen so richtig, da sowieso alles in Destruktion begriffen war, seit 39 der fatale Ausbruch der Caldera des Yellowstone National Parks weite Teile der westlichen USA in unbewohnbare Regionen verwandelt hatte. Selbst die US Strategen konnten die Ursache dafür nicht in ominösen kommunistischen Aktivitäten vermuten! Mit dem Niedergang der USA drei Jahre nach ihrem glamourösen »250th Anniversary« wollte Europa sich auch solidarisch erweisen und gab den Anspruch seiner politischen Weiterexistenz in die Hände einer Weltregierung, geführt unter asiatisch dominierter Vormachtstellung. Ausschlaggebend hierfür war der kontinentale Bevölkerungsproporz.
Ab Januar 45 war der Strom rationiert. Die starken Netzschwankungen hielten ohnehin nur die guten alten Glühbirnen aus, von denen Frauke ebenfalls einige auf Vorrat hatte, obwohl seit zehn Jahren sogar mit polizeilichen Wohnungsdurchsuchungen gerechnet werden musste, weil seit 32 jetzt selbst die Verwendung dieser Leuchtmittel aus dem vorherigen Jahrtausend verboten worden war. Deshalb versuchte die Strommafia das Leitungsnetz mit 280 Volt zu fahren, um die Glühbirnen zu killen. Dabei interessierte es die Leute schon lange nicht mehr, was für Gesetze gemacht wurden. Denn mit der Novelle von 2020, wonach die Parlamentssitze bloß noch in der Anzahl der Prozente der Wahlbeteiligung zur Verfügung standen und diese unter 20% lag, empfand die Mehrheit die Regierung als nicht legitimierte Minderheitsverwaltung und scherte sich überhaupt einen Dreck um das, was von außen kam, weil es an jeglicher Realität vorbeiging. Die Sache schlug Kapriolen wie das Furz-Verbotsgesetz (FzVerbG), die Verschmutzungssteuer und die gefährlichen Aschus: Abfallschnüffelhunde, die die Benutzung untersagter Stoffe aufspüren.
Sie greift zu einer Zigarette, ein Stoff, der ebenso auf dem Index stand. Das lässt sie in sich hineingrinsen. Sie hat auch noch eine alte Petroleumlampe von ihrem Großvater, die sie hin und wieder anzündete. Das war wegen der CO2-Emission natürlich völlig verboten. Aber sie liebte den Duft, die fast blakende Flamme mit dem warmen Lichtschein. Leider neigten sich die persönliche Petroleumreserven dem Ende zu – na, ja, ihr würde auch dazu was einfallen.
Diese ganzen scheiß Verbote. Wofür? Was haben sie geholfen? Was haben sie verhindert? Absolutely nothing – das war von wem, verdammt noch mal? War, hoo, what is it good for? Absolutely nothing. Genau: Edwin Star. Sie blickt wieder aus dem Fenster: Langsam gerät wohl alles aus den Fugen! Frauke steht immer noch am Fenster und schaut verstört auf die überschaubare Menschenmenge. Irgendetwas schmerzt wieder in ihrer Lunge. Wahrscheinlich diese verdammten Nanostäube, die seit vielen Jahren in sämtlichen Produkten ohne Sinn und Verstand verarbeitet werden. Wegen der schallgeschützten Fenster kann sie nicht hören, was sie draußen rufen, ahnt es aber.
»So ein Blödsinn«, stößt sie mit einem Anflug erstickender Stimme hervor und erschreckt bei den seit dem Selbstmord ihres Vaters in ihr aufkeimenden Gedanken. Er war im Jahr des Mauerbaus in Kreuzberg geboren und gehörte zu den wenigen, bedauernswert empfindsamen Menschen, die das unerklärliche Phänomen dieses tiefen, intervallmäßigen, Schlaf raubenden Brummtons bereits in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts permanent wahrnahmen. Wenn überhaupt ernsthaft, wurden die Betroffenen gegen Stress, Tinitus oder Burnout-Syndrom behandelt und im Grunde für Spinner oder Simulanten gehalten.
Das war jene Zeit, als das prophylaktische Reservieren von Buchstabenkombinationen für Autokennzeichen ostdeutscher Städte von »denen da drüben« als imperialistische Kriegstreiberei bezeichnet wurde und für die westliche Seite klar war, dass der dritte Weltkrieg an einem Freitag um 17 Uhr mitten in den feierabendlichen Berufsverkehr hereinbrechen – und darin stecken bleiben würde! Mit anderen Worten: Es war die Zeit, als man sich über nichts als das Waldsterben, die Ölkrise, das Ozonloch, den sauren Regen und die Endlagerung des Atommülls hatte Sorgen bereiten müssen.
Drei Jahrzehnte später wuchs die Zahl der in den Wahnsinn oder die Lethargie getriebenen Leidenden immer stärker an, weil die Frequenz des Tons anstieg und einem größeren Kreis »zugänglich« wurde. Niemand schien eine Erklärung dafür zu haben oder geben zu wollen. Staatliche Stellen schwiegen sich aus und ließen damit Raum für alle möglichen und unmöglichen Spekulationen. Den Betroffenen half das nichts, sie flüchteten sich in die Isolation. Ein gequältes Lachen durchzuckt Frauke – was rankten sich nicht alles für Theorien darum?
Angefangen von der »Operation Teddybär«, einem Waffenexperiment gegen die Westberliner Bevölkerung, über Vermutungen von einer riesigen unterirdischen Ringantennen-Sendeanlage auf dem Flughafen Tempelhof zur Langwellenkommunikation mit getauchten amerikanischen Atom-U-Booten, bis hin zu Signalen fremder Wesen vom Mars. Tatsächlich war es offensichtlich so, dass die Gesamtheit der irdisch erzeugten Funksignalenergie die Atmosphäre in eine gigantische Mikrowelle verwandelte