Unverzehrtes Leben. Michael Großek
vermutlich nicht – wie beschwörend behauptet und das Auto verteufelnd – das CO2 die treibende Kraft der Erderwärmung gewesen war. Erneut ein fataler Irrtum der Wissenschaft mit profitabler Begleiterscheinung? Wenn ja, dann nicht für mich und auch keinen, den ich kenne, denkt Frauke mit aufkeimender Verbitterung.
Denn am 21.12.2012, im Alter von gerade einmal 51 Jahren, stürzte ihr Vater sich aus dem Fenster des Sanatoriums, wohin man ihn – kurzerhand amtlich entmündigt – verfrachtet hatte. Sie hatte ihn dort nie besucht; schließlich hatte er auch ihre Mutter, die er auf einer Stippvisite an die Ostsee geschwängert hatte, im Stich gelassen. Sie war das Produkt dieser liebsamen Urlaubsaffäre.
Kennen gelernt hatten er, der spätere Neuköllner und sie sich kurz nach dem Mauerfall, als ihn ein spontaner Einfall eines schönen Tages im Dezember 1989 in die HO-Gaststätte Glanzeck am Baumschulenweg in Treptow führte, wo ihre Mutter, eine gebürtige Lichtenbergerin, damals als Aushilfsbedienung arbeitete. Sie kam mit ihm über drei Typen, die bis dahin einzigen Gäste im Lokal, die sehr angeregt angeblich eine Wette über die Grenzöffnung begossen, näher in ein Gespräch, bei dem es nicht blieb. Mit ihren heute 80 Jahren ist sie immer noch rüstig und sie beide treffen sich in Abständen, obwohl die Fahrt von Rügen ihr doch zunehmend schwerer fällt.
»Nun denn«, fordert sie sich selbst auf, das Fenster zu öffnen. Obwohl es schon länger keinen normalen, privaten Autoverkehr mehr gab, war die Luft verquast und alles andere als frisch. Jetzt vernimmt sie deutlich, was die Menge wiederholend unter tosendem Beifall skandiert: »Rette die Republik«. Und es gilt ihr: Frauke Magdalena Quandt, geboren am 3.10.1990 in Berlin-Pankow. So war es seit rund fünf Jahren Brauch, wenn jemand als Ritter der Republik neu in die Organisation aufgenommen worden war, wozu sie sich vor einiger Zeit entschieden hatte. Die einzigen Bedingungen für eine Mitgliedschaft waren, dass die Person auf natürliche Weise gezeugt worden war und sich getreu dem Motto »Suche die Wahrheit. Trotze der Willkür.« zu verhalten hätte. Damit hatte sie keine Schwierigkeiten. Sie gönnt sich einen mehr als Daumen dicken Schluck Armagnac – immer noch aus dem Vermächtnis ihres Vaters. Ja, jetzt ging es ihr schon besser; der Mut kehrte in sie zurück. Ein Gefühl, dass sie sichtlich genoss.
Seit wann fuhren eigentlich keine Autos mehr? Seit wann war das »Volksvermögen« perdu? Seit wann ging es nur noch bergab? Wann war sie auf die »Ritter« gestoßen? Was hatte sie daran so fasziniert? Wollte sie das wirklich tun? »Verdammt noch mal ja, ja, ja!« Sie fällt fast aus dem Fenster, als sie der kleinen jubelnden Schar zuwinkt. Wie muss es sich wohl für Despoten vor tausenden Leuten angefühlt haben, schießt es ihr durch den Kopf? Wie konnte ein solch perfider Gedanke an Tyrannei gerade in dem Moment höchster Freude und Anspannung ihr in den Sinn kommen? Das Gehirn ist eben eine unnachgiebig quälende und Gedanken fordernde Masse, ob du nun willst oder nicht – verflucht! Es erzeugt stets ein Gegengewicht zu deinen Gefühlen.
Bis Hartz IV war noch alles im Lot. Als die Regierung aber Hartz VII und VIII in Kraft setzen wollte, brach sich der über Jahre aufgestaute Unmut Bahn. Der Zorn von Jung und Alt entlud sich und schwemmte die etablierte Form der Parteiendemokratie quasi über Nacht einfach hinweg. Merkwürdig war der geringe Widerstand der Sicherheitsdienste. Selbst die Polizei schien vom Geist der Zeit beseelt und erfasst worden zu sein. Niemand stützte mit Macht das Establishment. »Und das ist auch gut so.« Ein ziemlich alter Ausspruch, der mal für Aufsehen gesorgt haben soll, glaubt Frauke sich vage zu erinnern.
Fast zeitgleich tauchte ein neues Problem auf, seit zufällig entdeckt wurde, dass Träume von Leuten, die nach den Katastrophen aus Angstzuständen entstanden, offenbar derart starke Energien entwickelten, sich unkontrolliert über Telepathie an andere Menschen übertrugen. Nun wollte aber niemand seinem unbekannten oder gar identifizierten »Traumpartner« tatsächlich begegnen; fortan mied man die Öffentlichkeit, soweit wie irgend möglich. Andere wieder waren ganz verrückt danach, es mental noch gezielter zu beeinflussen, mit wem oder über wen man träumen wollte; das nannte sich auf neudeutsch »Dreamdating« und entwickelte Suchtcharakter. Einige glaubten, es ließen sich sogar Morde damit begehen – das wäre dann wohl die finale Form des perfekten Verbrechens.
Wenngleich staatliche Expertisen Befürchtungen zu zerstreuen versuchten, die die implantierten IMP-Chips (Incooperated Mankind Programming) damit in Verbindung brachten, blieb die Annahme als hinreichend begründet im Raum. Diese IMPs waren in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit, Risiken und Nebenwirkungen nie völlig offenbart worden, werden aber bei jeder Retortengeburt automatisch implantiert. Dies kann auf behördliche Anordnung auch bei anderen später vollzogen werden. Beispielsweise konnte jemand mittels teurer Sprachspritzen jede Fremdsprache verfügbar machen und – je nach Preis – über einen entsprechenden Zeitraum aktiv verwenden. Damit entfiel das konventionelle, kognitive Erlernen. Dass dabei etwas mit dem Gehirn passierte, dürfte selbst dem größten Deppen klar sein.
Die EU war 2041 bis an den Rand des Ural-Gebirges vorgestoßen, weil Russland sich vor den wieder vereinigten islamistischen Nachfahren der einstigen Goldenen Horde des Dschingis Khans unter den Schutzmantel der NATO flüchten musste und nach dem »Ausfall« der USA zumindest nunmehr deren militärische Hauptmacht stellte. Weißrussland wurde einfach ungefragt »mitgenommen«. Damit wuchs natürlich auch der politische Einfluss Russlands in Europa, was vieler Orts in Ermangelung von Alternativen zähneknirschend zu akzeptieren war. Mit diesem Schritt hatte sich auch die Bevölkerungsstruktur von ihrer Masse her schlagartig deutlich in Richtung des alten Ostblocks verschoben. War das ein verspäteter Sieg der UdSSR ohne Krieg zur EUdSSR?
»The world is turning – fehlt ja bloß noch der Polsprung, dann wäre das Desaster komplett«, entspringt es flüsternd Fraukes Gedanken. In Südamerika tobt seit 10 Jahren der mörderische Kampf um die Vorherrschaft zwischen den mächtigsten Drogenkartellen. Die Staatengrenzen waren faktisch aufgelöst und existierten nur noch auf Landkarten. Der ganze Teilkontinent war fast waldlos gerodet und erodierte fruchtlos und mit der Bevölkerung furchtbar leidend vor sich hin. Die Mexikaner hatten eine neue »chinesische« Mauer errichtet und schützten ihr Aztekenreich mit gnadenloser Entschlossenheit gegen jeden Eindringling von Süden. Die ehemaligen Gringos, die in Scharen zu ihnen strömten, machten ihnen offenbar weniger Angst – oder weil sie gleich mit Panzern kamen? General Scott war 1847 ja schon mal so weit runter »zu Besuch« gekommen; jetzt waren es seine »Verwandten«. Man konnte sich eben nicht gegen alle Seiten wehren und brauchte im Zweifel neue strategische Verbündete.
Australien war ein Opfer ständiger Feuersbrünste geworden, sodass »Down Under« für Mensch und Tier praktisch als unbewohnbar zu bezeichnen war. Untergegangen waren auch Indonesien und der indische Subkontinent, die permanent vollständig überschwemmt werden. Weil die Chinesen ihr Territorium mit Mann und Maus verteidigten, überflutete die Flüchtlingswelle das ohnehin arme und zu einem Drittel aus Wüstenlandschaften bestehende Afrika mit erbärmlichen Folgen. Nato-Streitkräfte schossen konsequent auf alles, was Afrika über das Mittelmeer gen Norden überqueren wollte. Die Araber wussten nicht, auf welcher Seite sie stehen wollten und waren schließlich umzingelt. So können sie sich in Ruhe selbst von ihrem einstigen Reichtum verabschieden, denn Öl war aus. Von Japan, Südost-Asien und dem pazifischen Inselraum hatte man nichts mehr gehört. Jedenfalls waren schon länger keine Suschi-Touristen mit Kameras in anderen Teilen der Erde gesichtet worden. Die Weltbevölkerung soll nun angeblich 4 Milliarden Menschen betragen, rund ein Viertel davon »Schlitzaugen«. So sieht das also aus – im Großen und Ganzen nicht gerade himmlisch.
Apropos himmlisch: Die einzigen paradiesischen Zustände schienen sich heute in den polnahen Regionen im Norden sowie im Süden zu befinden. Wenig Eis und moderate Temperaturen ließen dort Gefühle an ehemalige Winterurlaube entstehen. Allerdings war die Gruppe derer, die über die logistischen Möglichkeiten und benötigten Finanzmittel verfügten, an zehn Fingern abzählen. Nichts für Otto Normalbürger, da half auch der Ritterstatus nichts, obschon er ein paar Vorteile brachte. Privilegien wollte sie es nicht nennen, doch anfangs hatte sie etwas Skrupel, sich mit dieser Aura wirklich umgeben zu wollen. Aber was soll’s, irgendwie klarkommen war schließlich nichts Ehrenrühriges, um diese Kleinigkeiten kategorisch abzulehnen. Und letzte Woche kam das letztlich ersehnte Daten-Modul per Bote extra zu ihr nach Hause, ausgewiesen für
PIDN 3.782.614-509 Ritter Magdalena, beinhaltet Anspruch auf:
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