Die Erscheinungen von Kibeho. Immaculée Ilibagiza
der Sonntagsmesse kündigte Pater Rwagema an, dass er nach der Regenzeit im April und Mai eine große Wallfahrt nach Kibeho organisieren werde, damit die Gemeindemitglieder die Gelegenheit hätten zu hören, was die selige Jungfrau Maria durch die drei Seherinnen kundtat. Für die, die nicht an der Wallfahrt teilnehmen könnten, werde er seinen Kassettenrekorder mitnehmen und die Botschaften aufzeichnen. Jetzt glaubten alle in der Kirche, dass die Erscheinungen echt waren, und gerieten bei dem Gedanken an die bevorstehende Wallfahrt in freudige Erregung.
Nach der heiligen Messe drängte sich unsere Familie in Vaters kleinen Wagen, um die üblichen Sonntagsbesuche bei den Verwandten zu absolvieren, die über das ganze Umland verteilt wohnten. Die Fahrt zu unseren vielen Tanten und Cousins und Cousinen dauerte Stunden, und noch ehe mein Vater auf den ausgefahrenen Ziegenpfad eingebogen war, der unserer Region als Hauptstraße diente, traktierten meine Brüder und ich uns schon gegenseitig mit den Ellenbogen, um uns ein wenig mehr Platz zu verschaffen. Während der Fahrt fragte ich Vater, ob er nach dem, was wir in der Kirche gehört hatten, nun von der Echtheit der Erscheinungen überzeugt war. Er nahm sich viel Zeit mit der Antwort und wir wussten, dass er im Begriff war, sein Urteil über Kibeho zu sprechen.
»Nun, bis zu dem Zeitpunkt, als mir Pater Clement gestern von der dritten Seherin Marie-Claire erzählt hat, war ich alles andere als sicher.
Pater Clement hat mit einem Priester von der Highschool gesprochen, der keinem der Mädchen geglaubt hatte. Er hatte sie einen Haufen Lügnerinnen genannt und wollte sich dafür einsetzen, sie von der Schule zu verweisen. Doch dann kam Marie-Claire zu ihm und sagte, sie hätte eine Botschaft für ihn.
›Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich will nicht respektlos sein‹, sagte sie zu ihm, ›aber die Muttergottes ist mir heute erschienen und hat mich gebeten, Ihnen auszurichten, dass Sie die Kinder zu Unrecht quälen und dafür Buße tun müssten. Sie will, dass Sie heute Abend niederknien, sich für Gott öffnen und mit ausgebreiteten Armen drei Rosenkränze beten.‹«
»Echt jetzt, Papa? Sie hat ihm einen Befehl von der Jungfrau Maria überbracht?«, platzte Damascene heraus. Er war schwer beeindruckt. Er und Aimable gingen beide auf katholische Internate und wussten, was es bedeutet, frech zu einem Priester zu sein.
»Was hat der Priester Marie-Claire geantwortet?«, fragte ich und war entzückt, dass wir uns gerade tatsächlich über ein Dreiergespräch zwischen einer Seherin, der Muttergottes und einem Priester unterhielten. Genau wie in der Bibel, als Gott Mose befahl, er solle dem Pharao sagen, dass er sein Volk ziehen lassen solle!, dachte ich.
»Der Priester nannte Marie-Claire eine kleine Lügnerin und befahl ihr, in den Schlafraum zu gehen und dort am nächsten Morgen zu warten, bis er sich eine geeignete Strafe für sie ausgedacht haben würde«, antwortete unser Vater. »Doch am Abend entschied er sich, kein Risiko einzugehen – nur für den Fall, dass die Erscheinungen echt waren, und weil es ja auch nicht schaden konnte, ein bisschen mehr zu beten. Also schloss er sich in seinem Zimmer ein, zog die Vorhänge vor, damit ihn niemand sah, kniete sich auf den Boden und betete mit ausgebreiteten Armen den Rosenkranz, genau wie Marie-Claire es ihm von der Jungfrau Maria ausgerichtet hatte. Als er damit fertig war, legte er den Rosenkranz in seinen Nachttisch und legte einige Bücher und Zeitschriften darüber, ehe er die Schublade schloss.
Am nächsten Morgen ließ der Priester Marie-Claire in sein Büro kommen, um ihr einen weiteren Verweis zu erteilen. Die Schülerin lächelte fröhlich, als sie hereinkam, und ehe der Priester auch nur den Mund aufmachen konnte, sagte sie zu ihm: ›Herr Pfarrer, die Muttergottes ist sehr froh, dass Sie den Rosenkranz genau so gebetet haben, wie sie es Ihnen ausrichten ließ, aber sie hat mir heute Morgen gesagt, Sie hätten nicht all diese Bücher und Zeitschriften auf den Rosenkranz legen sollen, als Sie ihn in Ihre Schublade zurücklegten. Sie sagt, Sie sollten ihn immer bei sich tragen und ihn täglich beten.‹
Pater Clement erzählte mir, dass der Priester sich im selben Augenblick bekehrt habe. Er ist jetzt ein großer Unterstützer der Seherinnen. Also, Immaculée, um deine Frage zu beantworten: Ja, ich glaube, dass die Jungfrau Maria diesen Mädchen in Kibeho erscheint. Ich bin mir dessen so sicher, dass ich mich entschlossen habe, gemeinsam mit Pater Rwagema und den anderen Gemeindemitgliedern dorthin zu pilgern.«
»Oh! Darf ich mitkommen?«, bettelte ich.
»Nein, diesmal nicht. Sieh dir das Land dort draußen an«, sagte er und wies auf die endlosen Hügel, die sich vor unseren Augen erstreckten. Einige der tiefer gelegenen Täler waren selbst jetzt in der Mittagszeit noch dunkel. »Es wird eine Fußwallfahrt sein. Damit werden wir der Jungfrau Maria unsere Verehrung bezeigen und des leidvollen Weges gedenken, den sie gegangen ist, als sie ihrem Sohn nach Golgatha folgte. Es ist eine Reise von vielen Tagen und an einigen Stellen gibt es nicht einmal eine Straße. Wir werden im Busch schlafen und durch den Wald gehen, und für ein kleines Mädchen ist das alles viel zu gefährlich.«
Ich schmollte noch eine ganze Zeit lang, während der Wagen über die Straße holperte und schlingerte. Als ich gerade zu meinem letzten Appell ansetzte, um meinen Vater vielleicht doch noch umzustimmen, drehte meine Mutter, die bis dahin still auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, sich zu mir um. Sie sah die Verzweiflung in meinen Augen und lächelte tröstend, ehe sie das Gespräch beendete. »Wenn du in deinem Zimmer betest, wird die Muttergottes dich genauso gut hören wie in Kibeho«, erinnerte sie mich. »Fang nicht wieder davon an, die Antwort lautet Nein.«
»Sei nicht traurig, Immaculée«, sagte Vater sanft. »Ich bleibe dabei: Eines Tages kommst du nach Kibeho. Du musst nur Geduld haben.«
Ich würde mich noch über zehn Jahre gedulden müssen, ehe ich Kibehos heiligen Boden betreten konnte. Doch weil Pater Rwagema viele Wallfahrten veranstaltete und sie allesamt aufzeichnete, konnte ich Stunde um Stunde und Woche für Woche hören, was die selige Jungfrau Maria durch die Seherinnen sprach. Ihre Stimmen wurden mir so vertraut, dass es sich anfühlte, als wäre ich mit ihnen aufgewachsen, und schließlich kannte ich auch ihre Lebensgeschichten genauso gut wie die meiner eigenen Familienmitglieder. Ich habe diese wie kleine Juwelen in meinem Herzen bewahrt, und wann immer ich kann, teile ich sie mit anderen Menschen – genau wie jetzt.
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