Die Erscheinungen von Kibeho. Immaculée Ilibagiza

Die Erscheinungen von Kibeho - Immaculée Ilibagiza


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vollkommen verliebt in Gott, Jesus und die Jungfrau Maria. Einmal im Monat brachte mein Vater eine katholische Monatsschrift mit nach Hause, die Hobe hieß: eine kleine Zeitung, die eigens für Kinder produziert wurde. Sie war voll mit aufregenden Bibelgeschichten, die von der Macht des Glaubens, den Wundern Jesu und den Abenteuern der Heiligen und Apostel erzählten. Wahrscheinlich habe ich auf diese Weise auch lesen gelernt, denn mein Vater und meine älteren Brüder mussten mir die Hobe-Geschichten immer und immer wieder erzählen, bis ich alle Wörter und ihre Bedeutung auswendig kannte. Am meisten aber liebte ich die Bilder zu den jeweiligen Geschichten.

      Meine Lieblingsillustration zeigte ein typisches ruandisches Dorfmädchen – ein sehr armes, aber sehr glückliches Kind –, das seine Abendgebete sprach. Es kniete neben seinem Bett aus Bananenblättern und hielt einen hölzernen Rosenkranz in seinen gefalteten Händen. Das Licht der Kerze auf dem Nachtkästchen strahlte und umgab den Kopf des Mädchens wie mit einem Heiligenschein und es sah tatsächlich aus wie ein Engel. Solche kleine Mädchen hat Gott lieb, dachte ich bei mir und versuchte jahrelang, es ihr gleichzutun.

      Als einziges Mädchen in einer Familie mit vier Kindern hatte ich gewisse Privilegien, die meine Brüder nicht hatten. Dazu gehörte auch ein eigenes Schlafzimmer, was in einem Dorf in ländlicher Umgebung ein nahezu unerhörter Luxus war. Ich nutzte diese Privatsphäre und verwandelte mein Zimmer in einen persönlichen Andachtsraum. Auf meinem Nachtkästchen stand eine Kerze, die genauso aussah wie die auf dem Hobe-Bild; und gleich daneben lagen oder standen, fein säuberlich angeordnet, immer eine Bibel, ein Rosenkranz und eine kleine Marienstatue. Jeden Abend, wenn meine Brüder zu Bett gegangen waren und meine Eltern das Licht im Haus gelöscht hatten, glitt ich aus dem Bett, zündete meine Kerze an und betete genau wie das Mädchen in der Zeitschrift auf den Knien den Rosenkranz.

      Während die meisten Kinder, die ich kannte, sich auf dem Weg in die Sonntagsmesse reichlich Zeit ließen, war ich immer die Erste in der Kirche, weil ich sichergehen wollte, dass ich möglichst nahe beim Priester saß, denn dort, so dachte ich, war ich so nah bei Gott wie es nur ging. Und nach der heiligen Messe zog ich hinaus in die Welt, um gemeinsam mit ihm Abenteuer zu erleben.

      Eines Sonntags, als ich fünf Jahre alt war, beschlossen meine Freundin Patricia und ich, an den Rand des uns bekannten Universums – auf die andere Seite des Dorfs – zu gehen, um zu sehen, ob wir nicht vielleicht in der Ferne einen Blick auf Gott erhaschen könnten. Als wir unser Ziel erreicht hatten – das eine gefühlte Tagesreise, tatsächlich aber nur knapp zwei Kilometer von unserem Zuhause entfernt war –, knieten meine Freundin und ich uns in der Mitte der staubigen Straße nieder, falteten unsere Hände zum Gebet und begannen, das Vaterunser zu beten. Wir glaubten, dass unsere Frömmigkeit den allmächtigen Vater dazu bewegen würde, sich mit uns zu unterhalten, doch anstelle seiner majestätischen Stimme schreckte uns ein heiseres Kichern aus unserer Andacht auf.

      »Was um alles in der Welt fällt euch Kindern nur ein, hier mitten am Tag auf der Straße zu beten?«, fragte Lionel, ein Hirte aus unserem Dorf, der mit einem halben Dutzend Ziegen vorbeikam. Patricia und ich hatten gerade in der letzten Hobe-Zeitschrift gelesen, dass Kinder sich niemals dafür schämen durften, weil sie zu Gott beteten, denn wenn sie sich für ihre Liebe zu ihm schämten, dann würde er sich umgekehrt auch für seine Liebe zu ihnen schämen. Also hielten wir die Augen fest geschlossen, beteten nur umso inbrünstiger weiter und ignorierten Lionel und die Ziegen, deren borstiges Fell unsere Arme streifte. Lionel lachte weiter und wir beteten weiter. Als wir beim »Amen« angelangt waren, hatte der Hirte aufgehört zu lachen. Stattdessen hörten wir ihn grummeln: »Was soll aus dieser Welt werden, wenn Kinder lieber beten statt zu spielen?«

      In meiner Welt überschnitten sich Gebet und Spiel. Eines meiner liebsten Kinderspiele hatte ich selbst erfunden, es hieß »Himmelsfotos«. Jedes Mal, wenn ein Meteoritenregen die Nacht über unserem Dorf erhellte, was in den Sommermonaten häufig vorkam, trommelte ich ein Dutzend Kinder zusammen und lief mit ihnen auf eines der Bohnenfelder meines Vaters. Während die Sternschnuppen kreuz und quer über den Himmel schossen, rannte ich von einem zum anderen und sorgte dafür, dass sich alle in Richtung Himmel in Positur stellten.

      »Das sind die Blitzlichter von Gottes Fotoapparat«, erklärte ich ihnen dann und wies auf die leuchtenden Meteoriten. »Ihr müsst ein freundliches Gesicht machen, denn Gott macht Fotos von uns und wird sie uns zeigen, wenn wir bei ihm im Himmel sind!«

      Als ich sechs Jahre alt wurde, galt ich zu Hause und in meinem Dorf als ein sehr frommes Kind. Das machte mich glücklich, denn ich war mir sicher, dass sowohl Gott als auch meine Eltern deshalb stolz auf mich waren. Dennoch gab meine Mutter mir gelegentlich zu verstehen, dass ich es mit meiner christlichen Nächstenliebe zu weit trieb – wie jenes eine Mal, als ich einer barfüßigen Mitschülerin am ersten Schultag meine nagelneuen Schuhe schenkte.

      »Immaculée, wie konntest du nur diese Schuhe weggeben? Weißt du, was sie gekostet haben?«, fragte sie mich verzweifelt. (Allzu böse konnte sie allerdings nicht werden, denn sie und mein Vater, die beide Lehrer waren und mehr Geld verdienten als die meisten Leute im Dorf, waren weit und breit für ihre Wohltätigkeit bekannt.)

      »Mama, ich muss dreizehn Kilometer bis zur Schule gehen, aber sie muss fünfzehn Kilometer gehen. Sie brauchte die Schuhe nötiger als ich«, antwortete ich.

      »Also gut, wenn du das nächste Mal das Bedürfnis hast, Schuhe zu verschenken, dann nimm lieber deine alten«, sagte sie mit einem Lächeln.

      ALS KIND WAR ICH DIE MEISTE ZEIT ÜBER mit einem unerschütterlichen Glauben an Gott gesegnet. Doch etwa ein halbes Jahr vor meinem elften Geburtstag begann ich unerklärlicherweise, alles infrage zu stellen, was ich bis zu diesem Augenblick ganz selbstverständlich als die Wahrheit des Evangeliums akzeptiert hatte. Vor allem die Bibelgeschichten, die ich immer so gern gehört hatte, wurden für mich zu einer beunruhigenden Quelle unbeantwortbarer Fragen.

      Es kann nicht sein, dass Jona in einem Fischbauch überlebt hat! Das ist völlig unmöglich, murrte ich. Oder meine Gedanken liefen Sturm gegen den Priester, der in der Kirche über die Bibel sprach: Woher will er wissen, dass Noah wirklich eine Arche gebaut und mit allen Arten von Tieren beladen hat – also wirklich! Als ob Kühe und Ziegen vierzig Tage überstehen würden, wenn außer ihnen auch noch Löwen und Krokodile an Bord sind! Und was die Geschichte mit Saul angeht: Außer ihm und seinem Esel und Gott war niemand dabei … und das Ganze ist vor über zweitausend Jahren geschehen!

      Plötzlich erschien mir alles suspekt, was man mich gelehrt, was ich gehört und blind geglaubt hatte: Gibt es wirklich etwas Übernatürliches? Gibt es einen Himmel oder sogar einen Gott? Sind diese ganzen Dinge eine Erfindung der Erwachsenen, damit die Kinder sich benehmen? Oder eine Erfindung der Kirche, damit sie Macht ausüben kann? Woher soll ich wissen, wer die Bibel geschrieben hat? Ich kann es nicht wissen! Wer kann beweisen, dass es Jesus wirklich gegeben hat? Niemand kann das! Vielleicht haben diese Priester und Pastoren jahrhundertelang alle zum Narren gehalten!

       Wenn es Gott und den Himmel gar nicht gibt, was geschieht dann, wenn wir sterben? Werden wir einfach in ein Loch im Boden geworfen, mit Staub bedeckt und für alle Ewigkeit im Dunkeln gelassen? Heißt das, dass ich nicht mit meiner Familie zusammen im Himmel sein werde, wenn wir alle gestorben sind? Und wenn das so ist, was für einen Sinn hat es dann zu leben, wo es doch so viel Traurigkeit, Krankheit und Leid in der Welt gibt?

      Das war alles zu viel für meinen kindlichen Verstand, und so vergrub ich die düsteren Gedanken, so tief ich nur konnte, und versuchte die aufsteigende Niedergeschlagenheit zu ignorieren, die, das wusste ich, mein Herz überfluten würde, wenn ich mich damit abfand, dass es Gott nicht gäbe. Ich bekam Albträume, in denen ich von Teufeln und Dämonen verfolgt wurde, und wachte davon auf, wie ich zu Gott um Hilfe schrie.

      Meine Eltern, die sich so über meinen Glauben gefreut hatten, wären am Boden zerstört gewesen, wenn sie gewusst hätten, welche Zweifel ich hegte. Also verbarg ich den Aufruhr in meinem Inneren vor ihnen. Ich ging nach wie vor mit meiner Familie in die Kirche und sprach meine Nachtgebete, doch die heilige Messe erschien mir wie eine leere Hülse, und die Gebete, die ich ohne Überzeugung sprach, konnten mich weder trösten noch beruhigen. Viele mögen die Glaubenszweifel einer Elfjährigen für bedeutungslos


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